Wie neu geboren!

Wie neu geboren!
Elisabeth Erbe, pixelio.de
Das erfolgreiche Ja zur eigenen sexuellen Identität ist für viele Queers wie eine neue Geburt. Wolfgang Schürger denkt in der Woche des Sonntags, der die neue Geburt in seinem Namen trägt, über das Verhältnis von christlichem Glaube und sexueller Identität nach.

Quasimodogeniti, so heißt im liturgischen Kalender der Sonntag, mit dem diese Woche begonnen hat: "Wie die neu geborenen Kindlein". Die Bezeichnung stammt aus der Antiphon, dem Kehrvers, des liturgischen Eingangspsalms (Link zu mehr Infos). Im deutschen Sprachraum wird der Sonntag auch als Weißer Sonntag bezeichnet. In der römisch-katholischen Kirche ist er der klassische Tag der Erstkommunion (in weißer Kleidung), die Bezeichnung geht jedoch eigentlich auf die weißen Gewänder der Neugetauften in der frühen Christenheit zurück. Getauft wurde am Ostersonntag, und die Täuflinge legten die neuen, weißen Kleider erst am nächsten Sonntag wieder ab. Durch die Taufe waren sie nämlich neu geboren worden, frei geworden wie kleine Kinder.

Alte Taufliturgien, aber auch die Lesungen des Weißen Sonntags stellen diese Freiheit der Kinder Gottes in den Mittelpunkt (z.B. die Passage des 1. Petrusbriefes, aus der die Antiphon des Eingangspsalms stammt: 1. Petr. 2,1-5). Dem Gott anzugehören, der in Jesus von Nazareth Mensch wie wir geworden ist und alle Tiefen menschlicher Existenz kennt, das war und bleibt eine Neugeburt, die von allem Zwang zur Selbstrechtfertigung und Selbstdarstellung befreit.

Sebastian Klee beschreibt in seinem Buch "Endlich ich. Ein transsexueller Pfarrer auf dem Weg zu sich selbst" (München, Claudius, 2019), wie ihn sein christlicher Glaube auf dem Weg zur transidenten Neugeburt gestärkt und getragen hat: „Das Christentum ist eine Religion, die sich mit den Geschlagenen und den Schwachen verbündet und solidarisiert“, sagt er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk kurz nach der Veröffentlichung seines Buches, „exemplarisch und in der letzten Konsequenz durchgezogen in der Person Jesu Christi, der bis zum Tod sich da hineinbegeben hat. Das hat mir viel Halt und Trost gegeben, weil ich mich darin wiederfinde zu sagen: Ich muss nicht der strahlende Held sein, der sich sicher sein kann, dass Gott auf seiner Seite steht. Sondern ich kann mir sicher sein: In dem, was ich auch an Schwierigem erlebt habe, ist Gott trotzdem dabei.“ Ich kann das gut nachvollziehen, denn auch in meinem Coming Out als schwuler Mann waren diese Identifikation mit dem leidenden Christus und die Hoffnung auf das neue Leben, das sich mit Ostern verbindet, ein ganz wichtiger Halt.

Wie gut, dass in den letzten Jahrzehnten an immer mehr Orten queer-freundliche Gemeinden zu finden sind, in denen wir queere Christ*innen Wege zu einem selbstbewussten Leben finden können - in der Gewissheit des Propheten Jeremia: „Ich kannte dich, noch ehe ich dich im Mutterleib gemacht hatte.“ (Jer 1,5)!

Karl Adolf Groß hatte nicht so viel Glück: Ende der 1920er Jahre outet sich der evangelische Pfarrer in Ravensburg vor seinen Dienstvorgesetzen als homosexuell. Es folgen menschenverachtende ärztliche Gutachten zur Dienstfähigkeit des Theologen, Erpressungsversuche und schließlich der Druck der Kirchenleitung auf Groß, seine Entlassung aus dem kirchlichen Dienst zu beantragen. Das neue, mit sich selbst identische Leben beginnt für Groß jenseits der Kirche in Berlin. Dort gründet er den Verlag "Der Freie" und gibt die gleichnamige Schriftenreihe heraus - mit dem bezeichnenden Untertitel "Blätter für freie Menschen und solche, die es werden wollen". Björn Mensing, Pfarrer an der Versöhnungskirche in Dachau, hat anlässlich der Todesstunde Jesu am Karfreitag 2021 an Karl Adolf Groß erinnert. 1937 nämlich holt diesenseine württembergische Vergangenheit ein. Er wird wegen des berüchtigten Paragraphen 175 verhaftet, verhört und zu einer hohen Geldstrafe verurteilt.  Als Groß zum zweiten Jahrestag von Martin Niemöllers Verhaftung kritische Predigtzitate des im KZ Sachsenhausen Eingesperrten in einer Auflage von einer halben Million auf Kunstpostkarten druckt und in ganz Deutschland verteilt, wird er am 20. August 1939 erneut verhaftet. Er kommt zunächst ins KZ Sachsenhausen, ab September 1940 nach Dachau, wo er viereinhalb lange Jahre bis zur Befreiung am 29. April 1945 bleibt. Knapp 10 Jahre später stirbt Karl Adolf Groß nur 62-jährig an den Spätfolgen der KZ-Haft in München.

Auch Karl Adolf Groß findet in der Identifikation mit dem leidenden und auferstandenen Christus den Halt und die Freiheit, die ihn durch all' die schweren Jahre tragen. Am 29. März 1944 schreibt er in sein geheimes Tagebuch: "In Christus gleichen wir dem Flieger, der im Flugzeug sich in die Luft erhebt, frei von der Erdenschwere. [...] So sind wir zwar in uns selbst im irdischen Kerker, aber 'in Christus' frei von allen Fesseln, sie mögen Schmerz heißen oder Tod, Sünde oder Schuld."

(Alle Texte des Gottesdienstes sind auf der Webseite der Versöhnungskirche veröffentlicht.)

Björn Mensing erinnert in seiner Karfreitagspredigt in Dachau an die Schwere der Schuld, die Kirchen in Deutschland auf sich geladen haben dadurch, dass sie Queers wie Karl Adolf Groß die Anerkennung als geliebte Kinder Gottes und die Unterstützung auf dem Weg zur Wiedergeburt als von Gott angenommene Freie verweigert haben. Seine Vergebungsbitte ist ein bewegender Moment dieses Gottesdienstes. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz der römisch-katholischen Kirche hat angesichts der jüngsten Stellungnahme der Glaubenskongregation zu Homosexualität vom 15. März 2021 zwar nicht ausdrücklich um Vergebung gebeten, doch seine Worte sind deutlich: Er teile, sagt er in einem Interview auf der Webseite des Bistums, das Unverständnis über die Aussage der Glaubenskongregation, die pastorale Praxis werde über solch ein Votum hinweggehen. "Wir brauchen eine Neubewertung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und eine Weiterentwicklung der kirchlichen Sexualmoral. (...) Um den besonderen Wert der Ehe herauszustellen, müssen nicht andere Formen von partnerschaftlichen Lebensgemeinschaften abgewertet werden, die es ja offensichtlich auch gibt." Der Limburger Bischof versteht es als Teil seines Hirtendienstes, queere Menschen ernstzunehmen und zu begleiten, "die ihre Partnerschaft vor Gott bringen möchten, ihren Glauben vertrauensvoll in der Kirche leben und die sich zurückgestoßen fühlen". Eine Neugeburt von Queers in "gelingenden Beziehungen" - sie scheint auch in der römisch-katholischen Kirche nicht mehr aufzuhalten.

 

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