Zentrales Merkmal der digitalen Medienwelt: Auch wenn das Medienzeitbudget der meisten Menschen nicht ansatzweise ausreicht, um alle interessanten Serienstaffeln und Dokus ansehen, Podcasts hören und natürlich Longreads lesen zu können, wächst der Berg der Medieninhalte immer noch schneller. Und zwar nicht nur, weil ältere Inhalte einstweilen abrufbar bleiben und womöglich nie mehr verschwinden, sondern vor allem durch erhöhten Ausstoß.
Die tagesaktuell weitestverbreitete Medienmeldung entstammt im Original Berichten des Wall Street Journal und wurde im deutschen Sprachraum u.v.a. von faz.net, heise.de, auf der SZ-Medienseite und im Standard verbreitet: Auch Facebook hat nun die Produktion eigener fiktionaler Fernsehserien angekündigt.
Was genau und wieviele Serien, steht in noch nicht in den Meldungen. Dass es effizienter ist, solche Meldungen seriell rauszulassen, weil die Weiterverbreitungsmedien dann jede Fortsetzungs-Info einzeln melden, weiß Facebook natürlich. Teuer sollen die einzelnen Folgen jedenfalls sein (DPA: "Facebook wolle bis zu drei Millionen Dollar pro Serien-Folge ausgeben - das liege im Bereich sehr hochwertiger Fernsehproduktionen, hieß es unter Berufung auf informierte Personen ..."). Und natürlich den nurmehr viertelgeheimen Facebook-Standards entsprechen (WSJ: "programming ... that avoids politics, news, nudity and rough language"). Wahrscheinlich werden viele Nutzer, die so etwas gesehen haben, anschließend auch in ihren eigenen Postings Politik, Nacktheit und rohe Sprache vermeiden. Dann müssten die Arvato-Putztrupps weniger löschen und könnten gründlicher prüfen oder eingespart werden.
Was die DPA als Kontext anbietet: Nun dürfte
"Facebook sowohl mit klassischen Fernsehsendern um als auch mit Streaming-Diensten wie Netflix oder Amazon um Werbemittel konkurrieren. Auch Apple experimentiert gerade mit exklusiven Inhalten wie der Sendung 'Planet of the Apps' ...".
Was sich auch als Kontext eignen könnte, wenn man sich nicht als reiner Weiterverbreitungs-Dienstleister versteht: dass die Zahl der US-amerikanischen Fernsehserien sich bereits von 2010 bis 2016 auf 455 Serienstaffeln pro Jahr mehr als verdoppelt hatte (dwdl.de Ende 2016 unter Berufung auf die Fox-Networks, von denen auch eine Grafik gezeigt wird). Dieses Tempo nimmt also zu, die US-amerikanische Prägung der Welt dürfte rasant zunehmen (siehe dann auch Altpapierkorb).
[+++] Das ist eine (kleine) Überraschung: Deutschlands Zeitungslandschaft bekommt ein neues,
"wenn auch kleines, Importprodukt, das publizistisch rechts von der FAZ angesiedelt ist",
nämlich ein speziell für deutsche Leser ausgerichtetes E-Paper der Neuen Zürcher Zeitung. Es soll an den bereits bestehenden Deutschland-Newsletter des schweizerischen Blatts anknüpfen. Das berichtet die Süddeutsche heute ausführlich, wohl auch, weil ein ehemaliger Mitarbeiter führend beteiligt ist:
"Geplant wird für den Anfang offenbar mit drei Mitarbeitern in Berlin, die auch für das Hauptblatt schreiben sollen. Bislang ist nur bekannt, dass Marc Felix Serrao, zuvor Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, das Team leiten soll und im Juli antritt."
Beim Berliner Tagesspiegel war Serrao übrigens auch mal. Das neue Angebot soll offenbar etwas kosten, auch wenn die SZ den Preis nicht nennt. Und es soll sozusagen genau den digitalen Markt, auf dem sich inzwischen viele Verlage um zumindest ein bisschen zahlende Kunden bemühen, bereichern:
"Tatsächlich aber sorgt die digitale Welt dafür, dass der deutschsprachige Raum immer mehr zu einem publizistischen Konkurrenzmarkt wird - Titel aus Österreich und der Schweiz muss man nicht mehr mühsam an einem der wenigen Kioske erwerben, die sie im Sortiment haben. Alles ist nur noch einen Klick entfernt. Digitale Ausgaben brauchen keinen herkömmlichen Vertriebsapparat und ermöglichen es, dass etablierte Marken mit völlig neuen Produkten in Erscheinung treten. So startete etwa der Spiegel Mitte Mai sein allabendliches Spiegel Daily, der Versuch einer digitalen Abendzeitung. Ob dieses Angebot tatsächlich auf Interesse stößt, ist bislang nicht bekannt, der Spiegel nennt keine Zahlen."
Inhaltliche Belebung könnte der deutsche Zeitungsmarkt, dessen wichtige Akteure derzeit ziemlich oft dieselben Themen aus ähnlichen Blickwinkeln betrachten, jedenfalls gebrauchen.
Am Wochenende hatte Springers Welt am Sonntag (online in ihrem kostenpflichtigen Segment) einen Longread des Investigativjournalismus-Veteranen Seymour Hersh über den Giftgas-Einsatz in Syrien gebracht (Altpapierkorb gestern). Darin widerspricht Hersh
"der breiten Auffassung, nach der die syrische Regierung diesen tödlichen, international geächteten Kampfstoff gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hat",
schreibt die TAZ nun. Und widerspricht wiederum Hersh, indem sie rhetorisch die
"Gretchenfrage: Muss man einem preisgekrönten Investigativjournalisten alles abnehmen – auch wenn er keine einzige überprüfbare Quelle vorweisen kann?"
stellt. Die TAZ jedenfalls glaubt Hersh nicht, vor allem, weil "er inzwischen überhaupt kein Medium im angloamerikanischen Raum mehr gefunden hat, das seinen Text drucken wollte". Allerdings müsste dazu gesagt werden, dass im (gestern hier verlinkten, auf englisch kostenlosen) Begleittext Dirk Laabs' zu genau diesem Punkt schrieb:
"Für seine letzten Geschichten – über Syrien, Osama Bin Laden – wurde Hersh, wie schon oft, hart kritisiert. Er würde zu weit gehen, zitiere zu viele anonyme Quellen. Doch das ist die Crux: Kein Informant, der aktiv in einer Regierung arbeitet, kann allerdings unter seinem Namen geheime Informationen preisgeben, ohne sich zu gefährden – das ist in Deutschland nicht anders. Hersh hat sein Quellen gegenüber der Welt am Sonntag offengelegt. In seinem Text bleiben sie anonym. Die Redaktion dieser Zeitung konnte sich selbst einen Eindruck vom Thema verschaffen, weil sie mit der zentralen Quelle von Hersh gesprochen hat."
Das heißt, dass die TAZ den WAMS-Beteuerungen nicht glaubt. Ist Hersh bei Springer gelandet, weil ihm im englischen Sprachraum niemand mehr glaubt? Oder können in der internationalen Trump-Brexit-usw.-Gemengelage deutsche Medien genauso relevant sein, und manchmal mutiger?
Auch solche Diskussionen machen journalistische Medien und sogar gedruckte Zeitungen interessant. Es wäre gut, wenn diese deutsche Seymour-Hersh-Diskussion weitergeführt wird und vielleicht sogar die von Hersh aufgeworfenen Fragen beantwortet werden können.
[+++] Noch was Neues in Deutschland, das damit sogar ausdrücklich weltweit führend wird:
"Als erstes Parlament weltweit hat sich der Bundestag hinter die Forderung von Reporter ohne Grenzen (ROG) gestellt, einen Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen für den Schutz von Journalisten zu berufen",
meldeten die ROG am Freitag. Was so ein Sonderbeauftragter denn tun könnte, hat nun Wolf-Dieter Vogel für die TAZ ROG-Chef Christian Mihr gefragt. Antwort: Der Beauftragte wäre vermutlich in Mexiko (wo gerade der sechste Journalist im laufenden Jahr ermordet aufgefunden wurde, Standard) und würde die Regierung zu überzeugen versuchen, dass Journalistenmörder vor Gericht gestellt werden.
Zwar hat es der Bundestag bei der Forderung be- und die Kosten der UNO überlassen, wie die Grüne Tabea Rößner beklagt, aber eingerichtet werden dürfte der Posten. Wobei es "noch mindestens zwei Jahre dauern (wird), bis die Stelle eingerichtet wird". Der ebenfalls erwähnte Deniz Yücel braucht hoffentlich nicht mehr davon zu profitieren .
[+++] Damit zu Mesale Tolu, der ebenfalls in der Türkei, "nun mit ihrem zweijährigen Sohn in der Frauenhaftanstalt im Westen von Istanbul", eingesperrten Journalistin.
Über sie berichtet das deutsch-/ türkischsprachige Portal gazete.taz.de. Der Vorwurf gegen sie laute "Mitgliedschaft und Propaganda einer Terrororganisation" und stütze sich "auf die Aussagen eines 'anonymen Zeugen'". Davon, dass sie (anders als Yücel) nur die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, hat Tolu einstweilen nichts. Aber ihr Vater hat dadurch Nachteile:
"Vier Tage pro Woche verbringe er in Anstalten und Ämtern, erzählt seine ältere Tochter Gülay: 'Weil Meşale deutsche Staatsbürgerin ist, braucht er für jeden Besuch eine neue Genehmigung vom Ministerium. Am ersten Tag beantragt er die Genehmigung, am zweiten Tag holt er sie ab, am dritten besucht er seine Tochter in der Haftanstalt Bakırköy und am vierten seinen Schwiegersohn in der Haftanstalt Silivri.'"
+++ Die Zeiten, in denen eine US-amerikanische Prägung der Welt uneingeschränkt begrüßt werden konnte, sind, falls es sie je gab, vorbei. Z.B.: "Three prominent journalists at CNN resigned on Monday after the cable news network was forced to retract and apologize for a story on its website involving a close ally of President Trump. The article — linking Anthony Scaramucci, a hedge-fund manager and Trump confidant, to a Russian investment fund supposedly being investigated by the Senate — was removed from CNN.com late last week after the network decided it could not fully stand by its reporting" (New York Times). Ein "regular thorn in the Trump administration’s side" scheint sich aufzulösen ...+++
+++ Läuft schon langsam der Bundestags-Wahlkampf an? Dafür spräche nicht nur, wie sehr, sehr gründlich auf einmal Martin-Schulz-Halbsätze analysiert werden. Sondern auch Angela Merkels umso feiner gesetzte Schritte deuten darauf. Ihre vergleichsweise sehr inhaltsschwere neue Aussage zur "Ehe für alle" machte sie auf einer Veranstaltung der Gruner+Jahr-Zeitschrift Brigitte (Tagesspiegel), die vielleicht als Medium nicht mehr vor Relevanz überbordet, aber ein Händchen fürs Veranstalten besitzt. +++ Und schon mal angekündigt wurde, dass Merkel im August, genau einen Monat vor der Wahl, die Computer- und Videospielemesse Gamescom in Köln eröffnen will, die größer denn je werden soll (futurezone.at). +++
+++ Deutschsprachige Zeitungen (und Onlineauftritte) gibt es auch in Polen, Rumänien und weiteren osteuropäischen Staaten.
Der Tagesspiegel berichtet von einer Tagung, zu der Vertreter von Medien wie dem Baltikum-Blatt, Karpatenblatt und Allensteiner Nachrichten nach Berlin kamen. Festgestellt wurde, dass die Mitarbeiter "verstärkt in die Sozialen Netzwerken gehen (müssten). Wie mit dem 'Mind_Netz', ein übergreifendes Social-Media-Projekt der Medien der deutschen Minderheiten, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Auslandsbeziehungen (IfA). 'Mind_Netz' informiert und vernetzt deutsche Minderheiten und alle, die sich für eine alternative Sicht auf das aktuelle Zeitgeschehen in den osteuropäischen Ländern, die deutsche Sprache und Minderheiten interessieren. Die Redaktion scannt täglich mehr als 40 Onlinemedien, verbreitet sie auf Facebook, Twitter, YouTube..." +++
+++ Das NetzDG (siehe Altpapier gestern) in seiner neuesten Form "höchst problematisch" und weiterhin "nicht verfassungskonform" findet der Medienrechtler Tobias Gostomzyk, der es zuvor begutachtet hatte, im Welt-Interview. Es gebe aber auch Verbesserungen, z.B., "dass definitive Risiken für die Meinungsfreiheit teilweise gesenkt" wurden. "Dem Beschluss im Bundestag am 30. Juni steht aber offenbar nichts mehr im Wege", glaubt Christian Meier. +++ "Trotz Nachbesserung problematisch" finden auch die ROG das Gesetz. +++
+++ Dauerbrenner Antisemitismus-Doku, ein Nachtrag zur ebenfalls gestern hier erwähnten Kritik am "Faktencheck" des WDR: "Die in Jerusalem ansässige Nichtregierungsorganisation NGO Monitor hat den WDR zum 'sofortigen Widerruf' eines aus ihrer Sicht falschen Faktenchecks auf seiner Website aufgefordert". Das meldete die Jüdische Allgemeine via EPD bereits am Sonntag und steht heute auch auf der FAZ-Medienseite. Hier geht's zur englischsprachigen ngo-monitor.org-Stellungnahme. +++
+++ In Bad Hersfeld fiel eine zumindest theoretisch weitreichende Amtsgerichts-Entscheidung zum Datenschutz in punkto Whatsapp (Standard). +++
+++ Der neue Posten des in den Ruhestand getretenen Bayerischen Fernseh-Chefredakteurs Sigmund Gottlieb bei einer "internationalen strategischen Kommunikationsberatung" war schon Altpapier-Thema (und mit der Frage verknüpft, ob Führungskräften des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht vertraglich untersagt werden könnte, ihre "Erfahrung an der Nahtstelle zwischen Wirtschaft, Politik und Medien" in kommerzielle Beratungsagenturen "einzubringen", kaum dass sie ihre Pensionsansprüche zu genießen beginnen). Auf welchen Kumpel vom ZDF Gottlieb bei CNC trifft, weiß die Medienkorrespondenz. +++
+++ "Das Prinzip des digitalen Bierdeckels", das der Bezahldienstleister Laterpay bei digitalen Spiegel-Medien anbrachte, sei erfolgreicher als berichtet wurde, schreibt meedia.de. +++
+++ Auch gern vermeldet: der Plan einer deutschen Produktionsfirma, in den nächsten Jahren den tschechoslowakischen Fernseh-Klassiker "Pan Tau" "als fantastische Familienserie" neu zu verfilmen. +++
+++ Auf der FAZ-Medienseite beglossiert Michael Hanfeld problematische Lösch-Initiativen auf Twitter, die sowohl zu weit rechts als auch zu weit links stehende Tweets sowie solche, die das nur vermeintlich sind, treffen. +++ Und ums Filmfest München geht's: "Das Festival folgt längst einer inneren Dramaturgie. So verbindet am Freitagabend eine unsichtbare West-Ost-Achse den Empfang der ARD-Produktionstochter Degeto im Schwabinger Kaisergarten mit der 'Caster Night' bei Feinkost Käfer. Für Schauspieler kommt es darauf an, zum richtigen Zeitpunkt vom einen zum anderen Branchentreff zu wechseln. Wer zeitig den Auftritt des Großauftraggebers Degeto verlässt, landet zu früh bei den Casting-Agenten, und das wirkt verzweifelt. Wer zu spät kommt, erhält weniger Aufmerksamkeit ...", schreibt Jörg Seewald. +++
+++ "Ein Hoch aufs Sommerloch" ruft dann noch Tilmann Gangloff im epd medien-Tagebuch aus, und zwar wegen der restaurierten "Tatort Classics" des RBB-Fernsehens. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.