Was bewegt Geflüchtete aus der Ukraine?

Fotoserie über Ukrainische Flüchtlinge in Deutschland
© Sandra Schildwächter
Aus der Foto-Serie "Should I stay or shold I go?" – Fotografin Sandra Schildwächter zeigt geflüchtete Ukrainer:innen in Deutschland. Anna Kiieu (30) ist Studentin der Innenarchitektur. Sie wohnt in ihrem Einzelzimmer in der Jugendburg Hohensolms in Hohenahr.
Preisgekrönte Fotodokumentation
Was bewegt Geflüchtete aus der Ukraine?
Für ihre Fotodokumentation "Should I stay or should I go" über ukrainische Flüchtlingshaushalte in Deutschland, ist die Fotografin Sandra Schildwächter mit dem Foto-Preis IVLP Impact Award 2022 ausgezeichnet worden. Schildwächter arbeitet auch für evangelisch.de.

Sandra Schildwächter hat eine Fotodokumentation über geflüchtete Ukrainer:innen zusammengestellt, die bis Ende März im US-Generalkonsulat in Frankfurt zu sehen ist*.

Schildwächter arbeitet für verschiedene Magazine wie zum Beispiel "stern" oder "chrismon", auch für evangelisch.de. Im Interview berichtet die Fotografin, über ihre Begegnungen mit den Menschen aus der Ukraine. 

evangelisch.de: Was bedeutet der Titel?

Sandra Schildwächter: Der Projekttitel "Should I stay or should I go?" beschreibt den Zwiespalt, in dem sich die Geflüchteten befinden. Er befasst sich sowohl mit der schwierigen Entscheidung, vor der ukrainische Geflüchtete stehen: in ihrer Heimat zu bleiben oder diese verlassen zu müssen, als auch wieder in die Ukraine zurückkehren zu wollen. Die Mehrheit der Ukrainer:innen sagte mir, dass sie so lange in Deutschland bleiben möchten, bis der Krieg zu Ende ist. Sie machen sich außerdem Sorgen, dass es keine Perspektiven und keine Arbeit in ihrem Heimatland gibt. 

Wollen viele Ukrainer in Deutschland bleiben? 

Schildwächter: Nein, nur ein kleinerer Teil plant, zukünftig in Deutschland zu bleiben und einen kompletten Neuanfang zu beginnen. Das ist ganz abhängig davon, wie schwer das Zuhause der jeweiligen Menschen zerstört wurde. Viele sind noch unentschlossen und warten die weitere Entwicklungen ab.

Sie haben 14 ukrainische Flüchtlingsfamilien besucht und fotografiert – in welcher Verfassung waren die Ukrainer:innen?

Schildwächter: Ich habe die Menschen in verschiedenen Stimmungen erlebt: von sprachlos, traumatisiert, deprimiert, emotional bis hin zu zuversichtlich und motiviert für einen Neuanfang.

Die Fotografin Sandra Schildwächter hatte mithilfe einer Award-Auszeichnung eine Foto-Serie über Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland erstellt.

Die Menschen haben nicht nur ihre Wohnungen aufgrund des Krieges verloren. Sie sind schockiert über die Verwüstungen in ihrem Land. Sie sind angespannt, in Alarmbereitschaft, stehen in Kontakt mit Freunden und Familienangehörigen in der Ukraine. Es fällt ihnen nicht leicht, nach nun einem Jahr des Grauens positiv zu denken. Auch wenn sich die Lage in der Ukraine verbessern könnte, gibt es in ihren Häusern oder Wohnungen, wenn diese noch bewohnbar sind, keinen Strom, keine Heizung – es gibt keine oder größtenteils zerstörte Infrastruktur. 

Wie sind die Ukrainer:innen ihnen begegnet?

Schildwächter: Ich habe die geflüchteten Ukrainer:innen als gastfreundlich und offen erlebt. Von allen Menschen, die ich kennengelernt habe, kann ich sagen, dass sie sehr dankbar sind, in Deutschland untergekommen zu sein und so viel Hilfe von vielen Seiten erhalten zu haben. Viele sprachen davon, dass sie Deutschland etwas zurückgeben wollen.

Sie haben selbst Interviews geführt – was erzählen die Geflüchteten? 

Schildwächter: Ich habe ein Zitat von Kateryna Polska mitgebracht: "Es war ein Morgen in Charkiw. Als wir aufwachten, sahen wir eine Rakete. Sie war hinter unserem Haus, aber explodierte nicht. In dem Moment habe ich verstanden: Wenn sie detoniert wäre, würden wir nicht mehr leben. Als ich das realisierte, sagte ich: Nein. Ich gehe, weil ich an das Leben meiner Tochter denke. Ja, das ist mein Land, aber es geht um das Leben meiner Tochter." 

Es ist wieder diese Zerrissenheit! 

Schildwächter: Ja, viele haben Angst, ein Risiko einzugehen, wenn sie nach Deutschland kommen. Aber das Risiko, dort zu bleiben, ist viel größer. Selbst die Älteren glauben inzwischen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war nach Deutschland zu kommen. Aber sie verlieren viel: nicht nur ihre Häuser, ihr Hab und Gut. Als die ersten russischen Bomben im März in den ukrainischen Städten einschlugen, flohen viele in andere Städte und Länder - manche Freunde sind nun über die ganze Welt verteilt.  

Ein Beispiel?

Schildwächter: Boris Yevlakhin sagte mir: "Es ist nichts mehr von der Stadt Ugledar übrig, alles wurde bombardiert. Es gibt keinen Weg zurück. Für uns ist es ein Neuanfang. Wir beginnen mit einer leeren Seite. Besonders traurig macht mich, dass ich alles verloren habe: Meinen Job, meine Freunde und mein Zuhause."

Zerstreiten sich die Familien auch über die Flucht?

Schildwächter: Ja, Anna Kiieu sagte mir im Gespräch: "Als der Krieg begann, war ich einfach gelähmt. Ich konnte nichts tun. Und ich wusste, wenn ich nichts unternehme, rutsche ich in eine Depression. Ich wollte, dass meine Familie mitkommt. Aber sie wollten nicht. Und ich wollte nicht in einer Situation sein, in der ich nicht über meine Zukunft entscheiden kann. Also beschloss ich, allein zu gehen."

Welche Identitätskonflikte haben sie wahrgenommen?

Schildwächter: Manche fürchteten, dass ihre Kinder später ihre eigene ukrainische Sprache und Kultur vergessen. Dass es eine Entfremdung zu ihren Kindern gibt. 

Die Ukrainerin Liubov Nezdiur (28), selbstständige Firmengründerin und Managerin mit Diplom, mit ihren Kindern Arsenii Nezdiur (9) und Marta Nezdiur (3) in ihrer neuen Privatwohnung in Kirchbrombach im Odenwald.

Hier ein Zitat von Liubov Nezdiur: "Das Schwierigste war, mich zu entscheiden und zu dieser Entscheidung zu stehen. Es war eine Entscheidung zwischen der Loyalität zu meiner Heimat – zu allem, was ich mir aufgebaut habe – und der Zukunft meiner Kinder. Ich habe jahrelang gearbeitet, nur um alles an einem Tag stehen und liegen zu lassen. Ich hatte in Rivne ein Bekleidungsgeschäft und ein Café. Im Café arbeiten meine Eltern noch immer, doch es reicht kaum zum Leben. Ich musste alles aufgeben. Am Anfang fühlte es sich an, als ob ich unser Land verrate, weil ich gehe. Doch ich muss an meine Kinder denken. Ich bin für sie verantwortlich. Trotzdem sind wir nicht freiwillig hier."

"Es fühlte sich an, als ob sich unser Land verrate, wenn ich gehe, ich muss an meine Kinder denken."

Welche Auswirkungen zeigen geflüchtete Menschen, wenn sie ihre Heimat nicht freiwillig verlassen? 

Schildwächter: Manche sagten mir, sie könnten diesen Schmerz unmöglich in Worte fassen. Eine Frau berichtete mir, dass ihr Vater keine Musik mehr höre. Er schaue nur noch Nachrichten. Während die Schwester einen nervösen Tick entwickelte.

Zum Beispiel sagte Zitat Liubov Nezdiur: "Das Schwierigste war, mich zu entscheiden und zu dieser Entscheidung zu stehen. Es war eine Entscheidung zwischen der Loyalität zu meiner Heimat – zu allem, was ich mir aufgebaut habe – und der Zukunft meiner Kinder. Ich habe jahrelang gearbeitet, nur um alles an einem Tag stehen und liegen zu lassen. Ich hatte in Rivne ein Bekleidungsgeschäft und ein Café. Im Café arbeiten meine Eltern noch immer, doch es reicht kaum zum leben. Ich musste alles aufgeben. Am Anfang fühlte es sich an, als ob ich unser Land verrate, weil ich gehe. Doch ich muss an meine Kinder denken. Ich bin für sie verantwortlich. Trotzdem sind wir nicht freiwillig hier."

Wie sollen die Fotos gelesen werden?

Schildwächter: Meine Fotografien sollen den ukrainischen Geflüchteten in Deutschland ein Gesicht geben und auf die aktuelle Situation aufmerksam machen. Mein Ziel ist es, mit meiner Arbeit ein Beispiel für Toleranz und Solidarität zu liefern, für Nächstenliebe und humanitäre Hilfe. Der Fokus liegt darauf, das Bewusstsein für die gesellschaftlichen und sozialen Herausforderungen von geflüchteten Menschen zu schärfen. Sie müssen mit Übergangslösungen leben, stellen sich Identitätsfragen und müssen Verluste verkraften, auch wenn sie sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen. 

Hier sind weitere Bilder aus der Fotodokumentation zu sehen.

*Die Ausstellung ist für Besucher:innen zugänglich, die die Dienste des US-Konsulats in Anspruch nehmen.