Die evangelische Kirche nach und vor dem Sturm

Foto: pixabay/rihaij
Hinter einem Deich ist die Kirchturmspitze der Johanneskirche in Dömitz zu sehen.
Die evangelische Kirche nach und vor dem Sturm
Was ist passiert, seit die EKD das Impulspapier "Kirche der Freiheit" im Jahr 2006 veröffentlicht hat? In Magdeburg bekam das Kirchenparlament eine Zwischenbilanz präsentiert.

Im Jahr 2006 hatten sich der Rat der EKD und die Kirchenkonferenz darauf geeinigt, das Impulspapier "Kirche der Freiheit" zu verabschieden. Viele EKD-Synodale waren sauer, denn das Papier war ohne ihre Zustimmung verabschiedet worden. Große Teile der Pfarrerschaft fühlten sich herabgewürdigt, denn das Papier fragte nach der Qualität von Taufen, Hochzeiten und Beisetzungen.

Das Papier sah auch vor, dass die evangelische Kirche im Jahre 2030 nahe bei den Menschen sein solle. "Sie bietet Heimat und Identität an für die Glaubenden und ist ein zuverlässiger Lebensbegleiter für alle, die dies wünschen." (Impulspapier Seite 48). Ja, war die Kirche das denn nicht mehr? Keine Heimat, keine Identität? Die Gemeindepfarrerschaft, die aufopferungsbereit ihren Dienst versah, konnte sich beleidigt fühlen.

Vertreter der Landeskirchen fühlten sich bedroht, denn das Papier sah vor, dass es statt der 23 Landeskirchen im Jahr 2006, im Jahr 2030 nur noch acht bis zwölf Landeskirchen geben solle.

Zehn Jahre nach dem großen Knall

"Das waren heftige Punkte, deswegen flog es uns in der Folgezeit um die Ohren", sagt Thies Gundlach, Vizepräsident des EKD-Kirchenamtes und Verantwortlicher des "Reformbüros". Gleichzeitig ist er sich, zehn Jahre nach dem großen Knall, aber sicher: "Das war ein Impuls, der wirklich etwas bewegt hat." Weil er in der Folgezeit einiges in Gang setzte.

Zunächst einmal hatte sich die Synode, nach dem ersten Ärger über die Vorgabe "von oben", des Themas angenommen. Auf ihrer Synode im Jahr 2007 nahm sie das Papier zum Anlass, einen eigenen Prozess der Zukunftsdebatte unter dem Titel "Evangelisch Kirche sein" anzuschieben. Die Landeskirchen akzeptierten das Papier und sahen, dass es sie nicht nur klein machte, sondern auch Prozesse aufgenommen hatte, die manche Landeskirchen selbst schon in den 1990er Jahren angestoßen hatten: Gemeindefusionen, Dekanatsfusionen, das Schaffen von Funktionspfarrstellen für die Jugendarbeit, Krankenhäuser, Schulen und Gefängnisse.

"Nach den Entwicklungen in den anfänglichen 2000er Jahren wussten wir, dass wir nicht mehr so weiter machen konnten, wie in den Jahrzehnten zuvor", sagt Thies Gundlach. Das Impulspapier sei dringend gewesen. Es kam schnell und radikal daher. Zudem wirkte es verkürzt: Es wurde den Verantwortlichen, unter Vorsitz des damaligen Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber, vorgeworfen, dass sie den geistlichen Auftrag ökonomischen Prämissen opfern würden: "Die Zahl der Pfarrerinnen und Pfarrer hängt unter anderem von der Finanzkraft der Kirchenmitglieder ab, die für ihre Besoldung aufkommen." (Impulspapier Seite 74) Wenn die Pfarrer durch Qualität ihrer Arbeit und Lernbereitschaft die Mitglieder halten könnten, blieben ihre Stellen bestehen. Ansonste müsse es zu einem Abbau kommen, so das Papier weiter.

Sinkende Kirchensteuereinnahmen - sinkende Finanzierungsmöglichkeiten der kirchlichen Aufgabenfelder. So einfach die Rechnung, so strittig die vorgeschlagenen Konsequenzen. Die Folgejahre hatten jedoch zunächst den Druck genommen. Die Kirchensteuereinnahmen waren besser als erwartet, der Reformdruck sank und die Gemüter beruhigten sich. Man traf sich. Aus ganz Deutschland versammelten sich mehrfach Vertreter aus Kirchenkreisen und Gemeinden: 2007 in Wittenberg, 2009 in Kassel, 2014 in Wuppertal. "Die Gedanken des Papiers sind eingesickert", beschreibt Thies Gundlach den Erfolg des Papiers. Es beschäftige alle Ebenen der Kirche bis heute und auf bisher fruchtbare Weise.

Auch, wenn es nicht alle Vertreter der Landeskirchen, Kirchenkreise und Gemeinden gerne zugeben, die Angebote "von oben", von der EKD, werden angenommen: Die Impulse der 2008 geschaffenen "Kompetenzzentren" für die Mission in der Region, für die Qualität von Gottesdiensten und für Predigtkultur werden in vielen Gemeinden aufgegriffen.

Das Impulspapier "Kirche der Freiheit", das vielfach als ein von oben aufgezwungener Umbauprozess kritisiert worden war, sei doch vor allem eine Bühne für Informations- und Wissensaustausch, sagt Heinz Thomas Striegler. Er ist Leiter der Kirchenverwaltung und Finanzdezernent der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Für die EKHN sei das Impulspapier eine willkommene Ergänzung zu den eigenen bereits in den 1990er Jahren begonnenen Reformanstrengungen gewesen.

Entscheidend sind die kirchlichen Verhältnisse vor Ort

Der Schatz an Erfahrungen, den die Landeskirchen mit dem Reformprozess erarbeitet hätten, sei nun die Grundlage für die kommenden Jahre, sagte der Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm am Dienstag auf der Synode in Magedeburg. "Die Kraft unserer Kirche liegt in ihrer geistlichen Ausstrahlung und die Strukturen müssen unserer Begeisterung für das Evangelium dienen." Erst der Auftrag - dann die Struktur: "Entscheidend ist die Frage: was hat Jesus Christus mit uns vor?", sagte Heinrich Bedford Strohm vor den 120 Synodalen, von denen zehn Jahre nach dem großen Schreck nicht ein einziges kritisches Wort zur Zwischenbilanz des Reformprozesses kam, sondern lobende Worte und weiterführende Gedanken. Grund dafür ist wohl auch dieser zentrale Punkt der Zwischenbilanz, der wie eine Kehrtwende zum vorgelegten Impulspapier wirkt: "Weniger denn je werden umfassende Generallösungen als geeignet angesehen für den Umgang mit der Diversität kirchlicher Verhältnisse vor Ort", heißt es dort.

Vor zehn Jahren hatte auch Heinz Thomas Striegler die finanziellen Einschätzungen geteilt, die das Impulspapier zugrunde gelegt hatte. Er teilt zudem den Anspruch, dass die Strukturen dem Auftrag dienen müssen. "Wir haben das Vertrauen in die Gemeindeebene, dass sie die Reformen auf ihre Art weiter voranbringt", sagt er, deshalb könne seiner Meinung nach die gesamtkirchliche Steuerungsfunktion ein wenig zurückgenommen werden: "Allerdings muss es einen verlässlichen Rahmen geben. Beispielsweise für Kooperationen unterhalb der Fusionsschwelle." Auch, wenn die vergangenen Jahre fetter waren als erwartet, entwarnen will Striegler nicht: "Die Prämisse, dass wir älter und weniger werden, gilt." Ab dem Jahr 2018 gehen die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand. Für die Kirchensteuereinnahmen bedeutet das, sie werden weniger. Nach den Überschüssen der vergangenen Jahre seien die Kirchensteuereinnahmen in der EKHN im laufenden Jahr zum ersten Mal unter der Zielmarke geblieben, sagt Striegler.

Nach dem die ersten zehn Jahre des Reformprozesses sowohl mit Ängsten und Abwehrhaltungen verbunden waren, scheint sich das Bewusstsein für den Wandel in den Köpfen verankert zu haben; mancherorts hat es sich sogar zu Wohlwollen oder auch Akzeptanz gewandelt. Dennoch wird sich die Kirche in Zukunft sehr genau überlegen müssen, wofür sie ihre Mittel einsetzt: Für Verkündigung? Natürlich. Für Bildung? Für den Sozialbereich? Da wird es schon schwieriger. Nicht nur, weil wir bereits durch das Reformationsjubiläumsjahr hecheln: Die Luft wird dünner werden für all die Arbeitsbereiche, die sich die Kirche aus sehr guten Gründen leistet.