Wahlkampf ist auch nur Fußball

Wahlkampf ist auch nur Fußball
Die Inszenierungs-Versessenheit des "politisch-medialen Komplexes" spült gerade den WM-Helden von 1990 nach oben. Die Litauen-Koalition zum TV-Duell im September kann sich nicht durchsetzen. Und Facebook tanzt auf allen Eiern der Welt. Die Fragen sind: wie ernsthaft, und warum muss so etwas wie die "Facebook-Files" geleakt werden? Außerdem: Spiegel Dailys Geschäftsmodell und Michael Hanfeld so ausgelassen wie vielleicht noch nie.

Einst wurden immerzu, auch in allen Medien, Goethe und/ oder Schiller zitiert. Später wurde eine Zeitlang gerne Theodor Adorno zitiert.

Wer ihnen tagesaktuell nachfolgt: Andy Brehme. Dessen "legendärer" Spruch, den ZDF-Moderator Christian Sievers zum Einstieg ins gestrige "heute-journal" mit "Haste was am Fuß, dann haste was am Fuß" paraphrasierte, weil er im Original ein- bis zweimal das Wort "Scheiße" enthielt, kommt auch im heutigen SZ-Meinungsseiten-Kommentar von Detlef Esslinger zu Ehren. Es geht ebenfalls um die gestern wohl inszenatorisch misslungene Presseveranstaltung der SPD:

"Andreas Brehme fällt einem ein, der ehemalige Fußballspieler, mit seiner groben, also ewigen Weisheit: 'Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß.' Am Montag zeigte sich, in welch labilem Zustand die Partei ist. Denn worüber wird seit Montagmittag geredet? Über die Vorstellungen der Sozialdemokraten zu Bildung, Familie, Arbeitsmarkt, Gesundheit, Steuern und Renten? Am Morgen hatte die SPD ihre Präsentation erst ab- und dann wieder zugesagt. Der politisch-mediale Komplex weicht in solchen Fällen grundsätzlich nicht auf eine Debatte über das Für und Wider einer 'Nährwert-Ampel' (Seite 36 des Programmentwurfs, Zeile 1481) aus. Vielmehr hebt er, zehn Minuten nach dem Auftritt von Generalsekretärin Katarina Barley, ein 'News-Spezial' ins Programm eines Nachrichtensenders, zum Thema 'Chaos in der SPD' ...".

Gewiss ist die SPD gerade nicht in guter Form. Auf Augenhöhe mit dem vermeintlichen Qualitätsjournalismus, der in seiner von der eigenen Fußballspiel-Berichterstattung (mit den Kurzinterviews am Spielfeldrand) geprägten Inszenierungs-Versessenheit Presseveranstaltungen und das, was der "politisch-mediale Komplex" hinterher drüber sagt und schreibt, mit Relevanz verwechselt, ist sie allemal.

Kanzlerkandidat Martin Schulz ließ sich übrigens sowohl vom ZDF-Powermoderator Sievers als auch unmittelbar im Anschluss von der ARD-"Tagesthemen"-Moderatorin geradezu inquisitorisch ziemlich identische Fragen zur schlechten Inszenierung der gestrigen SPD-Veranstaltung stellen (darunter die, warum er selber dabei gar nicht anwesend war).

Nachtrag um 10.20 Uhr: siehe aber auch Tagesspiegel!!

[+++] Weil Schulz sich immer und überall interviewen lässt und Angela Merkel erst recht interviewt würde, wenn sie es zuließe, hat sich eine gelb-grün-rote, ähm ... Litauen-Koalition aus FDP, Grünen und der Linken zusammengefunden und gemeinsam einen "eindringlichem Appell, die Oppositionsparteien nicht zu benachteiligen" (Frankfurter Rundschau), an ARD, ZDF, RTL und ProSiebenSat.1 geschrieben.

"Wenn nur die Regierenden diese Arena und Aufmerksamkeit bekommen, dann schadet das nicht nur dem politischen Diskurs an sich, sondern auch dem Ansehen der Medien",

zitiert daraus der Tagesspiegel in dem Artikel, der auch schon die Antwort übermittelt. Die große Koalition der noch relativ großen Fernsehsender hat daraufhin nun eine bis zum "Darüber hinaus ..." ebenfalls gemeinsame Erklärung (ARD/ ZDF, RTL, Sat.1) verabschiedet. Sie wollen fürs Haupt-TV-Duell am 3. September beim beschlossenen Muster, demzufolge erst Maybrit Illner vom ZDF und Peter Kloeppel von RTL, dann Sandra Maischberger von der ARD und Claus Strunz von Sat.1 Merkel und Schulz befragen, bleiben. Ein "Mega-Duell mit allen Parteien" (meedia.de), zu dem die drei Briefschreiber sinnvollerweise auch die AfD dazubitten wollten, wird nicht stattfinden.

Der "politisch-mediale Komplex" dreht sich in gewohnt kleinen Kreisen. Vor diesem Hintergrund bleibt der gestern hier bereits in anderem (Tilo-Jung-)Zusammenhang verlinkte Medienkorrespondenz-Artikel "Über die Notwendigkeit von politischen Dokumentationen und Reportagen im Fernsehen" von Torsten Körner diskussionswert.

[+++] Breites Echo finden die neuen "Facebook-Files", die der britische Guardian ausführlich, bis hin zum Quiz "Ignore or delete: could you be a Facebook moderator?", online präsentiert. Es handelt sich um "mehr als 1000 Seiten aus Handbüchern und Präsentationen" (netzpolitik.org), die der Schulung von rund 3.000 neuen Mitarbeitern dienen sollen, die anschließend Facebook-Inhalte sichten und gegebenfalls löschen sollen.

Deutschen Erstzugriff auf das geleakte Material hatten die Kooperationspartner von der Süddeutschen (Altpapier gestern), deren Artikel, gemessen an dem, was vorher über Facebooks Löschtrupps, ihre gigantischen Aufgaben und ihre prekären Arbeitsbedinungen bekannt geworden war, nicht gerade spektakuläre Ergebnisse brachte.

Dennoch hagelt es nun überall eigene Auswertungen der Facebook-Files. Schließlich lassen sich jede Menge spektakuläre Zitate daraus entnehmen. Die 63-seitige (oder -folie-ge) PDF-Zusammenfassung, die netzpolitik.org aus "allen verfügbaren Folien" kuratiert hat, um "den Überblick über den Leak", zu erleichtern, beginnt gleich mit der Folie "Sexual Content: Holocaust Nudity" ...

Ein paar Beispiele aus Facebooks Regelwerk:

"Einige spezifische Regeln scheinen nicht mehr als eine Einzelreaktion auf Kritik zu sein. So bezieht sich eine Vorschrift konkret auf Nacktheit im Kontext von Holocaust-Aufnahmen (sie sind aus historischen und dokumentarischen Gründen prinzipiell erlaubt). Sie könnte in Folge der Debatte um eine Kriegsaufnahme aus dem Vietnamkrieg entstanden sein." (zeit.de).

"'Lasst uns dicke Kinder schlagen' ist in Ordnung, 'Jemand sollte Trump erschießen' wird gelöscht. Bilder von Tieren, die gequält werden, sind erlaubt. Kommt ein Satz wie 'Ich liebe zu sehen, wenn Tiere leiden' hinzu, dann wird gelöscht ..." (netzpolitik.org, Markus Reuter im schon verlinkten reaktionellen Artikel).

"So müssen Videos, die einen gewaltsamen Tod abbilden und als 'beunruhigend' markiert sind, nicht zwangsläufig gelöscht werden, wenn sie ein Problembewusstsein ('create awareness of issues') schaffen – zum Beispiel für 'psychische Krankheiten'. Weiter heißt es zu derlei Videos: 'Wir glauben, Minderjährige brauchen Schutz, Erwachsene brauchen eine Wahl'" (Axel Weidemann in einem von zwei Artikeln dazu auf der FAZ-Medienseite).

"So sollen ModeratorInnen etwa Gewaltandrohungen stehen lassen, die unrealistisch sind oder sich gegen abstrakte Gruppen richten – es sei denn, diese Gruppen seien besonders 'vulnerabel'. Als solche Gruppen definiert Facebook etwa 'Zionisten' und, bezogen auf die Philippinen, Drogendealer. Gewaltaufrufe gegen Personen des öffentlichen Lebens wiederum sollen entfernt werden, weil in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit höher sei, dass diese tatsächlich umgesetzt werden. Konkret heißt das: Ein Post, der beschreibt, wie man am besten 'einer Schlampe das Genick bricht', kann stehen bleiben, weil der Gewaltaufruf einerseits zu abstrakt ist und sich andererseits an eine nicht als 'vulnerabel' definierte Gruppe richtet ..." (Peter Weissenburger in der TAZ unter der Überschrift "Hätte, hätte, Nettiquette").

"Ein Eintrag wie 'Um einer Schlampe das Genick zu brechen, stelle sicher, dass du am meisten Druck auf die Mitte des Halses anwendest' darf ebenso online stehenbleiben wie 'Fick dich und sterbe' oder 'Ich hoffe, dich bringt jemand um'. Die Begründung dafür lautet, dass hier keine 'ernstzunehmende Bedrohung' zu erkennen sei. ... Selbst Videos von Tötungen sollen die Facebook-Mitarbeiter nicht zwingend entfernen" (Til Knipper, Tagesspiegel).

Kurzum: Es sind zweifellos "Dokumente der Hilflosigkeit" und eines "Eiertanzes", wie Fridtjof Küchemann im anderen der beiden FAZ-Artikel schreibt. Allerdings würde jeder, der für die hier exemplarisch zitierten Fälle und tausende weitere schriftliche Regeln müsste, und sei es nur für den Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes, genauso eiertanzen. Als global agierender Konzern, der am ehesten kalifornischen Gesetzen unterliegt, in Europa aktuell allenfalls irischen gehorchen muss, und etwa in China, auf den Philippinen und in Pakistan ebenfalls gerne genutzt wird (und mit den dortigen Regierungen kooperiert, um dort Geschäfte machen zu können) tanzt Facebook auf allen Eiern der Welt.

"Die Beispiele zeigen: Facebook ist bemüht, in einigen Bereichen möglichst genaue Regeln zu definieren. Es versucht, globale Richtlinien zu etablieren, verliert sich dabei aber teilweise in Details und relativiert sich somit selbst", schreibt Eike Kühl im bereits verlinkten zeit.de-Artikel. Zweifellos ist dem von freundlichen Nerds gegründeten Laden die unglaubliche Menge von Inhalten, die dort in Echtzeit geteilt werden (und zu denen ja längst auch Livevideos gehören, bei denen am Anfang niemand weiß, ob am Ende jemand getötet wird), strukturell über den Kopf gewachsen. Zu den großen Fragen gehört, ob Facebook sich daran ernsthaft stört oder es gerne hinnimmt, solange derselbe Netzwerkeffekt die Rendite ansteigen lässt. Außerdem gehört zu den großen Fragen, warum solche Regeln überhaupt geleakt werden müssen. Wäre es nicht das Selbstverständlichste, dass Nutzern verständlich mitgeteilt wird, was sie veröffentlichen dürfen?

Aktuell könnte es sein, dass das Netzwerkdurchsetzungesetz/ NetzDG, mit dem das Bundesjustizministerium erstmals in deutsches Recht zu gießen versucht, was Netzwerke wie Facebook (von denen es in derselben Größe nur eines gibt) tun müssen, doch nicht mehr vor der Bundestagswahl verabschiedet wird. Im Bundestag wurde auch innerhalb der Großen Koalition, die ja eine komfortable Mehrheit hätte, über Heiko Maas' Gesetz gestritten. Einfach mal Vertreter unterschiedlicher Meinungen und Parteien über dieses Gesetz und über Haltungen zu Facebook und den sogenannten sozialen Netzwerken im Fernsehen (oder in anderen Medien) diskutieren zu lassen, wäre eine Chance, den Wahlkampf sinnvoll spannend zu gestalten.

Altpapierkorb

+++ Inzwischen frei online: Diemut Roethers am Freitag hier erwähnter ... ist es schon ein Rant? ... jedenfalls: das kritische epd medien-Tagebuch zum neuen Spiegel Daily. Falls Sie nach dem Lesen gespannt geworden sind, was SPON-Urgestein Andreas Borcholte denn nun vom neuen Helene-Fischer-Album hält, könnten Sie auch den in der Vorwoche erschienenen, inhaltlich (vermutlich) ähnlichen SPON-Artikel lesen. Frei online verfügbare Inhalte so umzukonfektionieren, dass sie auch noch mal unfrei angeboten werden können, scheint ebenfalls zum bemerkenswerten Daily-Geschäftsmodell zu gehören. +++

+++ Wo bleibt das Positive? Hier! So gutgelaunt wie im faz.net-Longread "Weihnachten, mitten im Mai" ("Doch die Dinge haben sich dramatisch gewendet – zum Positiven ...") haben Sie Michael Hanfeld schon lange nicht mehr gelesen. Es geht um die VG-Wort-Sitzung vom Wochenende, deren Ergebnisse auch die TAZ zusammenfasst. +++ Wissenswertes über die frühe VG Wort der 1950er Jahre und ihre Gründer, die auch in vorangegangenen Jahrzehnten, das heißt: in der Nazizeit, bereits aktiv gewesen waren, hat Wolfgang Michal in seinem Blog zusammengetragen. +++

+++ Der Deutsche Welle-Korrespondent Antéditeste Niragira, ebenfalls gestern hier erwähnt, ist wieder frei (dw.com). +++ Das Zeitschriften-Cover, dessentwegen zwei Chefredakteure des Satiremagazins "Nokta" zu 22 Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurden (Standard), gibt es in diesem Tweet von Ismail Küpeli zu sehen. +++ "Journalistenverbände machen dabei die faktische Straf­losigkeit mitverantwortlich für die zunehmenden Angriffe. Auch eine 2012 ins Leben ­gerufene Sonderstaatsanwaltschaft für Delikte gegen die Meinungsfreiheit (Feadle) konnte wenig ändern ..." (Wolf-Dieter Vogel in der TAZ über Journalistenmorde in Mexiko, die ebenfalls gestern hier Thema waren). +++

+++ Der Artikel "In Deutschland gehört selbst die Mafia zum Markt" heute im FAZ-Feuilleton schrieb die zuletzt in diesem Altpapier erwähnte Petra Reski. Es geht u.a. darum, dass die "heutige, neoliberal geprägte, 'marktwirtschaftliche' Mafia, die zum internationalen Anbieter illegaler Güter (Drogen, Waffen, billige Arbeitskräfte) und Dienstleistungen (Investitionskapital, illegale Giftmüllbeseitigung) aufgestiegen ist, in Deutschland als Bestandteil des Marktes geschätzt wird. Dass niemand nachfragt, woher das Geld kommt, dafür sorgt die Beweislastumkehr: Der Polizist muss nachweisen, dass das Geld aus schmutzigen Quellen stammt, kann aber nicht einfach auf Verdacht ermitteln ...". +++

+++ In Wien ist gerade European Journalism Congress. Dort präsentierte die Sächsische Zeitung ihre Rezept für "konstruktiven" Journalismus (Standard). +++ Und Julia Jäkel sorgte für ein bisschen Verwirrung hinsichtlich der Butter auf dem Brot des Nicht-mehr-Großverlags Gruner+Jahr, den sie leitet (ebd., siehe auch Nachtrag unten). +++

+++ Amazon eröffnet nun auch in Deutschland eine Pay-TV-Plattform. Dort zu sehen seien etwa "der bislang kaum verbreitete Doku-Sender Geo Television, ein Terra-X-Kanal sowie Syfy Horror, Sportdigital und Fix und Foxi TV" (dwdl.de). +++

+++ "Eine Studie der amerikanischen Universität Harvard hat die Berichterstattung führender amerikanischer und europäischer Medien in den ersten 100 Amtstagen von US-Präsident Donald Trump ausgewertet. Die ARD wurde als einziges deutsches Medium in die Betrachtung mit einbezogen" - und erster: "Nirgends wurde negativer über den neuen Präsidenten reportiert als in dem deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender. 98 Prozent der Berichte im Ersten waren laut der Studie negativ, nur zwei Prozent positiv" (welt.de). +++

+++ David Lynchs neue "Twin Peaks"-Staffel ist großes Thema der SZ-Medienseite. David Steinitz scheint hin- und hergerissen. +++ Michael Pekler vom Standard auch ("Es war jedenfalls ein Auftakt, bei dem Lynch und Autor Mark Frost nicht umhinkamen, den selbstgeschaffenen Mythos zu regelrecht zu befeuern. 'Twin Peaks' ist nach wie vor ein bizarrer Kosmos der Halluzinationen und Abgründe, in dem man sich, einmal eingetaucht, schon damals verlieren konnte. Diese Ouvertüre lässt Ähnliches erwarten – und befürchten"). +++ "Lange Einstellungen, Bilder aus der Ferne, auf denen man nicht alles erkennt, Schnitte auf Details und Gesichter, in denen sich jede einzelne Regung (besonders bei Dale Cooper) abzeichnet, reduzierte Dialoge, gerne im dadaistischen Stil, Zitate, Anspielungen in Wort und Bild und Kulisse bis zum Büro des von David Lynch gespielten alten FBI-Manns. In dem hängt an der einen Wand ein Bild der Atombombenexplosion, auf der anderen ein Porträt von Franz Kafka. Dass sich Lynch und Frost dem Schriftsteller verbunden fühlen, darf man annehmen. Ihre Serie sieht aus wie eine Adaption von Kafkas 'Schloss'" (FAZ-Medienseite, schon wieder Hanfeld). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

 

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