Das freiwillige Gefängnis

Bild von übereinander gelegten Händen in einem Kirchenraum
epd-bild/Hans-Juergen Bauer
Kirchenasyl ist für viele die letzte Rettung. Doch wer entscheidet darüber – und was bedeutet es wirklich, dort Zuflucht zu finden?
Wie Kirchenasyl Leben rettet
Das freiwillige Gefängnis
Kirchenasyl bedeutet nicht Freiheit, sondern ein Leben im Wartestand. Ein Ort, der schützt – aber auch isoliert. Eine Reportage von Haytham Abo Taleb zeigt, wie Geflüchtete Schutz finden und was dieses besondere Asyl über Menschlichkeit im deutschen Asylsystem verrät.

Vor acht Jahren klopfte die Polizei an die Tür der Flüchtlingsunterkunft auf der Suche nach mir. Zum Glück war ich in diesem Moment nicht in meinem Zimmer. Zwei Monate zuvor hatte ich einen negativen Asylbescheid erhalten, weil meine Fingerabdrücke in einem anderen europäischen Land registriert waren. Ich legte Widerspruch ein, doch dieser wurde abgelehnt und ein Abschiebungsbescheid erlassen. Ich war nicht bereit zu gehen. Es ging nicht nur um verwaltungstechnische Unterlagen. Hier hatte ich ein neues Leben begonnen. Mir blieb nur eine Option, um die Abschiebung zu verhindern: das Kirchenasyl.

Der Weg dahin war alles andere als einfach, vor allem wegen meiner damals schwachen Deutschkenntnisse. Ich kontaktierte mehr als sechs Kirchen in verschiedenen Städten, erklärte meine Situation und bat um Hilfe. Schließlich und mit Unterstützung einiger guter Menschen fand ich Zuflucht in der evangelischen Stephanusgemeinde in Gießen. Vier Monate verbrachte ich dort mit all ihren Höhen und Tiefen. 

Kirchenasyl bedeutet keine Freiheit, sondern ein Leben innerhalb von Mauern, die man keine Sekunde verlassen darf, um nicht verhaftet zu werden. Das Leben wird aufgeschoben, auf ein einziges Gebäude begrenzt. Doch mitten in diesen Einschränkungen entsteht auch Hoffnung. Es war eine Zeit voller Stille, Einsamkeit und ständiger Sorge. Und obwohl Jahre vergangen sind, ist die Erinnerung daran so lebendig, als wäre es gestern gewesen.

Auf Spurensuche im Kirchenasyl

Acht Jahre später kehrte ich durch Zufall zu diesem Thema zurück. Diesmal jedoch nicht als Schutzsuchender, sondern als Journalist. Ich wollte verstehen, wie das System des Kirchenasyls funktioniert. Wer trifft die Entscheidungen? Warum wird es vom Staat respektiert, obwohl es keine gesetzliche Grundlage hat? Und wie finden Geflüchtete ihren Weg in dieses "freiwillige Gefängnis"? Aus diesem Grund reiste ich erneut nach Gießen und traf Ralf Müller, den Fachreferent für Flüchtlingsarbeit der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) in den Propsteien Nord-Nassau und Oberhessen, der seit Jahren Geflüchtete unterstützt.

Haytham Abo Taleb (33), Gründungsmitglied von Amal, Frankfurt, ist palästinensischer Syrer, studierte Printmedien in Algerien und Medienpraxis in Marburg.

Was ist Kirchenasyl?

Ralf Müller erklärte mir zu Beginn klar und deutlich: "Kirchenasyl ist kein rechtlich verankerter Anspruch im deutschen Gesetz. Es besteht jedoch eine Vereinbarung zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und den Kirchen. In begründeten Härtefällen respektiert der Staat die religiöse Tradition des Kirchenasyls und erkennt ein abgestimmtes Verfahren zwischen den Kirchen und dem BAMF an". Auch wenn der Staat die Vereinbarung in den letzten zwei Jahren auch mehrfach gebrochen hat, wird die weit überwiegende Zahl der Kirchenasyle bislang toleriert.

Dieses Konzept reicht zurück auf religiöse Traditionen wie die "Zufluchtsstädte" im Alten Testament, die unabsichtliche Totschläger vorübergehend schützten. Mit dem Aufkommen des Christentums wurden Kirchen zu Schutzorten für Verfolgte, insbesondere während der römischen Christenverfolgung, bis zum Toleranzedikt von Mailand im Jahr 313, das die Religionsfreiheit gewährte. Diese religiös-historische Grundlage bildet das Fundament für das heutige Kirchenasyl. Ein Konzept, das in Deutschland vor etwa 40 Jahren nach einem tragischen Vorfall wieder auflebte.

Das moderne Kirchenasyl entstand 1983 nach einem erschütternden Vorfall, der die deutsche Gesellschaft bewegte. Der 23-jährige türkische Geflüchtete Cemal Kemal Altun stand vor der Abschiebung in die Türkei, wo er Folter oder Haft befürchtete. Während einer Gerichtsverhandlung in Berlin sprang er aus dem Fenster und nahm sich das Leben. Müller erzählt: "Dieses Ereignis löste in den Kirchen ein Umdenken aus. Wenn das Leben eines Menschen konkret bedroht ist, dürfen wir nicht untätig bleiben."

Nur wenige Wochen später gewährte die Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin einer palästinensischen Familie aus dem Libanon Schutz in ihren Räumen. Damit begann die Geschichte des modernen Kirchenasyls in Deutschland.

Wer bekommt Kirchenasyl?

Wie Müller erläutert, ist die Entscheidung über ein Kirchenasyl weder willkürlich noch einfach. Jeder Fall wird sorgfältig geprüft. Vorrang erhalten in der Regel Menschen, die in Länder abgeschoben werden sollen, in denen die Menschenrechte nicht im selben Maße wie in Deutschland geachtet werden, etwa nach Rumänien oder Bulgarien oder Angehörige gefährdeter sexueller Minderheiten. Müller betont: "Nicht jeder, der um Kirchenasyl bittet, bekommt es. Die Verantwortung ist groß, die Mittel und Plätze sind begrenzt."

In der Regel nehmen die Kirchen keine Menschen auf, bei denen keine realistische Aussicht auf ein Bleiberecht besteht. Sie wollen keine falschen Hoffnungen wecken. Müller macht deutlich: "Die Kirche stellt keine Aufenthaltstitel aus, das ist allein Sache des Staates. Kirchenasyl garantiert keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. Auch Kirchen können sich in der Einschätzung irren, wie das BAMF entscheiden wird. Die letzte Entscheidung liegt bei der Behörde bzw. bei den Verwaltungsgerichten."

Zwar hat die Polizei das rechtliche Mittel, Kirchenräume mit richterlichem Beschluss zu betreten und abzuschieben, doch geschieht dies selten und mit großer Zurückhaltung. Müller unterstreicht: Die Religion spielt bei der Entscheidung zur Aufnahme ins Kirchenasyl keine Rolle. Er sagt: "Wir haben nie jemanden nach seiner Religion gefragt. Wir haben Muslime, Atheisten und Christen aufgenommen. Wichtig ist für uns nur die konkrete Bedrohung."

Viele Herausforderungen - begrenzte Ressourcen

Trotz des großen humanitären Wertes dieses Instruments arbeiten die Kirchen mit begrenzten Mitteln. In Gießen etwa gibt es nur zehn bis dreizehn Plätze für Kirchenasyl. Müller erhält aber wöchentlich sieben bis zehn Anfragen. "Pro Woche und Person geben wir etwa 20 Euro für Verpflegung und Hygieneprodukte aus. Alles wird durch Spenden finanziert", sagt er. Die größten Probleme seien jedoch nicht das Geld, sondern der Mangel an geeigneten Unterkünften und die psychische Belastung, besonders für Kinder und Familien, denen der normale Alltag verwehrt bleibt. In vielen Fällen dürfen die Kinder nicht einmal zur Schule gehen.

Während meines Gesprächs mit Müller konnte ich nicht verhindern, seine Worte mit meiner eigenen Erfahrung zu vergleichen. Ich war einmal dieser, der nirgendwo hinkonnte und sich in einer engen Ecke wiederfand, die nur zur Kirche führte.

Kirchenasyl ist kein perfektes System, aber ein notwendiges. Es erinnert daran, dass Gesetze manchmal nicht ausreichen, dass Menschlichkeit Bürokratie überwiegen muss.

Kirchenasyl wird die Flüchtlingskrise in Deutschland nicht lösen, aber es rettet zweifellos Leben und gibt jenen Hoffnung, denen alle Türen verschlossen wurden. Wie Müller sagte: "Wir versprechen niemandem völligen Schutz, aber wir versprechen, niemanden allein zu lassen." Und tatsächlich: Sie haben mich nicht allein gelassen.

Wir danken unserem Content-Partner  "Amal, Frankfurt!" für die Kooperation.