"Künstlerische Kompetenz ist keine Genderfrage"

Oft sind nur an Bedeutenden Kirchen professionelle Kirchenmusiker angestellt, daher bleiben viele Gemeinden auf das Engagement ihrer nebenamtlichen Organisten angewiesen.
© epd-bild/Andrea Enderlein
Die 18-jährige Schülerin Vanessa Roth wird von der Organistin Katrin Bibiella an der Orgel unterrichtet. Die große Mehrzahl der A-Stellen in der Kirchenmusik ist allerdings immer noch von Männern besetzt.
"Künstlerische Kompetenz ist keine Genderfrage"
Männliche Kopfgeburten, Newcomerinnen, Wundertier-Attitüden und der Weg zur Parität: Ein Gespräch mit Christa Kirschbaum, Landeskirchenmusikdirektorin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, in der Interviewreihe zu Musik, Kultur und Verkündigung.

Sie geben als Ihren Beruf Kirchenmusikerin an. Was ist diese Profession für Sie, Beruf oder Berufung?

Christa Kirschbaum: Berufung, ganz klar. Die Kirchenmusik bietet ein ungeheuer breites Spektrum an Aktivitäten und sozialen Interaktionen, mit Ehrenamtlichen und Profis und in ganz unterschiedlichen musikalischen Genres. Und fast ein Alleinstellungsmerkmal in den Musikberufen: Wenn Sie als Kantorin eine gute Arbeit machen, kommen die Menschen in Ihren Chören freiwillig jede Woche wieder.

Gibt es ein weibliches Verständnis von Kirchenmusik?

Kirschbaum: Die künstlerische Kompetenz von begabten Menschen ist keine Genderfrage. Und die Musik selbst ist nach der schönen Formulierung des Musikkritikers Heinz Klaus Metzger weder kommunistisch noch katholisch.

Ist es erkenntnisfördernd, nach Unterschieden zwischen weiblichen und männlichen Kirchenmusikern in der alltäglichen Gemeindepraxis zu fragen?

Kirschbaum: Allerdings! Es ist zwar inzwischen dank der Entwicklung der letzten 30 Jahre normal, dass es hauptberufliche Kirchenmusikerinnen gibt, so wie Frauen in der Kirche auf allen Ebenen hauptberuflich tätig sind. Bis dahin gab es aber lediglich Einzelfälle in diesen Positionen. Nicht wenige Anstellungsträger waren der Meinung, dass Kantorinnen anders als Kantoren nicht fähig seien, etwa die Aufführung einer Matthäus-Passion zu leiten.

"Frauen gebären Kinder, Männer machen Kopf-Geburten"

Im Barock war es Sängerinnen verwehrt, sich auf der Opernbühne zu präsentieren. Auch heute noch sind oder gelten Frauen in Teilen der Klassikszene als unterrepräsentiert, so im Dirigentenfach. Eine historische Diskriminierung, die die christlichen Kirchen noch verstärkt haben?

Kirschbaum: Die ersten Musiker in der christlichen Kirche waren Kleriker. Erst mit der Reformation erhielt die Gemeinde durch gemeinsamen Liedgesang eine eigene liturgische Stimme, angeleitet weiterhin durch Männer. Als die Schulen die Klöster als Bildungsinstitute ablösten, übernahmen die Lehrer auch die Kirchenmusik. Mit der Aufklärung tritt der männliche Genius an die Stelle des allmächtigen Schöpfer-Gottes. Frauen gebären Kinder, sind also für das Leiblich-Irdische zuständig. Männer machen Kopf-Geburten und erweitern so die geistige Welt. Um den komponierenden und dirigierenden Maestro entwickelt sich ein Starkult. Komponierende Frauen gab es wenige, sie arbeiteten vor allem für den häuslichen Bereich und in kleineren musikalischen Formaten. Historisch betrachtet, sind die Kirchenmusiker sicherlich die am stärksten patriarchalisch geprägte kirchliche Berufsgruppe.

Agierten also die Kirchen hier in einem Geleitzug mit der Gesellschaft?

Kirschbaum: Nicht ganz. Bis ins 20. Jahrhundert sind die christlichen Kirchen analog zur allgemeinen Musikpraxis zu sehen. Nach der Trennung von Kirche und Staat entwickelten sie eigene Stellenpläne, die nach 1945 umgesetzt wurden. Bei den Dirigentinnen waren die Kirchen schon viel früher an der Spitze der Bewegung. Schon seit den 1980er Jahren ist es normal, Frauen als musikalische Leiterinnen eines Oratoriums zu erleben.

Sie haben sich schon während Ihres Studiums der Kirchenmusik gegen die Benachteiligung von Frauen als Kantorinnen, Organistinnen und Verantwortliche in der Arbeit mit Chören und anderen Ensembles gewandt. Ihr Motiv – eine Portion Rebellentum im besten lutherischen Sinne?

Kirschbaum: Unterstützt durch eine berufstätige Mutter und ausgebildet durch die Kantorin meiner Heimatgemeinde, hatte ich nie Zweifel daran, dass Frauen A-Kirchenmusikerin werden können. Erst während des Studiums merkte ich, dass manche Leute ein Problem haben, wenn da eine Frau vorn steht. Ich lasse mich von einem ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl leiten, das durch die feministisch-theologische Bewegung in der Kirche selbst gespeist wird.

Sie sind die einzige Frau in der Direktorenkonferenz Kirchenmusik in der EKD. Symptom oder Beginn einer konstruktiven Veränderung?

Kirschbaum:  Wir sind zwei Frauen in diesem Gremium, aber ich bin die einzige Vollzeit-Direktorin. Richtig ist, daran durchaus den Beginn einer konkreten Veränderung festzumachen, die bis zur Parität führen sollte.

"Uns fehlen die Rollenmodelle, die als Vorbild dienen"

Die Situation von hauptberuflichen Frauen in der Kirchenmusik hat sich, wie Sie sagen, nach 1945 signifikant verbessert. Braucht es noch eine Frauenbewegung, um die Gleichberechtigung in der Stellenpraxis durchzusetzen?

Kirschbaum: Vielleicht keine neue Frauenbewegung. Was wir aber alle brauchen, sind strukturelle Veränderungen und Hilfen. Ich denke an Netzwerke, Mentoringangebote, einen begleiteten Berufseinstieg oder auch spezielle Coachings. Eine erste Coaching-Tagung nur für hauptberufliche Kirchenmusikerinnen findet in Kürze im Hildesheimer Michaeliskloster statt. Auch ein Anfang, den es dringend braucht. Wenn ich als Frau neu in ein Gremium mit lauter altgedienten Männern komme, stellt sich sofort die Frage, wie sich da die Newcomerin ein Standing verschafft. Uns fehlen die Rollenmodelle, die als Vorbild dienen.

Würden Sie sich eine Frauenquote nach Modellen aus Politik und Gesellschaft wünschen?

Kirschbaum: Eine Quote halte ich hier nicht für sinnvoll, sie wäre auch zu simpel. Eine Stellenbesetzung ist immer ein komplexer Vorgang. Mit den musikalischen Ensembles muss die Chemie stimmen. Teamfähigkeit braucht es für die Arbeit in gemischten Leitungsgruppen aus Profis und Ehrenamtlichen anderer Fachrichtungen. Kontaktpflege von der Gemeinde bis hin zur landeskirchlichen Verwaltung und zu außerkirchlichen Kulturträgern ist erforderlich. Momentan sind wir im Übrigen froh um jede Stelle, die wir besetzt kriegen, weil es zu wenige Bewerbungen gibt. Wir müssen unbedingt für das Studienfach und den Beruf werben.

Die neuen Strukturen, für die Sie eintreten, sind eine Sache. Besteht aber nicht auch Grund, an die Hauptsache zu denken, die Musik?

Kirschbaum: Absolut. Die nächsten Schritte für die Kirchenmusik könnten sein, für die musikalische Praxis neue Stücke zu entwickeln, die eine dezidiert weibliche Perspektive einbringen, zum Beispiel mit Libretti, die Frauen der Bibel oder aus der Kirchengeschichte in den Mittelpunkt stellen. Warum immer nur Mose, Elias und Paulus und nicht genauso Mirjam, Ruth und Lydia? Und auch: Mehr Komponistinnen ermutigen, für die Kirche zu schreiben. Und für alle Frauen und Männer in der Kirchenmusik gilt: Neue Formate der Musikvermittlung entwickeln, wie uns das Profi-Orchester, Musikschulen und Opernhäuser schon längst vormachen. Das geht übrigens nur im Team, weil wir insgesamt nur recht wenige hauptberufliche Stellen in unseren Landeskirchen im Vergleich zu anderen Berufsgruppen haben.

Wie ist aktuell die Situation der Bewerberinnen um Studienplätze im Fach Kirchenmusik, quantitativ wie qualitativ? Immerhin ist jede/r zweite Studierende mittlerweile weiblich. Womöglich haben die Studenten längst die Tatsache schätzen gelernt, dass sie ambitionierte und fähige Kommilitoninnen haben?

Kirschbaum: EKD-weit sind derzeit 379 Studienplätze besetzt. Auf 44 Prozent davon sind Studentinnen eingeschrieben. Das frühere Studienideal des "Einzelkämpfers" wird längst durch die "Teamplayer" abgelöst. Das eigentliche Problem stellt sich erst nach dem Abschluss. Da geht es dann um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Kirchenmusik findet zumeist abends und am Wochenende statt. Das erfordert vom Partner eine hohe Toleranz und eine perfekte Organisation des Familienlebens. Die jungen Männer haben das Problem übrigens inzwischen auch. Die Zeiten, wo eine Kantorengattin ehrenamtlich "den Rücken frei hielt", sind vorüber.

Die Stellenbesetzungspolitik der kirchlich Verantwortlichen hat mit der Öffnung der Profession für Frauen offenkundig nicht mitgehalten. Bei den attraktiven A-Stellen ist der Männeranteil überwiegend. Nur bei den geringer dotierten B-Stellen lässt sich eine Gleichverteilung beobachten…

Kirschbaum: Eine Ungleichverteilung in der Spitze besteht in der Tat. In meiner Landeskirche ist ein Drittel der A-Stellen von Frauen besetzt. Den verstärkten Zugang von Musikerinnen in den Beruf sollten wir mehr unterstützen, indem wir schon im Studium Mut machen, sich qualifizierte Aufgaben zuzutrauen und vorzunehmen. Frauen in Spitzenpositionen sollten Bürokratie nicht scheuen und frühzeitig lernen, ihre Vorhaben argumentativ zu vertreten. Dabei gibt es für sie noch kein "old boys network", das müssen wir "girls" erst entwickeln. Vor allem braucht es diese Einsicht: Als Musikerin muss ich über meine Musik reden können und vermitteln, was ich damit will und dafür brauche - auch wenn ich viel lieber gleich Musik machen möchte.

Kantorinnen haben in einigen Gemeinden in den letzten Jahren mit spektakulären Aufführungen von Passionen und Opern Furore gemacht. Ich denke an Bad Homburg und Bonn. Könnte es gerade die Kompetenz von Kirchenmusikerinnen sein, mit kreativen Projekten die Strahlkraft, um nicht zu sagen: die Markenkraft von evangelischen Gemeinden zu erhöhen?

Kirschbaum: Klares Nein, unabhängig davon, dass solche Projekte unglaublich sinnvoll sind. Ich will auch unbedingt weg von der Wundertier-Attitüde: "Sie schafft das, obwohl sie so eine zarte Frau ist…" Motivation für Frauen und Männer in diesem wunderbaren Beruf sollte immer sein: Unsere Musik existiert nicht nur innerhalb der Kirchenmauern. Sie verfügt auch über eine Strahlkraft für Menschen, die nicht zur Kerngemeinde zählen. Sie sollte ein Player in der gesamten Musikszene der Gesellschaft sein und nicht in einem innerkirchlichen Schneckenhaus gefangen. Und kann dadurch auch Menschen "von außen" einladen, bei der Kirche (wieder) anzudocken.