"Kein Mensch wird als Antisemit geboren"

Was tun wir gegen Antisemitismus?
© Arne Dedert/dpa
Was tun wir gegen Antisemitismus?
"Kein Mensch wird als Antisemit geboren"
Was tun wir gegen Antisemitismus? Podiumsdiskussion auf dem Ökumenischen Kirchentag
Nach der militärischen Eskalation im Nahen Osten werden in Deutschland Synagogen attackiert, auf Querdenken-Demonstrationen tragen Teilnehmer den Judenstern - Antisemitismus ist in Deutschland präsent wie lange nicht. Auf dem Podium "Was tun wir gegen Antisemitismus?" zum 3. Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt stellten die Teilnehmer:innen verschiedene Ansätze vor, um Judenhass zu verhindern.

"Das eine Allheilmittel gegen Antisemitismus gibt es nicht. Wir müssen auf vielen Ebenen und mit vielen Mitteln den Kampf gegen Antisemitismus fortsetzen", sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, relativ am Anfang der Podiumsdebatte auf dem digitalen Kirchentag. Genau darum sollte es im Verlauf der einstündigen Debatte gehen: mit welchen Ansätzen Antisemitismus in Deutschland (und Europa) bekämpft werden kann. Die Mischung der Podiumsteilnehmer:innen aus den Bereichen Politik, Bildungsarbeit und IT versprach vielfältige Herangehensweisen - dieses Versprechen wurde eingelöst.

Durch die Angriffe auf Juden und Synagogen in Deutschland als Reaktion auf die eskalierende Gewalt im Nahen Osten fand das Podium inmitten einer Zeit heftiger antisemitischer Vorfälle statt. Dadurch wurde das Problem vielleicht greifbarer.

Und das, obwohl antisemitische Straftaten in Deutschland voriges Jahr bereits den höchsten Stand seit 20 Jahren erreicht hatten. 2.275 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund gingen aus der Polizeistatistik hervor. Auch in Europa steige die Anzahl von Hassverbrechen gegen Juden, erklärte Podiumsteilnehmerin Katharina von Schnurbein, Antisemitismusbeauftragte der Europäischen Kommission, die aus Brüssel zugeschaltet war. Allein 2019 wurden über 3.000 Hassverbrechen registriert, die Dunkelziffer wird auf 70 bis 80 Prozent geschätzt. In einer Befragung äußerten sich neun von zehn Jüdinnen besorgt über wachsenden Antisemitismus und selbst 50 Prozent der nicht-jüdischen Bevölkerung registrierten einen Anstieg, sagte von Schnurbein.

Das Podium lieferte einige konkrete Erkenntnisse über den Umgang mit diesen Taten: Benjamin Fischer, Programm-Manager der Alfred Landecker Stiftung in Berlin, sagte, dass sie versuchten, neue Ansätze in die festgefahrene Debatte zu bringen - auch technisierte. Antisemitismus im Netz sei vielfältig, sagte er, "es ist nicht so einfach Offline-Strategien in Online-Räume zu übertragen." Daher sei es wichtig, ausreichend Daten zu sammeln und die Social-Media-Plattformen in die Verantwortung zu nehmen. Die EU habe viele Maßstäbe entwickelt. "Aber die müssen von den Plattformen auch umgesetzt werden", sagte Fischer. Wichtig sei es dafür auch, Kapazitäten und Wissen zur Verfolgung von Antisemitismus in Justiz und Polizei aufzubauen, ergänzte von Schnurbein. 

Nicht nur ein Problem von Jugendlichen

Einigkeit herrschte unter den Teilnehmenden, dass Bildung ein wichtiger Ansatz sei, um Antisemitismus zu verhindern. Dennoch warnte Marina Chernivsky, Geschäftsführerin des Kompetenzzentrums Prävention und Empowerement, die aus Berlin zugeschaltet war, davor, das Problem auf Kinder und Jugendliche abzuschieben: "Es darf nicht aus dem Blick geraten, dass nicht nur die Kinder und Jugendlichen Teil des Problems sind, sondern dass die hiesige Gesellschaft Antisemitismus in sich trägt. Wir sind alle Teil davon." Sie riet dazu, dass der Umgang mit Antisemitismus auch in Institutionen und bei der Ausbildung von wichtigen Akteuren und Personen in Schlüsselfunktionen eine größere Rolle spielen müsse.

Schuster stimmte zu, dass gerade in Berufen wie Polizei und Justiz Kenntnisse über antisemitische Symbole und Zeichen verbreitet sein müssen. "Wenn die es verstanden hätten, wären wir schon ein Stück weiter!", sagte er.

Judenhass und Verschwörungstheorien

Auf die Frage, warum Judenhass nach 40 bis 50 Jahren Bildungsarbeit noch so verfange, entgegnete Schuster, dass diese Bildungsarbeit eigentlich erst in den letzten 20 Jahren eine Rolle gespielt habe. In den Jahrzehnten nach dem Krieg war Judentum und Shoah noch lange tabu. Er kritisierte, dass das Problem von Antisemitismus zu oft als historisch abgetan werde. Er baue darauf, dass das Festjahr zu 1700 Jahren jüdisches Leben in Deutschland zu einem besseren Verständnis des Judentums beiträgt.

Der Zusammenhang von Verschwörungsmythen und Antisemitismus, der in den vergangenen Monaten vor allem durch die Querdenker-Szene deutlich wurde, ist für Chernivsky offensichtlich: "Verschwörungsmythen machen den Kern von Antisemitismus aus. In jeder krisenhaften Situation wird auf Erklärungs-Chiffren zurückgegriffen. Sie sind vorhanden und jeder, der sie hört, kann sich vorstellen, worum es geht." Dazu müsse noch nicht einmal das Wort "Jude" fallen, weil viele der Denkmuster schon seit Jahrzehnten bekannt seien. Es sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, antisemitische Bilder zu dekonstruieren.

"Meet a jew"

Fischer warnte davor, sich im Umgang mit Antisemitismus zu erhaben zu fühlen. "Wir verstehen das Problem nicht oder vereinfachen es", sagte er. Es benötige noch viel mehr Daten, um dem Phänomen gerade im Internet beizukommen. Mit verschiedenen Projekten will die Alfred Landecker Stiftung dazu beitragen, unter anderem einer künstlichen Intelligenz, die Antisemitismus im Internet automatisch erkennt. Viele Menschen würden nicht merken, dass sie antisemitische Bilder im Kopf haben und fühlen sich vor dem Problem gefeit, ergänzte Chernivsky. "Die Reflektion gehört in den öffentlichen und in den pädagogischen Raum."

Zuletzt rief Moderator Joachim Frank, Chefkorrespondent der DuMont Mediengruppe, die Teilnehmenden dazu auf, konkrete Beispiele zu nennen, wie Antisemitismus beizukommen wäre. Mit überzeugten Antisemiten brauche man nicht zu reden, stimmten Schuster und Chernivsky überein. Aber gerade mit jungen Menschen sei es wichtig, im Dialog zu bleiben. "Kein Mensch wird als Antisemit geboren", sagte Schuster, sondern werde im Laufe seines Lebens dazu gemacht. "Wir müssen aufpassen, dass sie nicht abdriften." Außerdem wies er auf die Aktion "Meet a jew" hin, bei der sich Klassen oder Gemeinden mit einem Juden treffen können. "Sie sehen einen Juden, können mit ihm reden und meistens stellt man fest: Der ist nicht viel anders als man selbst."