Die Frage der Woche, Folge 89: Passt die Theologie zum Reformationsjubiläum?

Die Frage der Woche, Folge 89: Passt die Theologie zum Reformationsjubiläum?
Es knirscht zwischen Thies Gundlach und namhaften Theologen. Hat die Theologie das Reformationsjubiläum "verstolpert"?

Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und -Nutzer,

die deutsche protestantische Theologie streitet sich gerade heftig, weil sie unterschiedliche Perspektiven auf das Reformationsjubiläum haben. Erst beklagte Thies Gundlach, theologischer Vizepräsident des EKD-Kirchenamts, in "Zeitzeichen" (3/2017) den "Ausfall perspektivischer Theologie". Viele theologische Wissenschaftler hätten sich "aus der konstruktiven Diskussion um das Jubiläum abgemeldet", schreibt Gundlach, und "eine Art grummeliger Meckerstimmung gegenüber allen Aktivitäten der EKD und ihrer Gliedkirchen und eine Art besserwisserische Ignoranz gegenüber den Anliegen von Bund, Ländern und Zivilgesellschaft" an den Tag gelegt.

Gundlach stört sich aber nicht nur am Widerstand der Theologen gegen die Umsetzung der Reformationsfeiern. In "Zeitzeichen" fordert er auch, dass die Theologie das Jubiläum nutzen solle, "um einer distanzierten, vielleicht sogar skeptischen Gesellschaft die eigene Relevanz sichtbar und verständlich zu machen".

Die angesprochenen Theologen wehren sich (beim epd und hier bei Matthias Kamann in der "Welt"). Gundlach gehe inhaltlich nicht auf die Kritik der Theologen ein (Graf), Theologie zum Reformationsjubiläum könne überhaupt nur differenziert sein (Kaufmann), die EKD vertrete eine "eigenartige Neufassung des Bündnisses von Thron und Altar" (Wendebourg), und Gott käme in den vielen Aussagen zu den Jubiläumsfeiern gar nicht richtig vor.

Für existenzielle Fragen ist Theologie kaum noch da

Ich glaube, dieser letzte Punkt ist der wesentliche Dreh- und Angelpunkt, an dem sich die Geister scheiden. Die EKD hat für dieses 500. Reformationsjubiläum das Motto ausgerufen: "Gott neu..." vertrauen/ entdecken/ begegnen und so weiter. Das ist eine Herausforderung, die nicht aus der wissenschaftlichen Theologie geschafft werden kann. Denn eine präzise, textkritische, geschichtsbewusste Auseinandersetzung mit Glaubenssätzen und Bibeltexten ist keine emotionale Ansprache der spirituellen Seele. Wir leben nicht mehr im Jahr 1517, als Luthers revolutionäre Erkenntnis, dass Gott bedingungslos gnädig ist und Erlösung kein Ergebnis irdischer Wohltaten ist, für fast alle Menschen noch wirklich etwas bedeutete. Wer damals in Angst vor dem strafenden Gott lebte - und das waren alle Christen! - konnte sich freibeichten oder freikaufen, aber ohne Sünde zu sein, ging höchstens im Kloster. Die geistige Freiheit, die Luther diesen Menschen brachte, war die Freiheit von der Angst ewiger Höllenqualen.

Davor fürchtet sich aber heute fast niemand mehr. Um existenzielle Fragen zu beantworten, brauchen moderne Menschen die Theologie nicht unbedingt. Hart gerungen wird zwar um Fragen wie Homo-Ehe und Familienbilder, aber erstens hat die (evangelische) Kirche es geschafft, auch dort eine Heimat für jeden zu werden (wenn auch nicht überall). Und zweitens gibt es Antworten auf Lebensfragen, die sich oft reduzieren auf "Darf ich das?", auch außerhalb der Kirche und ihren theologischen Begründungen. Wer sich in der Kirche und im christlichen Glauben nicht wiederfindet, kann seine Antworten woanders suchen - auch das macht eine vielfältige, freie Gesellschaft aus. (Das gefällt zwar Hardcore-Christen nicht, die die Erlösung solus Christus allen anderen Menschen verordnen wollen statt nur dazu einladen, aber die Realität sieht nunmal anders aus.)

Luthers Theologie war nicht theoretisch, sondern hat die Lebenswelt von Millionen Menschen unmittelbar verändert. Diesen Platz als lebensweltbestimmenden Erkläransatz hat Theologie heute einfach nicht mehr. Deshalb ist sie zur Erklärerin der Vergangenheit geworden, und das gilt auch für die Beschäftigung mit Luther. Ich bin kein Theologe und kein Lutherforscher, finde aber Luthers "Von der Freiheit eines Christenmenschen" bis heute klar und inspirierend. Die Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung, die Luther darin beschreibt, und die persönliche Verantwortung, die sich daraus ergibt und der sich niemand entziehen kann, passen heute immer noch richtig gut.

Nur: Um das zu verstehen, braucht man überhaupt erstmal ein Gottesbild. Aber wer hat sein grundlegendes Gottesbild aus der wissenschaftlichen Theologie? Das werden die allerwenigsten Christen sein. Natürlich hat die Theologie dort mittelbaren Einfluss, denn die Inhalte in Religions- und Konfirmandenunterreicht werden ja nicht aus Talar-Ärmeln geschüttelt. Aber wenn es uns als Kirche darum geht, im Reformationsjubiläumsjahr Menschen dazu zu bewegen, neu über Gott nachzudenken, ist die theologische Wissenschaft aus meiner Sicht der falsche Ansprechpartner.

Thies Gundlach fordert von den Wissenschaftlern eine "gegenwartsbezogene Interpretation des Jubiläums" und "Zuarbeit für große Glaubensentfaltung". Aber ob theologische Wissenschafter die Frage "Was ist Gott?" so beantworten können (oder wollen!), dass daraus ein großer gesellschaftlicher Sog entsteht, bezweifle ich. Das ist eine Frage, die stattdessen in ganz viele, viele kleine Gespräche in diesem Jahr gehört. Die Theologie kommt bei der Diskussion der Antworten wieder ins Spiel. Geben müssen die Antworten aber andere - nämlich alle.

Ich wünsche euch und ihnen ein gesegnetes Wochenende und viel Spaß beim Feiern des Reformationsjubiläums!

Update (8. März 2017): Im Nachgang zu meinen Gedanken hat sich Ulrich Körtner gemeldet, der seine Kritik noch einmal bekräftigte und auf seine erste Reaktion auf die Kritik (hier auf idea) verwies: Er sei in seinen Publikationen durchaus auf die aktuelle Deutung des Reformationsjubiläums eingegangen. Thies Gundlach spare "die theologischen Sachfragen" aus, die EKD ignoriere Beiträge von Theologen, die "offenbar nicht ins EKD-Konzept passen". Körtner legte außerdem Wert daraug, "dass Herr Kaufmann, Frau Wendebourg, Herr Graf und ich keine geschlossene Fraktion bilden und im einzelnen durchaus unterschiedliche Positionen vertreten."


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