Wichtiger Zeitpuffer für Geflüchtete

Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg
© Anika Kempf/evangelisch.de
Die Fachtagung zu "40 Jahre Kirchenasyl – Ultima Ratio und widerständige Praxis für das Grundrecht auf Asyl" findet in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg statt. Hier gab es vor 40 Jahren das erste Kirchasyl.
40 Jahre Kirchenasyl
Wichtiger Zeitpuffer für Geflüchtete
Zwei Tage (30.-31. August) nimmt sich die Evangelische Akademie zu Berlin Zeit, um eine Fachtagung zu "40 Jahre Kirchenasyl – Ultima Ratio und widerständige Praxis für das Grundrecht auf Asyl" abzuhalten. Genau an dem Ort, an dem alles begann, in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg. 

Am 30. August 1983 stürzte sich der von einer Abschiebung bedrohte Cemal Kemal Altun aus dem Fenster eines Berliner Amtsgerichtes. Altun war 23 Jahre alt, sein Tod war ein trauriger Weckruf. Noch im selben Jahr entschloss sich die Kirchengemeinde Heilig Kreuz in Berlin, das bundesweit erste Kirchenasyl anzubieten.

Heute nach 40 Jahren ist die Kirche mit der Asyl-Fachtagung gut gefüllt. Das Thema scheint brennender denn je. Das berichtet zumindest Manal Seifeldin, bis vor kurzem Mitarbeiterin der Flüchtlingskirche Berlin-Kreuzberg, die im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 von der Landeskirche eingerichtet wurde. "Die Flüchtlinge sind Menschen. Sie fühlen sich unverstanden, abgelehnt und hilflos, entkräftet. Sie brauchen Information und Begleitung", sagt Manal Seifeldin.

Laut der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V. (BAG) gibt es aktuell in Deutschland 431 aktive Kirchenasyle mit mindestens 655 Personen, davon etwa 136 Kinder. Kirchenasyl wird in der Regel erst dann in Anspruch genommen, wenn eine unmittelbare Abschiebung droht, Anwälte und Asylfachleute sich aber einig sind, dass diese zu Unrecht erfolgen könnte. Die Kirche will Schutz bieten und den Betroffenen einen Zeitpuffer verschaffen, um die Behörden um erneute Prüfung ihres Falles zu bitten.

Jörg Passoth, Pfarrer im Ruhestand und Mitbegründer von Asyl in der Kirche Berlin-Brandenburg, erinnert sich an die Anfänge der Bewegung. Es war der Neujahrsmorgen 1984. Er als Pfarrer der Johannesgemeinde Lichterfelde stand fassungslos am Eingang des Abschiebegewahrsams Augustaplatz in Berlin. Geflüchtete hatten in panischer Angst vor der Abschiebung ihre Matratzen angezündet. Sechs von ihnen verbrannten in ihren Zellen bei lebendigem Leib "Ich als Pfarrer der angrenzenden Kirchengemeinde hatte keine Ahnung von der Not, der Verzweiflung dieser Menschen in meiner unmittelbaren Nachbarschaft. Ich hatte ihre Not eben nicht gesehen, ihr Geschrei nicht gehört und ihr Leiden nicht erkannt", erinnert sich Passoth.

Im Januar 1984 fand ein erstes Anhörung zur Situation von Flüchtlingen in West-Berlin statt. Die erschreckenden Ergebnisse wurden einer internationalen Jury vorgestellt. Im Februar schon setzte der Pfarrkonvent Berlin-Steglitz eine AG Asyl ein. Pfarrer Jürgen Quandt von der Heilig-Kreuz-Kirche hielt den ersten Vortrag vom ersten Kirchenasyl in seiner Gemeinde. Die Pfarrer knüpften Kontakte zu Flüchtlingen in den Heimen. Bald gab es die AG Heime und AG Abschiebehaft. Es wurden erschütternde Berichte der Geflüchteten dokumentiert. Die Gespräche konnten bald ohne Trennscheibe stattfinden. Es gab das erste Weihnachtsfest in einer Abschiebehaft. Ein Fernseher durfte angeschafft werden, Rechtsanwälte wurden für die Asylberatung geworben, und immer mehr Ehrenamtler, um etwa das erste Flüchtlingscafé zu betreiben.

Nachtwachen und Telefonketten

Auch in seiner Gemeinde Johannesgemeinde Lichterfelde fand dann das erste Kirchenasyl für eine siebenköpfige palästinensische Familie aus dem Libanon statt. Auf Beschluss des Gemeindekirchenrats fanden sie von April-Juni 1984 Schutz. Der Innensenator wurde informiert, aus Sorge vor einem Polizeieinsatz wurden Nachtwachen und Telefonketten organisiert. Solange, bis eine Bleiberegelung gefunden wurde und alles in einem großen Fest endete.
Klar wurde aber auch, dass es für die Kirchenasylarbeit eine größere Öffentlichkeit brauchte. In der Heilig-Kreuz-Kirche wurde zu einer ersten Pressekonferenz geladen. 12 Pfarrerinnen und Pfarrern saßen vor den Mikrophonen.

"Sie demonstrieren damit, hier handelt es sich nicht nur um einen oder zwei verrückt gewordene Pfarrer, sondern es ist die Kirche mit denen die Polizei, der regierende Bürgermeister, der Innensenator zu tun bekommt", erzählt Pfarrer Passoth mit einem gewissen Stolz.

Auch wenn die Bibel von Mose und dem Volk Israel bis zur Familie des Jesus von Nazareth viele Fluchtgeschichten kennt, so sei seine Kirche nach 3000 Jahren auf all das nicht vorbereitet gewesen. Das Kirchenasyl war Neuland für den Bischof, die Kirchenleitung und Synode. Sie hätten Mühe gehabt, dem Tempo der Gemeinden zu folgen, sagt Passoth. 

Nach 40 Jahren ist aus dem Kirchenasyl eine anerkannte Bewegung geworden. Es sei ein ständiger Lernprozess gewesen, nicht nur was die Rechtsberatung anbetraf.

Impulse von der Sanctuary-Bewegung

Verena Mittermaier war früher Mitarbeiterin in der Heilig-Kreuz-Kirche und arbeitete mehrere Jahre in der BAG-Geschäftsstelle mit. Sie erinnert sich, dass die deutsche Kirchenasylbewegung immer wieder Impulse von außen bekam, etwa aus Arizona. Dort entstand die Sanctuary-Bewegung, die in den frühen 1980er Jahren zentralamerikanischen Flüchtlingen Schutz vor den Bürgerkriegen in ihren Ländern bot. Bei der Sanctuary-Bewegung machten über 500 Kirchengemeinden in den USA mit. Von dort brachte die damals noch junge Theologin vor allem den Impuls mit, dass man mit den Geflüchteten und Schutzsuchenden gemeinsam betet und Gottesdienste feiert. "Wir entdeckten die Wichtigkeit der Spiritualität, dass wir politisch und fromm zugleich sein können", sagt Mittermaier.

Angesichts der Flüchtlingsdramen auf dem Mittelmeer hat sich an der Notwendigkeit dieser Arbeit nichts geändert. Nach Angaben der BAG befanden sich von 1996-2022 mindestens 13.469 Menschen im Kirchenasyl, ca. 3500 von ihnen waren Kinder. Eine Erfolgsgeschichte.

Gegenwind aus angstbesetzter Gesellschaft

Josephine Furian, Seelsorgerin in der Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt, weist darauf hin, dass in der öffentlichen Wahrnehmung meist nur Flüchtlinge aus islamisch geprägten Ländern wahrgenommen würden. Längst nicht alle Menschen kommen nur aus dem Irak, Syrien oder Afghanistan und längst nicht alle seien Muslime. 55 Prozent der in Brandenburg registrierten Asylsuchenden seien Christen, und da seien die aus der Ukraine gar nicht mitgezählt, berichtet Furian auf der Fachtagung. Sie erwartet heute von den vielen Engagierten in der Kirchenasylarbeit nicht nur die seelsorgerliche Einzelbetreuung von Betroffenen, sondern auch eine lautere Stimme gegenüber der Politik. Es gehe darum, die Abschottung der EU-Außengrenzen wieder durchlässiger zu machen und die Fluchtursachen, Ausbeutung und die Folgen der Kolonialisierung, klarer zu benennen und international zu bekämpfen.

Doch längst nicht jeder will das hören. Verena Mittermaier ist heute Pfarrerin in Perleberg, In der Prignitz ist ihre Gemeinde die Einzige, die Kirchenasyl anbietet. Auf dem Land erlebt sie viel Gegenwind in einer angstbesetzten Gesellschaft. Nicht von ungefähr erfahre die AfD derzeit viel Zuspruch.

Doch das könne die Kirche nicht davon abhalten, noch mehr Hilfe anzubieten.
"Ich habe gelernt, dass in einer christlichen Gemeinde ein Raum zur Verfügung stehen muss, der warm ist, wo es ein Bett gibt, wo es einen Tisch und einen Stuhl gibt und eine Dusche und wo man hingehen kann, wenn man in Not ist. Und wo man Gehör findet, wenn man in Not ist", sagt der Pfarrer im Ruhestand Jörg Passoth.

Das sei die natürliche christliche Aufgabe. Jede Kirchengemeinde müsse dafür wie bei einem Marathon ihre Nächstenliebe-Muskeln trainieren und vorbereitet sein, um in einer konkreten Not-Situation nicht überrumpelt zu sein.