Wolfram Herrmann ist Stellvertretender Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin an der Charité Berlin und Leiter des europäischen Social-Prescribing-Projekts. Dieses Projekt untersucht, ob und welche Vorteile Soziale Rezepte haben.
epd: Herr Herrmann, worum handelt es sich beim Sozialen Rezept?
Wolfram Herrmann: Das soziale Rezept ist ein innovatives Konzept, um die Versorgung von Patienten mit sozialen Problemen zu verbessern. Sie sollen aus der hausärztlichen Versorgung heraus Angebote vor Ort vermittelt bekommen.
Welche sozialen Probleme sind das? Können Sie Beispiele nennen, für welche Menschen das Angebot interessant sein könnte?
Herrmann: Wir sind offen für alle sozialen Probleme, aber die häufigsten sind soziale Isolation und Einsamkeit sowie Beziehungsprobleme und Probleme auf der Arbeit. Auch finanzielle Sorgen oder Probleme auf der Arbeit können stark belastend sein.
Wie kommt man an ein Soziales Rezept?
Herrmann: Der Betroffene geht zu seinem Hausarzt und dieser verweist ihn weiter an einen sogenannten Link Worker. Dort kann der Patient seine Probleme schildern, es werden gemeinsam Ziele und mögliche Barrieren besprochen und dann recherchiert der Link Worker, welche regionalen, passenden Angebote es gibt.
Was genau sind Link Worker?
Herrmann: Bei Link Workern handelt es sich um geschultes Fachpersonal. Sie gehen ins Gespräch mit den Patienten, lernen sie besser kennen und schauen sich die sozialen, aber auch die körperlichen Probleme an. Dann wird nach möglichen Lösungen gesucht, wie zum Beispiel die Stärkung des sozialen Netzwerks, Kunsttherapie oder bestimmte Bewegungs- und Sportangebote. Dann vermitteln sie die Patienten an Gruppen, Aktivitäten, soziale Dienstleistungen oder andere Angebote in der Nähe.
Welche Angebote können das sein?
Herrmann: Leidet ein Patient unter Einsamkeit, wird er beispielsweise dabei unterstützt, sich einem Kunstkurs oder einer Laufgruppe anzuschließen. Dort hat er die Möglichkeit, neue Menschen kennenzulernen und positive Erlebnisse zu teilen. Patienten, die beispielsweise aufgrund von finanziellen Problemen unter Schlafstörungen leiden, erhalten Unterstützung bei der Navigation im Sozialsystem oder beim Zugang zu Schuldnerberatungen.
Wie geht es danach weiter? Folgt eine Evaluation?
Herrmann: Das wird individuell entschieden. Primär geht es um die Vermittlung, aber es können auch Telefonate folgen, damit nochmal geschaut wird, wie effizient das Angebot war oder ob nach einem Folgeangebot oder einem passenderen Angebot gesucht werden soll.
Der Ansatz des Sozialen Rezepts wurde in England entwickelt. Wie kam die Charité zu dem Projekt?
Herrmann: Wir beschäftigen uns bereits seit 2016 mit Social Prescribing. Als wir dann die Ausschreibung der Europäischen Kommission sahen, haben wir uns beworben. Aktuell führen wir eine Studie in Deutschland durch und starten gerade ein großes europaweites Projekt.
Welche konkreten Unterschiede erwarten Sie bei der Wirksamkeit des Sozialen Rezepts in Deutschland im Vergleich zu England, wo das Konzept bereits etabliert ist?
Herrmann: Was wir uns im Rahmen der europäischen Studie anschauen, ist, ob es Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern gibt. Wir gehen aber nicht davon aus, dass es da große Unterschiede geben wird.
Sie fokussieren sich besonders auf marginalisierte Gruppen wie ältere, alleinlebende Menschen, LGBTIQ-Personen und Geflüchtete. Was ist die Motivation dahinter?
Herrmann: In der europaweiten Studie fokussieren wir uns tatsächlich auf diese drei Gruppen. In allen drei Gruppen gibt es häufiger soziale Probleme wie Einsamkeit, und das Risiko besteht, dass sie in der alltäglichen Versorgung untergehen, zum Beispiel aufgrund von Sprachbarrieren oder Hemmschwellen.
Welche politischen oder strukturellen Veränderungen wären notwendig, damit das Soziale Rezept langfristig fester Bestandteil des deutschen Gesundheitssystems werden kann?
Herrmann: Dafür muss erstmal die Wirksamkeit gezeigt werden. Daraufhin wird dann die Frage gestellt, wer das zukünftig finanzieren wird und wo die Link Worker angestellt werden können. Langfristig wird sich dann die Frage stellen, ob die Krankenkassen die Kosten übernehmen.
Ein kurzer Zukunftsausblick: Denken Sie, das Soziale Rezept hat das Potenzial zur Transformation der Gesundheitssysteme in Europa?
Herrmann: Das ist natürlich das Ziel, dass das Soziale Rezept ein Baustein ist zur Transformation hin zu einer personenzentrierten, gemeindeorientierten Versorgung.