Wenn sich Studierende um Angehörige kümmern

Foto von Charlotte Naujok am Grab ihrer Oma
epd-bild/Renate Haller
Am Grab ihrer Großmutter: Charlotte Naujok aus dem hessischen Dreieich. Ein gutes Jahr lang hat sie sich neben ihrem Studium um ihre Oma gekümmert, die zunächst ein wenig Unterstützung, schnell aber ständig Hilfe brauchte. Charlotte dachte, sie würde an der Situation zerbrechen.
Stilles Leiden
Wenn sich Studierende um Angehörige kümmern
Sie verpassen Seminare und Vorlesungen und haben auch keine Zeit, sich abends mit den Kommilitonen zu treffen. Über die Gründe schweigen Studierende, die sich um den Vater oder die Oma kümmern. Es ist ein "stilles Leiden", sagen Betroffene.

Sie dachte, sie würde an der Situation zerbrechen, erinnert sich Charlotte Naujok aus dem hessischen Dreieich. Ein gutes Jahr lang hat sie sich neben ihrem Studium um ihre Großmutter gekümmert, die anfangs nur ein wenig Unterstützung, schnell aber ständig Hilfe brauchte. "Ich habe nicht gezählt, wie viele Stunden ich mich ganz praktisch um sie gekümmert habe, aber gedanklich war ich fast ausschließlich mit ihr beschäftigt", sagt die junge Frau und spricht von einer "wahnsinnig überfordernden Zeit".

Charlotte Naujok dachte: "Ich bin ein Einzelfall." Tatsächlich aber ist die Studentin eine der 12,3 Prozent der Studierenden in Deutschland, die neben dem Studium jemanden pflegen. Das sind mehr als 320.000 Personen. "Wir gehen von einer noch höheren Dunkelziffer aus", sagt Anna Wanka, die an der Goethe-Universität Frankfurt an dem von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsprojekt "InterCare" arbeitet.

Bei der Datenerhebung sei explizit nach "Pflege" gefragt worden, erläutert Wanka. Damit verbinden viele Menschen Ankleiden, Füttern oder Waschen, nicht aber Medikamente bereitstellen, zum Arzt begleiten oder den Haushalt machen. Deshalb beantworteten viele Befragte die Frage nach Pflegetätigkeiten mit "Nein", obwohl sie damit beschäftigt sind. In einem weiteren Schritt des Projekts, bei dem auch Auszubildende einbezogen werden sollen, wolle man deshalb konkrete Tätigkeiten abfragen.

Die Pflege vor allem von älteren Menschen sei mit Scham besetzt, sagt Wanka. Es gehe um den Umgang mit älteren Körpern und mit Krankheiten wie Krebs oder Demenz, über die niemand gerne spreche. Ein junger Mann habe ihr erzählt, dass er mit seinen Kommilitonen nicht mehr über seine Pflegesituation spreche, nachdem einer zu ihm gesagt hatte: "Warum machst du das? Ich könnte das nicht!"

Anna Wanka arbeitet an der Goethe-Universität Frankfurt an dem von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsprojekt "InterCare". (Archivbild)

Der junge Mann hatte gemeinsam mit seiner Mutter den an Krebs leidenden Vater gepflegt. Als der Vater gestorben war, erkrankte die Mutter an Parkinson. Seine Geschwister meinten, dass er nun ja schon wisse, was zu tun sei. "Die Betroffenen rutschen einfach in die Rolle rein", sagt Wanka.

Charlotte Naujok wohnte ihren Großeltern gegenüber, als der Opa starb und die Oma Hilfe brauchte. "Ich habe mir das nicht ausgesucht, aber ich wollte doch meine Oma nicht hängen lassen", schildert sie. Zudem hätte sie sich niemals vorstellen können, wie sich die Situation durch eine zunehmende Demenz entwickeln würde. Erst klappte es bei ihrer Großmutter mit dem Einkaufen nicht mehr, dann wollte sie am Sonntagabend um 22 Uhr in die Geschäfte oder sie bestellte Handwerker, die irgendwelche Wände einreißen sollten. Und wenn sie in der Klinik war, erwartete sie ihre Enkelin täglich mit Kuchen eines ganz bestimmten Bäckers an ihrem Krankenbett.

"Hidden lives" - Verborgene Leben

Die Studentin hat sich damals für ihre Situation nicht geschämt, aber gemerkt, "dass mir meine Kommilitonen nicht helfen konnten". Sie wiederum hatte keine Zeit, abends mit ihnen ins Kino oder in eine Kneipe zu gehen. So sei es auch bei ihr "ein stilles Leiden" gewesen.

Die Soziologin Wanka nennt das Phänomen "hidden lives", verborgene Leben. Pflegende Studierende seien nirgends repräsentiert, Hilfsangebote fehlten. Die Situation der jungen Pflegenden sichtbar zu machen, ist einer Schritt zur Hilfe. Dazu kämen konkrete Angebote, wie etwa Tageszentren für Pflegebedürftige am Campus. "Kita-Plätze gibt es, aber keine für die Oma oder den Opa", sagt die Wissenschaftlerin. Die Studierenden bräuchten zudem mehr räumliche und zeitliche Flexibilität, hier würden schon mehr online abrufbare Studieninhalte helfen. Auch ein sogenannter Nachteilsausgleich sollte zum Standard werden.

Charlotte Naujok hat ihr Wirtschaftsstudium nach dem Tod der Oma abgebrochen. "Das war zum Scheitern verurteilt", sagt sie rückblickend. Sie hat sich umorientiert und arbeitet gerade an ihrer Masterarbeit in Erziehungswissenschaften.

Neben den negativen Folgen der überlastenden Situation wie Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Depressionen, fehlenden sozialen Beziehungen und schlechten Noten gebe es auch positive Auswirkungen, sagt Wanka. Die Pflegenden berichteten von gewachsener Empathie, von tiefen Beziehungen zu den kranken Angehörigen, einem besseren Verständnis für Krankheiten und immer wieder auch von beruflicher Neuorientierung. "Ich sehe meine Werte und Ziele jetzt klarer", sagt Charlotte Naujok.