Prüft alles und das Gute behaltet, schreibt Paulus. (1 Thes 5,21) Ich finde den Satz sonderbar. Auch, dass er zur Jahreslosung der evangelischen Kirche wurde. Jahreslosungen sind Überschriften für das ganze Jahr. 365 Tage lang alles prüfen und das Gute behalten zu müssen, ist sehr anspruchsvoll. Aber das ist nicht der eigentliche Punkt. Es ist der Satz selbst. Prüft alles und das Gute behaltet, klingt ein bisschen wie Rosinenpickerei. Und ein bisschen zu einfach. Als gebe es nur Gutes oder nur Schlechtes.
Wir leben in einer Welt, die sich nicht in Gut und Böse einteilen lässt, weil niemand nur gut oder nur schlecht ist. Wir sind fehlbar, gut und böse und auch alles zwischendrin. Wären wir immer gut, bräuchten wir keinen Gott. Und auch keine Barmherzigkeit. Aber so ist es nicht. Wir brauchen Gott. Und wir brauchen Barmherzigkeit. Seine und unsere. Im Umgang miteinander, in der Sprache, zu Hause, in der Politik. Doch nicht um jeden Preis. Und auch nicht stets im Sinne von Gnade vor Recht.
Beispiel AfD und das Verbotsverfahren. Soll das Bundesverfassungsgericht ein Parteiverbot prüfen? Würden damit nicht 20,8 Prozent der Wähler:innen mitverboten werden? Oder muss nicht das Grundgesetz der Maßstab sein? Die Menschenwürde. Die Gewaltenteilung. Die unabhängige Justiz. Die Demokratie. Die Antwort ist klar. Wir, die wir für den millionenfachen Judenmord verantwortlich sind, müssen uns gegen Rechtsextremismus wehren. Mit allen Mitteln, die der Rechtsstaat hat. Da kann es keine Barmherzigkeit geben. Und auch nicht Gnade vor Recht. Das ist die Folge, wenn man alles prüft (die Machenschaften der AfD) und das Gute behalten will (das Land mit seinen Werten).
Beispiel Israel und die Kritik. Der barbarische Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 und der Gaza-Krieg, der folgte. Die Bombardierung von Krankenhäusern. Das Aushungern der Bevölkerung, was ein Kriegsverbrechen ist (darum der internationale Haftbefehl gegen Netanjahu). Dürfen wir das kritisieren? Natürlich. Wir dürfen nie aufhören, die Hamas zu kritisieren und die Freilassung der Geiseln zu fordern. Wir müssen aber auch die israelische Regierung kritisieren (und den Haftbefehl vollstrecken, sollte Netanjahu nach Deutschland kommen). Der Angriff auf den Iran ändert daran nichts. Das ist kein israelbezogener Antisemitismus, sondern dient dem Schutz des humanitären Völkerrechts, dem wir verpflichtet sind. Das ist die Konsequenz, wenn wir alles prüfen (das Verhalten beider Seiten) und das Gute behalten wollen (die Menschlichkeit).
Paulus' Satz ist nicht etwa relevant, weil die Welt ist, wie sie ist. Sondern weil wir sind, wie wir sind. Wie die Welt ist, liegt an uns. Prüfet alles und behaltet das Gute heißt darum: Prüft euch und euer Handeln. Geht nicht den Weg des geringsten Widerstandes, entzieht euch nicht der Verantwortung. Pickt euch nicht die Rosinen heraus. Sie sind nicht „das Gute", wenn ihr den Rest vergesst. Darum ist auch die Forderung, die Kirchen sollen sich aus der Politik heraushalten, so absurd.
Prüft alles und das Gute behaltet, bedeutet, bei sich anzufangen. Nicht, indem wir bequem vom Sofa aus die Welt betrachten und schweigen, sondern, indem wir auf uns schauen und etwas tun; indem wir uns aufrichten und Haltung zeigen. Auch wenn das manchmal unbarmherzig wirkt. Auch wenn wir uns damit nicht nur Freund:innen machen: Das ist der Preis der Verantwortung – vor uns, der Welt und vor Gott, der uns zur Freiheit berief. (Gal 5,13) Diese Freiheit ist undenkbar ohne Verantwortung.
Der müssen wir uns nicht 365 Tage lang stellen, wie es die Jahreslosung nahelegt, Gott bewahre. Das schafft sowieso kein Mensch. Aber wenn es darauf ankommt, muss es sein. Rosinenpickerei ist da keine Option.