Tietz: Was Nietzsche dem Glauben zumutet

Christiane Tietz vor einem Kreuz der Jakobskirche
epd-bild/Thomas Lohnes
Christiane Tietz zeigt, dass Nietzsches berühmter Satz "Gott ist tot" weniger den Atheisten verrät, sondern den Theologen, der in biblischer Sprache weiterdachte.
EKHN-Kirchenpräsidentin
Tietz: Was Nietzsche dem Glauben zumutet
125 Jahre nach seinem Tod bleibt Friedrich Nietzsche eine Herausforderung für die Theologie. EKHN-Kirchenpräsidentin Christiane Tietz zeigt in ihrem neuen Buch, wie seine Kritik Glauben und Gottesbilder bis heute weiterbringt.

Vor 125 Jahren starb der radikale Religionskritiker Friedrich Nietzsche. Es sei überraschend, dass er sich nie endgültig vom Christentum gelöst habe, sagte die Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Christiane Tietz, im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Am 21. August erscheint ihr Buch "Nietzsche. Leben und Denken im Bann des Christentums" im Verlag C.H.Beck. Tietz ist Honorarprofessorin an der Universität Mainz. Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Röcken (Sachsen-Anhalt) geboren und starb am 25. August 1900 in Weimar.

epd: "Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!" - Friedrich Nietzsche bringt Religionskritik auf den Punkt. Was hat Sie dazu gebracht, das Denken des deutschen Kult-Philosophen neu zu beleuchten?

Christiane Tietz: Ich finde, dass man sich auch als gläubiger Mensch mit Religionskritik auseinandersetzen muss. Für mich war es immer wichtig, einen Weg zu finden, wie Glauben und Denken zusammenpassen können. Ich habe auch Mathematik studiert, d.h. ich denke gern. Für mich war im Theologiestudium die Erfahrung entscheidend, dass man Glauben reflektieren und kritisieren kann, ohne dass er dadurch verloren geht. Gerade heute, in einer Gesellschaft, in der viele Menschen ohne Gott leben, ist es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, wie diese Menschen sich verstehen - etwa so wie Nietzsche, der sagt, dass er ohne Gott leben will. Wie denkt er, wie empfindet er? Das kann man nicht ausblenden.

Privat kam hinzu, dass ich mehrere Jahre in Sils Maria in der Schweiz gelebt habe, dem Ort, an dem Nietzsche viele Sommer verbracht, nachgedacht und geschrieben hat. Ich konnte nachvollziehen, wie wunderbar er die Landschaft dort fand und wie es ihm gesundheitlich besser ging, obwohl er sehr krank war.

Wie prägte Nietzsche seine protestantische Erziehung?

Tietz: Er stammt aus einem Pfarrhaus, sein Vater war schwer krank und starb, als Nietzsche etwa fünf Jahre alt war. Der Vater litt an einer Gehirnerkrankung und hatte einen qualvollen Tod. Nietzsche hat das als Kind miterlebt. Die Mutter hoffte bis zuletzt, dass Beten den Vater gesund machen würde. Auch später hielt ihr Glaube daran fest, dass es eine gütige Hand Gottes ist, die dem Menschen zwar Schweres zumutet, dabei aber stets das Gute im Blick behält. Diese Art der Frömmigkeit prägte Nietzsche in seiner Kindheit. Zusätzlich starb kurz darauf sein Bruder mit knapp zwei Jahren. Dieses Hintergrundthema begleitete Nietzsche zeitlebens und hat seine philosophische Auseinandersetzung geprägt: Wie gehen wir mit Leid um? Warum ist das Leben schwer? Diese Fragen löst er nicht mehr mit einem Gott dahinter, sondern sucht selbst Antworten.

Wenn Friedrich Nietzsche das Leid in der Welt als Argument gegen die Existenz Gottes deutet, welche Antworten kann das Christentum dem entgegensetzen?

Tietz: Der christliche Glaube ist stets von einem "Dennoch" oder "Trotzdem" geprägt: Trotz aller Widersprüche, trotz des offenkundigen Leids hält der Gläubige an Gott fest. Der Glaube an einen gütigen Gott bleibt ein bewusster Akt des Vertrauens - immer auch im Spannungsfeld zwischen Hoffnung und widersprüchlicher Wirklichkeit.

Ist Nietzsches Werk eine Art "Stresstest" für die Kirchen?

Tietz: Mir ist wichtig zu sagen, dass er eben nicht das geschafft hat, was er wollte. Der christliche Glaube war für ihn nicht mehr glaubwürdig und das Christentum in seinen Augen an seinem Ende angelangt. Dennoch hat er das Nachdenken über zentrale Themen des christlichen Glaubens entscheidend vorangebracht. Seine kritische Perspektive wurde von der Theologie des 20. Jahrhunderts sehr ernst genommen. Sie ist intensiv auf seine Fragen eingegangen und hat vielfältige neue Antwortversuche entwickelt. Auch gläubige Menschen dieser Zeit haben sich mit seiner Kritik auseinandergesetzt und andere Zugänge zum Glauben gefunden.

In welcher Form?

Tietz: Man kann auch nach Nietzsche weiterhin am christlichen Glauben festhalten und eigene Antworten auf Grundfragen wie das Leid in der Welt finden. Es gibt moderne theologische Ansätze, die Gottesbilder weiterentwickelt haben und Gott nicht länger als den Ursprung allen Leids, sondern als den Begleiter und Tröster der Leidenden sehen. Man kann auch heute Gott so denken, dass man sagt: Es gibt Leid und es gibt Gott. Das kann man zusammen denken. Man kann sagen, Gott steht auf der Seite der Leidenden, er leidet mit ihnen mit, er trägt sie und hält sie. Aber er ist nicht der, der das Leid schickt.

Friedrich Nietzsche, fotografiert von Friedrich Hermann Hartmann (ca. 1875).

Ist Nietzsche eine Art "atheistischer Theologe"?

Tietz: Nietzsche bleibt kein Theologe im engeren Sinne, aber er bleibt in der Auseinandersetzung mit dem Christentum. Seine letzten Texte bis 1888 beschäftigen sich immer wieder mit dem Thema Christentum. Er wird das Christentum nicht los, und das hat mich überrascht. Man könnte denken, dass jemand, der das Christentum radikal ablehnt, das Thema bald hinter sich lässt, aber bei Nietzsche ist es anders.

Ist Ihr Buch eine Art "Heimholung" Nietzsches in die Kirchen?

Tietz: Ich behaupte nicht, dass er heimlich Christ geblieben ist. Wenn jemand sagt, er ist nicht religiös, respektiere ich das. Das gilt auch für Nietzsche. Mein Ziel war, ihn differenzierter zu betrachten. Überraschend sind sein großes Verständnis und seine Zuneigung zu Jesus von Nazareth als Person. Jesus als Mensch, als positive Figur, ist jemand, mit dem Nietzsche viel anfangen konnte. Nietzsche lobte ihn "mit einiger Toleranz im Ausdruck" als "freien Geist". Das ist ein überraschender Befund, weil man Nietzsche oft nur als Ablehner des Christentums sieht. In seinen letzten Wochen, als er schon Anzeichen von Wahnsinn hatte, unterschrieb er Briefe mit "Der Gekreuzigte" - er identifiziert sich also noch einmal mit Jesus. Er war kein Christ mehr, das würde ich nie sagen. Aber das Thema lässt ihn nicht los.

Nietzsche entwickelte die rätselhafte Idee von der "ewigen Wiederkehr des Gleichen". Was meint er damit?

Tietz: Das ist eine radikale und schwierige Idee. Es geht um die Frage: Wie stehe ich zu meinem Leben, wenn ich jeden Moment unendlich oft wiederholen müsste? Die ewige Wiederkehr meint eine Bejahung von allem, auch dem Leid. Das Leben soll so angenommen werden, dass man jeden Augenblick immer und immer wieder leben will. Aber darin liegt auch ein Problem: Wenn alles immer wiederkehrt, gibt es keine Freiheit und keine Verantwortung mehr, denn alles ist vorbestimmt.

Was können Leser von Nietzsche für ihren Glauben oder ihr Verhältnis zur Religion lernen?

Tietz: Friedrich Nietzsche kritisiert zu Recht ein Christentum, das seine Hoffnung einzig auf ein Leben nach dem Tod setzt und sich in Weltflucht verliert, statt aktiv im Hier und Jetzt zu wirken. Man kann aber auch an ein Leben nach dem Tod glauben und gleichzeitig hoffnungsfroh Verantwortung in der Welt übernehmen, sich für andere einsetzen, Leid bekämpfen und Nächstenliebe üben.

Nietzsches Kritik zeigt, wie gefährlich es ist, den Glauben an Gott als ein Lohn- und Strafsystem misszuverstehen. Das ist für die evangelische Theologie unvereinbar. Gott ist den Menschen freundlich zugewandt, unabhängig von dem, was Menschen getan haben. Er ist kein Oberlehrer.

Prof. Dr. Christiane Tietz: "Nietzsche - Leben und Denken im Bann des Christentums" erscheint am 21. August im Verlag C.H.Beck, 249 Seiten, Hardcover, 28 Euro