Kirchen in Europa – Wie geht es weiter?

Tallinn mit Kathedrale und katholischer Kirche
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Die Rolle der Kirchen in einem säkularen Europa wurde in Tallinn von Vertreter:innen der KEK der 113 orthodoxen, protestantischen und anglikanischen Kirchen besprochen.
Was eint sie, was trennt sie?
Kirchen in Europa – Wie geht es weiter?
Zur Vollversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen (14.-20. Juni) trafen sich in Tallinn Vertreter:innen von 113 orthodoxen, protestantischen und anglikanischen Kirchen und mehr als 40 nationale Kirchenräte sowie Partner:innen. Ihr Hauptthema: die Rolle der Kirchen in einem säkularen Europa.

Tallinn ist mit etwa 440.000 Einwohner:innen etwas kleiner als Nürnberg. Während das Stadtbild der historischen Altstadt stark von Kirchen dominiert wird, ist Estland selbst nur noch wenig kirchlich geprägt. Nur 30 Prozent der Est:innen sind dem Christentum zugehörig. Innerhalb der christlichen Minderheit halten sich die lutherische und die orthodoxen Kirchen beinahe die Waage. Laut einer Umfrage im Auftrag der Europäischen Kommission 2020 spielt Religion nur für 22 Prozent der Est:innen eine Rolle, für 57 Prozent ist Religion unwichtig und 21 Prozent finden Religion weder wichtig noch unwichtig.

Doch für eine Woche im Juni rückte das säkulare Estland ins Zentrum der Aufmerksamkeit der europäischen Ökumene. Anglikanische Bischöf:innen in violetten Kollarhemden und orthodoxe Bischöfe in langen schwarzen Roben schlenderten miteinander durch die Innenstadt Tallinns. In einem stillgelegten Kraftwerk trafen sich über 300 Repräsentant:innen verschiedener europäischer Kirchen. Es wurde gemeinsam gebetet, gesungen, diskutiert und ausgehandelt. Und ich war mittendrin.

Das Motto der Vollversammlung der Konferenz europäischer Kirchen (KEK) lautete "Under GOD’S blessing – shaping the FUTURE". Die großen Herausforderungen für die meisten europäischen Kirchen sind Fragen der Zukunft. Wie kann Kirche in einer säkularen Welt relevant bleiben? Wie steht es um die Einheit in Europa? Und wie kann Kirche den großen Unsicherheiten begegnen?

In den Vorträgen wurde über gesellschaftliche Veränderungen, über die gegenseitige Verantwortung füreinander in Europa gesprochen und darüber, dass die Kirchen ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen und sich in der säkularer werdenden Gesellschaft einsetzen müssen.

Auch in den Diskussionen wurden vielfältige gesellschaftliche und politische Themen thematisiert. Das große Potential einer solchen Vollversammlung ist neben den formalen Entscheidungen und den Überlegungen hinsichtlich der Ausrichtung der KEK (die Message der Vollversammlung kann man hier nachlesen) auch der Einfluss, den Kirchen aufeinander nehmen können. Hier treffen sich Vertreter:innen von Kirchen verschiedener Kirchenfamilien, aus ganz verschiedenen Ländern, die sich in vielem unterscheiden, aber doch einige Herausforderungen teilen.

Verantwortung für die Schöpfung

Ein erstes großes Thema, das stets mitschwang, war das der Nachhaltigkeit. Es wurde über die menschengemachte Klimakrise, die schwindende Biodiversität und die Erderwärmung mit ihren vielfältigen Folgen und Bedrohungen gesprochen. Gerade junge Delegierte und Gäste forderten immer wieder ein, dass kein Schritt gemacht, keine Diskussion geführt, kein anderes Thema behandelt werden könne, ohne die Klimakrise zu berücksichtigen.

Alle anderen Krisen, die das Leben aktuell prägen, werden noch weiter verschärft werden: Migration wird eine neue Dimension erreichen, wenn das Klima viele Menschen aus ihrer Heimat vertreibt, Kriege und Krisenherde werden intensiviert, wenn Ressourcen knapper werden.

Die Einbringungen wurden wohlwollend aufgenommen, wie stark Nachhaltigkeit jedoch auf die Tagesordnungen der Kirchen gesetzt wird, ist schwer abzuschätzen. Es darf nicht vergessen werden, dass Kirchen nicht nur geistliche, sondern auch politische Macht besitzen (in manchen Ländern mehr als in anderen) und auch große Institutionen mit einem nicht zu vernachlässigenden eigenen Anteil an der globalen Erwärmung sind.

Nachhaltigkeit und kirchliches Handeln

Wünschenswert wäre, wenn zum einen an kirchliches Handeln der Maßstab der Nachhaltigkeit angelegt werden würde, um den eigenen negativen Einfluss auf das Klima so klein wie möglich zu halten. Auch ist die Bewahrung der Schöpfung tief in der christlichen Identität verwurzelt und so müsste nicht nur das eigene Handeln, sondern auch der Umgang mit der Welt – der eigene Einfluss auf Individuen wie auch Institutionen, Regierungen usw. genutzt werden, um dem urchristlichen Auftrag nachzukommen.

Dass allerdings noch ein weiter Weg vor uns liegt, zeigten zum Beispiel die durchwachsenen Reaktionen darauf, dass an einem Tag ausschließlich veganes Essen serviert wurde. Positive Reaktionen hörte man überwiegend bei den jüngeren Delegierten und Stewards, ansonsten waren die Reaktionen gemischt. Und die Versicherung, dass es morgen wieder Fleisch gäbe, war für viele scheinbar der große Lichtblick des Tages.

Jungen Stimmen Gewicht verleihen

Delegationen sollten jünger werden. Einige Kirchen haben sich das zu Herzen genommen, so waren drei der vier Delegierten der Evangelischen Kirche in Deutschland unter 30 Jahre alt, dennoch war die Mehrheit der Teilnehmenden mit Rede- und Stimmrecht deutlich älter.

Die jungen Delegierten und junge Vertreter:innen von Partnerorganisationen vernetzten sich, brachten sich im Plenum ein und forderten zum einen, dass auf Themen, die von älteren Generationen oft vernachlässigt werden, eingegangen wird. Zum anderen forderten sie eine größere Beteiligung von jungen Menschen – nicht nur als junge Gesichter auf den Bildern von solchen großen Veranstaltungen, sondern auch zwischen Vollversammlungen in Positionen, in denen wirklich Einfluss genommen werden kann.

Und obwohl der Applaus und die öffentliche Bestärkung an die jungen Menschen groß war, habe ich meine Zweifel, ob sich etwas ändern wird. In einer Pause erzählte mir eine Frau, dass gleiche Forderungen schon in den 90er Jahren von ihr selbst vorgetragen wurden. Auch damals war der Applaus groß, aber verhallte schnell.

Krieg und Frieden

Es ist Krieg in der Ukraine – tatsächlich ist das nicht der erste Krieg in Europa seit dem 2. Weltkrieg, aber mit größerer Aufmerksamkeit und gefühlt größerer Bedrohung für ganz Europa als die Kriege der letzten Jahre, wie beispielsweise in Armenien. Viele Menschen aus der Ukraine kamen zu Wort, die belarussische Bürgerrechtlerin Sviatlana Tsikhanouskaya sprach über die bestürzende Situation in Belarus und im Plenum wie in den Pausengesprächen waren Fragen von Flucht und Migration allgegenwärtig.

Obwohl die russische Mitgliedskirche der KEK nicht anwesend war und es auch keine offiziellen Gespräche gibt, finden doch Unterhaltungen statt, wie mir versichert wurde. Denn die KEK versteht sich schon von der Gründung her als Brückenbauerin in Europa. Wenn ein offizieller Austausch nicht möglich ist, so wird er nun auf der Basisebene geführt. Hauptsache, der Kontakt reißt nicht ab.

Die Vollversammlung positionierte sich deutlich gegen Putin und seinen Angriffskrieg und bot Unterstützung an. Mich beeindruckte eine Anmerkung nach Sviatlana Tsikhanouskayas Vortrag: Eine Delegierte stand auf und fragte, was die Anwesenden tun könnten, außer für die Verfolgten und Unterdrückten zu beten. Denn die Anwesenden seien nicht nur Menschen des Glaubens, sondern auch Menschen mit Macht. Diese Aussage scheint wie ein Gegensatz zu den Redebeiträgen, wenn es um die voranschreitende Säkularisierung in Europa und andere wichtige Themen wie die Klimakatastrophe geht – da wägte man sich viel mehr in Unsicherheit und einer Position, die zu unbedeutend ist, um etwas zu bewirken.

Wie geht es weiter?

Die Vollversammlung war ein wichtiger Moment des (Wieder-)Sehens für die Vertreter:innen von Kirchen und Partnerorganisationen. Sie fand auch zu einem wichtigen Zeitpunkt statt – Nuklearwaffen wurden nach Belarus gebracht, Wälder in ganz Europa brennen und Kirchen verlieren zusehends an Bedeutung.

Ich hoffe, dass die vielen guten Gespräche nicht abbrechen, dass Worten Taten folgen und dass ein Aufbruch kommt. Ich hoffe, dass Kirchen ihre Verantwortung erkennen und sich ungeachtet von Mitgliederzahlen darauf besinnen, sich für das einzusetzen, was schon immer ihre Aufgabe war: Die Fürsorge für die Nächsten, die Solidarität mit den Unterdrückten, die Bewahrung der Schöpfung sind wichtiger denn je. Hoffen wir, dass die Kirchen sich nicht in strukturellen Debatten verlieren und die Aufbruchsstimmung noch lang genug anhält, um Aufbruch zu werden.

 evangelisch.de dankt der Evangelischen Mission Weltweit und mission.de für die inhaltliche Kooperation.