"Deutschland hat uns alle zusammengebracht"

Anna Mukha mit Ihren Kindern in Hildesheim
© Darka Gorova/Amal
Anna Mukha aus Lemberg in der Ukraine lebt mit ihren Kindern in Hildesheim. Seit 20 Jahren ist sie in Deutschland, fühlt ich aber trotz deutschem Pass als Ukrainerin.
Amal on Tour
"Deutschland hat uns alle zusammengebracht"
Zehn Journalist:innen der Nachrichtenplattform Amal haben sich auf eine Reise durch das Umland von Hannover und Nord-Niedersachsen gemacht. Darka Gorova hat in Hildesheim Anna Mukha aus der Ukraine besucht.

Anna Mukha aus Lemberg in der Ukraine lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Zu Hause absolvierte sie die Fakultät für Angewandte Mathematik und schrieb sich später an der Technischen Universität München für Informatik ein. Das ist eine der größten Universitäten Deutschlands und eine der drei Eliteuniversitäten, die für das Programm "Konzepte der Zukunft" ausgewählt wurden. Inzwischen lebt sie seit zehn Jahren in Hildesheim.

Darka Gorova traf Anna während der "Amal on Tour"-Expedition. Die Amal-Reporterin wollte wissen, wie und warum Anna das luxuriöse München gegen die Provinz eingetauscht hat; ob ihre Töchter Ukrainisch sprechen; warum Anna die deutsche Staatsbürgerschaft lange nicht wollte; welche Eigenschaften der Deutschen sie noch immer nicht mag und warum ukrainische Mütter sich entspannen und das Leben mehr genießen sollten.

Darka Gorova: Anna, warum Du Dich für ein Studium in Deutschland entschieden hast?

Anna Mukha: Ich weiß nicht, woher dieser Wunsch kam, aber ich hatte ihn schon immer. Als Schülerin war, nahm mein Vater mich nach München mit. Ich habe mich auf den ersten Blick in diese Stadt verliebt! Sie ist wunderschön und hat mich ein wenig an Lemberg erinnert: Sie liegt nah bei den Bergen, hat eine große ukrainische Gemeinde und ein aktives Kulturleben. In Lemberg besuchte ich eine normale Schule und lernte Deutsch in normalen Sprachkursen. Aber wenn man sich etwas ganz stark wünscht, tun sich Türen auf.

Während meines Studiums in München hatte ich immer das Gefühl, das alles möglich ist. Ein Beispiel: Obwohl wir nur ganz gewöhnliche Studenten waren, konnten wir in der berühmten Olympiastadium in München Sport treiben. Wir haben dafür nur rund sieben Euro pro Semester bezahlt. Ich erinnere mich, dass ich irgendwann im Herbst im Stadion stand. Es wurde bereits dunkel, die Sportanlage war wunderschön beleuchtet. Und ich dachte: Für sieben Euro pro Semester trainieren wir an einem so coolen Ort – wie die besten Sportler der Welt.

Anna Mukha mit ihren Kindern in Hildesheim, die beide mehrere Sprachen lernen.

Welche Schwierigkeiten musstest Du überwinden, als Du zum Studieren nach Deutschland kamst?

Anna: Das größte Problem in München ist Immobilien. Es gibt hier nicht nur die teuersten Wohnungen, es reicht auch nicht für alle. Ich bin dann als Erstes in die ukrainische Kirche gegangen. Dort habe ich viele Menschen kennengelernt, die mir helfen – mit Informationen und bei der Suche nach einem Studentenjob und einem Platz in einem Wohnheim. Das ist ein wichtiger Punkt. Ich sage immer: Geht zu euren Leuten!

An der Universität musste ich die komplexe mathematische Terminologie auf Deutsch lernen. Ich erinnere mich, wie wir in der Gruppe über ein hochspezialisiertes Thema diskutierten und ich dachte: Wow, das wurde uns in Sprachkursen nicht beigebracht.

Aber sowohl deutsche als auch ausländische Kommilitonen waren sehr offen und interessiert an der Kommunikation mit uns. Und außerdem studierten in der Informatik nur wenige Mädchen, dafür aber viele Jungen. Daher gab es viele, die bereit waren, beim Studium zu helfen.

München ist ein tolles Kulturzentrum, es ist die reichste und wahrscheinlich schönste Stadt Deutschlands. Hildesheim mit 100.000 Einwohnern ist natürlich nicht so luxuriös. Wie leicht fiel es Dir, sich an den neuen Lebensrhythmus anzupassen?

Anna: Ich wollte diese Realität lange Zeit nicht akzeptieren. Ständig habe ich verglichen, überall sah ich die großen Unterschiede. Der Bus fährt selten, das Nahverkehrsnetz ist schlecht ausgebaut, um 19 oder 20 Uhr schließen die Cafés. Die Möglichkeiten sind in fast allen Bereichen begrenzt. Beispielsweise gibt es in Hildesheim kein Kindermuseum. Meine Kinder und ich reisen woanders hin. Und natürlich gibt es hier auch kein olympisches Schwimmbecken. In München sitzt man in einem Café im Zentrum, schaut sich die Menschen an – und sie sind so stilvoll, so gepflegt. Man geht zur Hauptverkehrszeit zur U-Bahn und dort riecht es nach teuren Parfüms.

"Man geht zur Hauptverkehrszeit zur U-Bahn und dort riecht es nach teuren Parfüms"

Aber Du bist hier geblieben und hast sogar zwei Kinder zur Welt gebracht. Was sind die Argumente dafür?

Anna: So ist dieser Abschnitt im Leben. Die Kinder sind klein. Wir leben im Dreieck Haus-Arbeit-Schule/Kindergarten. 

"Am Ende wird das Land davon profitieren, denn sogar ein Teil der gebildeten, anpassungsfähigen Europäer – insbesondere Kinder - bleibt vermutlich in Deutschland", sagt Anna zu den ukrainischen Migrationsströmen.

Kinder-Küche-Kirche…

Anna:...Exakt! Die Kirche ist für viele Frauen durch Arbeit ersetzt. Ich laufe zehn Minuten von zu Hause zum Kindergarten und dann zur Schule. Auch zur Arbeit sind es mit dem Auto zehn Minuten. Ärzte sind fußläufig schnell zu erreichen. Supermärkte, Spielplätze – alles ist in der Nähe. Dies ist äußerst wichtig für eine berufstätige Mutter mit zwei Kindern. In München hat die Fahrt zur Arbeit 40 Minuten gedauert. Für mich allein ist es okay, aber die Kinder müssen zur Schule gebracht und wieder abgeholt werden, dazu kommen noch Einkäufe und andere Dinge. In einer Großstadt ist es fast unmöglich, zu arbeiten, für die Bedürfnisse der Kinder zu sorgen und Zeit mit der Familie zu verbringen. Mehr noch: Um den Lebensstandard zu erreichen, den wir hier haben, muss man in einer Großstadt härter arbeiten.

Wenn Kinder größer werden, ändern sich auch ihre Bedürfnisse, sie brauchen hochwertigere Bildung und kulturelle Entwicklung. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir dann woanders hinziehen.

Gibt es hier Leute aus der ukrainischen Gemeinde?

Anna: Früher habe ich, wenn ich auf der Straße oder im Supermarkt jemanden ukrainisch sprechen hörte, diese Leute sofort kennengelernt. Jemanden aus der Heimat zu treffen, war ein eher seltenes Phänomen. Jetzt aber gibt es überall viel mehr Ukrainer, aber man lernt sich irgendwie nicht kennen. Weil die Leute denken, dass eine Verrückte sich an sie klammert. Warum sollte man jemanden kennenlernen, nur weil er auch Ukrainisch spricht? Neulinge verstehen es nicht, wie wir früher nach unserem Eigenen suchten und wie es uns fehlte.

Sprechen Deine Töchter Ukrainisch?

Anna: Sarah ist acht Jahre alt. Sie spricht Ukrainisch, Deutsch, Arabisch und Englisch. Letztes Jahr kam ein ukrainisches Mädchen in ihre Klasse, Sarah übersetzte für sie und half beim Ankommen. Lina ist drei Jahre alt. Sie spricht Deutsch, aber kaum Ukrainisch und Arabisch. Ich habe gelesen, dass dies beim zweiten Kind immer so ist – die Sprache der Umgebung wird dominant. Das ältere Kind führt das Jüngere in die Umwelt ein, nicht die Eltern.

Wir alle haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Kinder sind Deutsche von Geburt an. Mein Mann stammt ursprünglich aus Tunesien, hat aber vor mir einen deutschen Pass erhalten. Daher sind laut den Unterlagen des Vaters auch die Kinder Deutsche. Und ich habe den deutschen Pass später bekommen. Deutschland hat uns alle zusammengebracht.

Es scheint mir, dass solche internationalen Familien die Zukunft Deutschlands sind.

Anna: Eine große entwickelte Wirtschaft braucht Migranten. Historisch gesehen war Wirtschaftswachstum häufig mit Migrationsströmen verbunden. Uns ist klar, dass die Deutschen auch überlegt haben, was sie selbst davon haben, bevor sie die riesigen Summen bereitgestellt haben, um den Ukrainern zu helfen, die vor dem Krieg hier Schutz suchten. Am Ende wird das Land davon profitieren, denn sogar ein Teil der gebildeten, anpassungsfähigen Europäer – insbesondere Kinder - bleibt vermutlich in Deutschland.

Fühlst Du Dich nach 20 Jahren in Deutschland und sogar mit deutschem Pass als Deutsche?

Anna: Ich werde mich nie wie eine Deutsche fühlen! Ich bin Ukrainerin mit deutschen Pass.

Hat Dein Herz nicht geschmerzt, als Du Deine ukrainische Staatsbürgerschaft aufgabst?

Anna: Ja, das war ein wichtiger Punkt, und ich habe lange darüber nachgedacht. Aber am Ende ist es nur ein Dokument, es macht das Leben einfacher. Nachdem ich einen deutschen Pass erhalten habe, habe ich meine ukrainischen Eltern nicht vergessen, meine Gene, meine Denkweise nicht verändert, meine Heimatstadt und mein Land nicht vergessen. Meine Identität ist hundertprozentig da. Aber der Alltag ist einfacher geworden. Wir fliegen zum Beispiel oft nach Tunesien und ich muss jetzt nicht mehr jedes Mal ein Visum beantragen.

Die deutsche Mentalität unterscheidet sich deutlich von der slawischen. Was gefällt Dir an den Deutschen und womit kannst Du Dich nicht abfinden?

Anna: Den Deutschen mangelt es an Freude und Genuss des Lebens, Leichtigkeit des Seins. Vielleicht spielt das Wetter oft mit: Denn wenn die Sonne rausschaut, gibt es Musik, und alle sitzen auf den Terrassen und trinken dort ihren Aperol Spritz. Sie feiern einen gewöhnlichen Tag im Leben.

"Den Deutschen mangelt es an Freude und Genuss des Lebens, Leichtigkeit des Seins"

Ich war auch äußerst traurig über die Reaktion der Regierung und vieler Intellektueller auf Russlands Krieg in der Ukraine. 5.000 Helme, diese Gespräche über die Versöhnung brüderlicher Nationen, die Geschäfte mit dem Aggressor und Terroristen – es ist eine widerliche, hässliche Geschichte! Letztes Jahr konnte ich das deutsche Fernsehen nicht ertragen. Da sah alles sehr negativ aus, das hat mich getriggert. Mein Mann beruhigte mich; er meinte, dass ich versuchen solle, neutraler und entspannter zu sein. Ich kann Ungerechtigkeit nicht ruhig betrachten, außerdem ist dies meine Heimat!

Andererseits haben die Deutschen den Ukrainern enorm geholfen. Sie fuhren nachts zu irgendeinem Bahnhof, holten unbekannte Personen ab und brachten sie mit zu sich nach Hause, wo sie sechs Monate oder ein Jahr bleiben konnten. Es war ein großer Schock für mich. Natürlich war es auch für die Deutschen ein Schock, aber sie wollten trotz allem helfen.

Mir gefällt auch, dass sie wissen, wie man "Nein" sagt. Es ist einfacher, nach klar definierten Normen und Zeitplänen zu leben – ob im Beruf oder in persönlichen Beziehungen. Ich mag ihre Planung, Prognosen und ihren realistischen Geschäftsansatz. Es ist klar, was einen erwartet. In der Corona-Pandemie haben die Deutschen einige ihrer Modelle berechnet und vorhergesagt: 2-2,5 Jahre – machen sie sich bereit. So kam es.

Nach Meinung vieler ukrainischer Mütter sind die deutschen Schulen eher mittelmäßig. Selbst in der 3. bis 4. Klasse lesen und rechnen manche Kinder nicht gut. Bist Du mit dem deutschen Bildungsniveau zufrieden?

Anna: Absolut, ja. Im Gegenteil, ich bin sehr verärgert über ukrainische Eltern, die ihre Kinder zu sehr unter Druck setzen.

Ukrainische Kinder wurden plötzlich und unter Stress in ein anderes Land mit einer anderen Lebensweise und Sprache versetzt. Das Kind versteht nicht, wo sein Bett ist, es hat seine vertrauten Wände und all die Spielsachen und Freunde verloren. Es weiß nicht, ob es sie jemals wieder sieht. Und das Kind soll auf eine deutsche Schule gehen, wo es nichts versteht. Es soll dort stiller als das Gras sitzen und möglichst mit Exzellenz lernen. Es ist aber auch erwünscht, dass es selbständig das Programm der ukrainischen Schule durcharbeitet, und was ausgezeichnet ist, wird nicht einmal besprochen. Welche Aktivitäten und Vereine gab es in der Ukraine und können online sein – wir nehmen alles. Und dann gibt es noch deutsche Vereine – wir nehmen auch die, packen sie bitte ein! Ich glaube, dass Kindern nicht nur ihre Kindheit, sondern auch ihre geistige Gesundheit geraubt wird.

Meine Tochter ist jetzt in der zweiten Klasse und lernt gerade lesen. Für die ukrainische Schule ist das schockierend: Das Kind ist acht Jahre alt und lernt erst die Buchstaben. Aber ich habe die Schule sorgfältig ausgewählt und dabei speziell auf mein Kind geachtet und nicht auf abstrakte, verallgemeinerte Standards.

Generell ist es meiner Meinung nach besser, nicht in Auswanderer-Chats zu sitzen. Denn es gibt die gleiche Enttäuschung wie in ukrainischen Chats. Die Menschen sind in ein anderes Land gezogen, kritisieren aber weiterhin alles.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen von Amal on Tour, einer Kooperation zwischen der Redaktion von Amal und der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.

evangelisch.de dankt "Amal Berlin" für die inhaltliche Kooperation.