So normal

So normal
Foto zeigt verschiedene, über einander liegende Kaugummis
Foto: Rainer Hörmann
2021 geht's grad so weiter wie 2020: alles ziemlich unnormal, aber wir strengen uns an, alles normal erscheinen zu lassen. Etwa so wie ... Kaugummikauen.

"Für uns in Frankfurt ist Homosexualität so normal wie Kaugummikauen!" Der schönste Satz aus dem Interview mit Thorsten Latzel fehlt in der schriftlichen Wiedergabe von evangelisch.de. Man muss ihn im Video nachhören (Link zu YouTube; ab 13. Min.) oder auf queer.de nachlesen.

Der Kandidat für das Amt des Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland wurde im langen Interview unter anderem, aber letztlich zwangsläufig zu seinem Bruder Olaf Latzel gefragt. Der war Ende November letzten Jahres "wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden, umgewandelt zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 90 Euro". Aus Sicht des Gerichtes hatte Olaf Latzel in einem online verbreiteten "Eheseminar" zum Hass gegen Homosexuelle aufgestachelt. Gegen das Urteil hat er Berufung eingelegt, die Bremische Kirche hat ihn seines Dienstes enthoben, daran gibt es Kritik, u.a. von neun Bremer Pastoren, die von einer "unchristlichen Hetze" gegen Olaf Latzel sprechen. (Berichte auf evangelisch.de hier oder hier)

Erfreulich klare Worte findet nun sein Bruder Thorsten, der - menschlich anständig - nicht über ein Mitglied seiner Familie öffentlich sprechen will. Kirchlich und theologisch bezieht er jedoch Position: "Uns beide trennen theologisch Welten." Wenn Menschen, aus welchen Gründen auch immer, diskriminiert würden, sei das "inakzeptabel". "Unsere Kirche steht genauso wie ich selbst klar für Wertschätzung, Vielfalt und Freiheit. Das schließt die freie sexuelle Orientierung eines Menschen ein." Und in Frankfurt, wo Thorsten Latzel die Evangelische Akademie leitet, da sei Homosexualität so normal wie Kaugummikauen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das Bild vom Kaugummikauen ganz glücklich finde. Aber nun, wo das neue Jahr ansteht, kann man ja auch einen guten Vorsatz draus machen: Eigentlich sollte in ganz Deutschland (und darüber hinaus) Homo-, Bi-, Trans-, Intersexualität "normal" sein bzw. werden. Denn, dass es das nicht ist, zeigen ja die beiden unterschiedlichen Haltungen der Brüder. Oder die jüngsten Äußerungen vom katholischen Bischof Stefan Oster und und und. Auf manchem Kaugummi kaut man länger rum als nötig!

Abgesehen von der grundlegenden ewigen Frage, was "normal" ist und wer darüber entscheidet, müssen wir uns fürs kommende Jahr leider gar keine Sorgen machen, dass uns Anfeindungen und Hetze erspart bleiben könnten. Darum sollten wir vielleicht auch gar nicht so viel Energie ins Normalseinwollen investieren und den Glauben an Wunder nicht ganz verlieren.

Gerade die Corona-Zeiten sind ein gutes Beispiel dafür, wie viel Kraft es kostet, Normalität vorzugaukeln, wo keine ist. Welch Aufwand, so zu tun, als wäre nichts - z.B. am Arbeitsplatz, wo man funktionieren muss, egal wie man sich fühlt, oder im Umgang von Eltern mit Kindern, für die sie sich geregelte Verhältnisse wünschen, während sich in Kitas und Schulen permanent die Regeln ändern. Den Schein zu wahren, das kann Körper wie Seele gleichermaßen belasten. Und hat eine Entsprechung in den meist schwierigen Zeiten des Coming-outs, in denen man sich und den anderen "wie immer" erscheinen will, aus Angst vor negativen Reaktionen. Das ist anstrengend und es braucht seine Zeit, bis man merkt, dass "nicht so zu sein" wie eine heteronormativ geprägte Gesellschaft es einem vermeintlich vorgibt, ziemlich okay ist.

Das neue Jahr wird aufgrund der Pandemie-Situation anstrengend genug. Wenn möglich, sollten wir nicht allzu viel Energie fürs Normalseinwollen aufwenden, sondern tatsächlich, wo und wie auch immer - in der Kirche und im Alltag - die Nähe, die Gemeinschaft mit Menschen suchen, die wie Thorsten Latzel sich offen an unsere Seite stellen. Jene unterstützen, die uns unterstützen, weil sie uns so sein lassen, wie wir sind. Am Vergleich mit dem Kaugummikauen können wir im neuen Jahr ja gemeinsam noch ein bisschen arbeiten ...

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