Machen Sie nicht so ein Gesicht!

Machen Sie nicht so ein Gesicht!
Wer besucht eigentlich unsere Gottesdienste? Manche Gemeinden kommen für die Statistik auf seltsame Lösungen ...

Heute verrate ich Ihnen ein Geheimnis, aber bitte sagen Sie's nicht weiter: Ich kann mir so gut wie keine Gesichter merken. Namen, ja, das geht irgendwie, Email-Adressen: Perfekt, ich weiß immer, ob die Person bei GMX, T-Online, AOL oder sonstwas ist, ob mit Punkt oder Unterstrich im Namen und was es sonst noch für Varianten gibt. Selbst so komplizierte Sachen wie „martina_d_aus_w“ - gar kein Problem. Aber die Gesichter dazu? Absolute Fehlanzeige. Für einen Pfarrer ist das nahe an der Berufsunfähigkeit und es ist mir auch peinlich und unangenehm, aber ich habe noch keine wirkliche Lösung dafür gefunden. Eine Psychologin meinte einmal zu mir, jeder Mensch könne das, es sei nur Faulheit, wenn es nicht klappen würde, sie könne es aber auch nicht und sei sehr froh, dass die Leute bei ihr immer nach Terminkalender kommen.

Natürlich habe ich mir mittlerweile eine gewisse Inkompetenzkompensierungskompetenz zugelegt, wie ich doch noch dahin komme, eine Person mit einem Namen und vor allem auch mit der dazugehörigen Geschichte zu verknüpfen. Als Gemeindepfarrer, der oft Geburtstags- und sonstige Hausbesuche machte, fragte ich dann eine wildfremde Person schon mal auf der Straße: „Wo wohnen Sie nochmal?“ – wusste ich das Haus, wusste ich auch den Namen und die vielen Geschichten, die mir dieser Mensch schon erzählt hatte.

Tja. Eine vertrackte Sache das. Bei Computern gibt es Nameserver, so was würde ich mir manchmal auch wünschen. Einen Assistenten, der mir von jedem Menschen einfach den Namen ins Ohr flüstert. Ein wenig hatte ich da auf Google Glass gehofft, dass diese Wundercomputerbrille mir die Gesichtserkennung abnehmen könnte, aber natürlich gibt es da wieder Datenschutzbedenken. So eine Brille könnte ja tatsächlich erkennen, wer vor mir steht, und mir den Namen verraten! Aus Datenschutzgründen ist das natürlich abzulehnen, ach nun ja, dann halt doch wieder „Wo wohnen Sie nochmal?“

Schwierig ist übrigens auch immer die Anwesenheitskontrolle der Konfirmandinnen und Konfirmanden im Gottesdienst. Unterschriftenkärtchen – na ja. Kann ja jeder unterschreiben oder auch mal für jemand anderen mit in die Kirche nehmen. Im Religionsunterricht der Kollegstufe ließ unser Lehrer immer eine Unterschriftenliste rumgehen; mein bester Freund richtete einen Unterschriftenservice ein, denn er konnte alle Unterschriften fälschen – außer meiner, blöderweise. Also blieb mir nichts anderes übrig, als in jeder Relistunde anwesend zu sein und dann natürlich konsequenterweise Pfarrer zu werden (jener Freund entdeckte übrigens in dieser Zeit seine jüdischen Wurzeln und wurde Rabbiner). Berufswahl wegen fälschungssicherer Unterschrift. Auch nicht ganz alltäglich. Aber zurück zu den Konfis: Eine Pfarrerin erzählte, sie hatten für jede/n Konfirmand/in eine Kerze, die im Gottesdienst angezündet wurde, wenn die entsprechende Person da war. Leider kamen die Konfis sehr schnell auf die Idee, einfach solidarisch alle Kerzen anzuzünden, ist ja auch viel viel schöner so und überhaupt.

Ach, wie schön wäre doch ein unkompliziertes kleines Kontrollsystem, das mir gleich eine Statistik auf den Tisch legt, welche Konfis wie oft anwesend waren, ob Herr Müller, Herr Dingsfelder und Herr Mayer-Oberpuchler wieder auf der Empore Karten gespielt haben und außerdem gleich, dass Tante Gunhilde in der dritten Bank rechts genau heute Geburtstag hat!

Offensichtlich gibt es Kolleginnen und Kollegen, die da keine Datenschutzbedenken kennen, wenn es um ihre Schäfchen geht. Schließlich hat schon Gott durch den Propheten Jesaja ausrichten lassen: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!“, also was soll das bisschen Namensgedönse von uns, Gott kennt uns sowieso alle, da darf der Pfarrer, die Pfarrerin auch ein wenig nachhelfen. Zum Beispiel, welch ein Traum, mit einer Gesichtserkennungssoftware. Und Hardware. Aber keine Brille, sondern gleich ein komplettes Verwaltungssystem: Hier werden die Gemeindeglieder sorgfältig einmalig geblitzdingst und registriert, anschließend kann der Große Computer jederzeit auf die Millisekunde genau das Durchschnittsalter der anwesenden Gottesdienstgemeinde, das Verhältnis von Männlein zu Weiblein oder natürlich auch die Anwesenheitsquote der armen Konfis unabhängig von ihren brennenden Kerzen ermitteln. Ist das nicht toll?

Ja, das ist nicht toll. Ganz ehrlich: Gemeinde und Gemeinschaft hin oder her, manchmal mag ich einfach auch nur für mich sein. Ohne Kontrolle. Beten, zur Ruhe kommen, und Gott weiß ja, dass ich da bin. Er kennt meinen Namen und braucht dafür keine Gesichtserkennungssoftware. Aber vielleicht hätte er mir – und den Kolleginnen und Kollegen in den Gesichtserkennungssoftwaregemeinden – mal ein besseres Namensgedächtnis verpassen können ...

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