"Scheiße"

"Scheiße"
So hätte wahrscheinlich Horst Schimanski den Tod von Götz George kommentiert. Letzterer zeigt zugleich, wie Privatsphäre-Einstellungen auch in digitalen Medienwelten funktionieren. Ansonsten geht es um den Brexit und die Frage, welche Rolle dieses Mediensystem für den Ausgang des Referendums spielte.

An diesem Wochenende gab es für die Medien genug zu berichten. Der Brexit vom Freitag. Die Achtelfinalspiele der Fußball-Europameisterschaft. Da war es eine Überraschung zu erleben, wie in digitalen Zeiten Privatsphäre-Einstellungen praktisch funktionieren können. Am späten Sonntagabend wurde der Tod von Götz George bekannt. Er ist am vergangenen Mittwoch in Hamburg beerdigt worden. Bisher ist aber noch nicht einmal sein Todesort verifiziert, weshalb diese Angabe etwa in seinem Wikipedia-Eintrag bisher fehlt. Mit seinem Tod werden viele Menschen zu tun gehabt haben, so Ärzte und Behörden-Mitarbeiter. Aber niemand hat scheinbar die Medien frühzeitig (oder zur Unzeit?) über den Tod dieses Schauspielers informiert, der einer der Großen seines Fachs gewesen ist. Insoweit ist es nicht die Frage, wer diese Nachricht zuerst hatte, sondern warum so lange davon niemand etwas mitbekam. Das passt zu einem, der mit seiner Biographie (und als Sohn von Heinrich George) für die Ambivalenzen des Nachkriegsdeutschland stand. Was von ihm neben allem anderen bleiben wird? Seit seiner Rolle als Duisburger “Tatort“-Kommissar Horst Schimanski darf man im deutschen Fernsehen „Scheiße“ sagen. Vermutlich auch heute wieder in den Folgen, die in den ARD-Programmen anlässlich seines Todes wiederholt werden.

+++ Dazu passt eine Studie, über die der Deutschlandfunk in „Markt und Medien“ am Samstag berichtet hat. Es geht um die „Selbstoffenbarungen in sozialen Netzwerken." Eines der interessanten Ergebnisse ist das unterschiedliche Verhalten zwischen den Generationen. So machen sich die Älteren mehr Sorgen um den Schutz ihrer Privatsphäre als die Jungen. Aber gleichzeitig haben sie auf Facebook die offeneren Privatsphäre-Einstellungen. Die Sorge führt somit nicht zu den naheliegenden Verhaltensänderungen bei den Älteren. Aber wie prägt eigentlich die Digitalisierung dieses Verhalten? In der FAS beschreibt der Medientheoretiker James Galloway in einem Interview jenen Effekt der „Standardisierung als die wichtigste Leistung von Netzwerken“.

„Dieser Prozess bedingt soziale Homogenisierung. Natürlich kann jeder im Internet erst einmal sagen, was er will, es ist kein repressives Modell, man wird zu nichts gezwungen, aber: In der digitalen Kultur haben wir zum ersten Mal einen Standard der menschlichen Kommunikation, der alles umfasst und vollständig technisch determiniert ist. Natürlich, wir können dagegen revoltieren und uns verweigern, aber die Konsequenzen wären beträchtlich: Man könnte dann nur noch mit sich selbst kommunizieren.“

In dem Deutschlandfunkbeitrag war nämlich zugleich von jenem Phänomen berichtet worden, dass es in den sozialen Netzwerken eine abnehmende Tendenz gibt, über negative Erlebnisse zu berichten. Sie geraten so zunehmend in die Funktion, wo Selbstoffenbarung nichts anderes als Selbstoptimierung bedeuten könnte. Ein Horst Schimanski, so ist zu vermuten, stände dort auf verlorenem Posten.

+++ Aber nun zum Brexit, nachdem immerhin die Wade von Jerome Boateng gestern im Achtelfinale gegen die Slowakei gehalten hat. Der Guardian schildert noch einmal die Schlachtordnung dieser Debatte.

„But you can’t stop there. Any useful inquest might reasonably inquire how those BBC rules on fairness and balance helped public understanding. Who spoke up for Remain? The prime minister, the Labour party, the Liberal Democrats, Greens and SNP, the TUC, the CBI, Barack Obama, Hillary Clinton, Angela Merkel and the Archbishop of Canterbury, plus every major economic forecasting unit on Earth. And for Leave? A few Tory cabinet ministers and Labour dissidents, with no major economic authority to back their broad-brush optimism, and a handful of major industrialists along for the ride.“

Trotzdem gewannen die Befürworter des EU-Austritts das Referendum deutlich. Ist das jetzt die Folge der Digitalisierung, wo der Mainstream nur noch ein Informationsangebot unter vielen anderen ist? Dann stellt sich die Frage, ob unter dieser Voraussetzung überhaupt noch vom Mainstream gesprochen werden kann. Zweifellos ermöglicht die Digitalisierung eine Demokratisierung des Infomationsangebotes, wo niemand mehr auf das Nadelöhr journalistischer Berichterstattung angewiesen ist. So wäre die fehlende Durchschlagskraft der EU-Befürworter zu erklären, die zudem das Problem hatten als die Elite identifiziert zu werden, die in den vergangenen Jahren zunehmend unter Beschuss geraten ist. Das Akzeptanzproblem der EU beruht schließlich auch darauf nur noch als ein Projekt zum Nutzen des Establishments angesehen zu werden.

Aber wichtiger erscheint ein anderer Aspekt, der in der Wahlbeteiligung zum Ausdruck kommt. Das Referendum gilt schließlich als Ausdruck eines Generationenbruchs, wo die Jungen für die EU und die Alten dagegen gestimmt haben. Aber das stimmt nicht, wie uns die Welt erläutert.

„Der Brexit ist auch der Passivität der jungen Generation geschuldet, die die Hände in den Schoß legte, während die Älteren sie aus der EU wählten. Der Statistik zufolge beteiligten sich nur 36 Prozent der 18- bis 24-Jährigen an dem Votum. Bei den 25- bis 34-Jährigen waren es mit 58 Prozent auch nur gut die Hälfte der Wahlberechtigten. Zum Vergleich: Von den Briten, die 65 Jahre oder älter sind, gingen 83 Prozent an die Urnen.“

Woher kommt diese Wahlenthaltung bei den Jüngeren, obwohl alle klassischen Argumente aus dem Argumentationskasten namens Politikverdrossenheit in diesem Fall keine Rolle spielten? Es gab etwas zu entscheiden und diese Entscheidung würde Auswirkungen auf das weitere Leben haben. Wer das nicht im Wahlkampf begriffen haben sollte, dem ist wirklich nicht zu helfen. Die nicht nur für britische Verhältnisse hohe Wahlbeteiligung der älteren Jahrgänge bringt das auch zum Ausdruck. Offensichtlich ist dieses Phänomen mit dem Mediennutzungsverhalten der Jungen zu erklären. Es scheint dort eine Tendenz zur von Galloway angesprochenen Homogenisierung sozialen Verhaltens zu geben, wo sprichwörtlich alles privat ist, selbst wenn man dieses Private in die Öffentlichkeit hinausposaunen sollte. Politik als Anspruch auf die Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen spielt keine Rolle mehr, weil dieser Kern des Politischen keine Entsprechung mehr in den digitalisierten Diskursen findet, die diese jungen Leute nutzen. Sie sind nur noch mit der Selbstoptimierung in einer vermarktlichten Lebenswelt beschäftigt, der sie sich in ihrer Mehrheit bloß noch anpassen wollen.

Das entspricht durchaus einer Politik der EU (und des Thatcherismus), die in dieser Vermarktlichung von Lebenswelten das probate Integrationsmodell für moderne Gesellschaften betrachtet haben. Ironischerweise hat aber jetzt dieser Verlust eines Begriffs von Politik zu einem Wahlergebnis geführt, das deren Voraussetzungen wiederum in Frage stellt. Insoweit ist die Ratlosigkeit auf dieses Ergebnis zu verstehen, wenn man plötzlich erleben muss, dass Vermarktlichung allein nicht ausreicht. Sie erzeugt nicht die Legitimation, die jedes politische Gebilde benötigt, wenn am Ende die Mehrheit der jüngeren Jahrgänge schlicht zu Hause bleibt.

+++ Der Vertreter der EU-Kommission in Deutschland, Richard Kühnel, bringt diese Veränderungen im öffentlichen Diskurs in einem Debattenbeitrag für Kress gut zum Ausdruck.

„Die EU mit ihrer Modernisierungs- und Reformpolitik wird als klarer Gegenpol wahrgenommen. Die Kernfrage, die sich zwischen dem politischen Mainstream und populistischen Gegenkräften stellt, ist, auf welche Zukunft wir hinarbeiten wollen. Verteidigen wir eine romantisierte Vergangenheit, die es so zumeist nie gab, oder entwickeln wir uns weiter und passen uns aktiv an globale Verschiebungen an? … . Durch ihre zunehmende Identifizierung mit Reform- und Veränderungsprozessen wurde die EU schleichend zu einem Feindbild für jene, die sich dem Wandel entgegenstellen. Jene, die mit vereinfachenden Schwarz-Weiß-Schemata arbeiten. Es fallen Begriffe wie Souveränität statt Interdependenz, Heimat statt Globalisierung, Homogenität statt Vielfalt, frei von jeder Einsicht, dass keiner dieser Begriffe exklusiv ist. Es ist die Aufgabe der Politik, eine Schnittmenge dazwischen zu finden und die richtigen Grenzen zu ziehen.“

Das widerspricht allerdings dem technokratischen Selbstverständnis, das die EU bisher prägte. Ihre Legitimation bezog sie aus der historischen Rolle als ein Projekt zur Befriedung des Kontinents nach zwei desaströsen Weltkriegen. Das allein reicht nicht mehr aus, wie in den vergangenen Jahren zu erleben war. Die Erinnerung an diese Katastrophen verblasst allmählich, weswegen die EU nicht mehr allein daraus ihre Existenz rechtfertigen kann. Kühnel nennt die Begriffspaare, um die es geht.

Souveränität statt Interdependenz, Heimat statt Globalisierung, Homogenität statt Vielfalt.

Darüber muss politisch gestritten. Interdependenz, Gloabalisierung und Vielfalt sind schließlich nichts, was sich aus sich selber heraus erklärt. Diesem Irrtum ist nicht zuletzt die EU zu lange aufgesessen. Daher ist das Ergebnis des britischen Referendums auch nicht die Katastrophe, die nicht nur die Bild in ihrer Samstagsausgabe auf den Titel brachte. Vielmehr der Beginn eines politischen Prozesses, dem europäischen Einigungsprojekt neue Legitimationsressourcen zu erschließen. Kühnel macht für den Erfolg der EU-Skeptiker unter anderem ein Mediensystem verantwortlich, wo der „moderne Held“ nicht mehr „Pheidippides“ ist, „der die frohe Kunde des Sieges der Schlacht bei Marathon überbringt, sondern paradoxerweise der Bote schlechter Nachrichten.“ Eine „bei den antiken Griechen noch geächtete Rolle“, wie er es formuliert.

„Klare Mehrheiten sehen die Vorteile des Zusammenhalts und wollen eine gemeinsame Migrations-, Währungs-, Außen- und Sicherheitspolitik. Es mag der Eindruck entstehen, die Gegenbewegung sei zahlenmäßig größer, doch sie ist bloß lauter und feuriger als die zähe, stille Masse. Sie nutzt soziale Medien zur Mobilisierung, vernetzt sich zu Zweckbündnissen und profitiert von moderner Reizüberflutung und einem engen Zuschnitt der Kommunikation.“

Nur sind dieses Mal nicht die Medien Schuld, noch nicht einmal die Neuen. Vielmehr werden die Vertreter einer proeuropäischen Politik jetzt gezwungen, erst einmal zu erklären, welche Botschaft sie überhaupt haben. Darum geht es in jeder politischen Debatte. So erleben wir jetzt nicht das Ende der europäischen Integration, sondern den Beginn einer längst überfälligen Debatte über ihre politische Zukunft. Die Medien werden darin eine zentrale Rolle spielen. So oder so.


Altpapierkorb

+++ Götz George steht heute im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Ein Überblick über die bisher veröffentlichten Nachrufe ist auf Meedia zu finden.

+++ Zur Rolle der Medien im politischen Diskurs ist etwas in der Medienkorrespondenz zu finden. In diesem Fall ist der Präsidentschaftwahlkampf in den USA das Thema, der uns in diesem Sommer und im kommenden Herbst noch häufig beschäftigen wird. Donald Trump bestimmte den Vorwahlkampf. Franz Everschor stellt den etablierten Nachrichtenformaten dabei noch das beste Zeugnis aus. „Am besten haben sich in dieser Situation noch die altbackenen Nachrichtensendungen und Magazine der Broadcast-Networks dem Drang nach Sensationen verschlossen. Scott Pelley (CBS), Lester Holt (NBC) und David Muir (ABC) sowie deren Kollegen in den morgendlichen Informationssendungen gaben und geben sich alle Mühe, sachlich zu bleiben, und politische Sendungen wie „60 Minutes“ (CBS) und „Meet the Press“ (NBC) taten ihr Möglichstes, die Fassaden zu durchbrechen und die Gemeinplätze eines Donald Trump zu hinterfragen. Im Kabelfernsehen sah das schon anders aus. Auch dort gab es Rachel Maddow (MSNBC) und gelegentlich Anderson Cooper (CNN), die in ihrer Berichterstattung und ihren zahlreichen Interviews auf Klärung beharrten und die zahllosen unbewiesenen Behauptungen und Anschuldigungen, die Trump jeden Tag von Neuem losließ, nicht widerspruchslos im Raum stehen ließen.“ Letztere waren aber die Ausnahmen.

+++ Für Frauenverachtung als höchste Form der Dummheit eignen sich Soziale Medien in besonderer Weise. Das zeigt jetzt diese Studie, über die der Standard berichtet. In Töne, Texte, Zeichen auf WDR 5 geht es dagegen um die Rolle von Sportjournalistinnen. Warum sie weniger kompetent über Fußball berichten sollen als ihre männlichen Kollegen bleibt ein Rätsel. Es könnte aber durchaus damit etwas zu tun haben, so eine der Thesen in diesem Beitrag, dass Sender weibliche Rollenklischees zur Grundlage ihrer Nachwuchs-Rekrutierung machen.

+++ Dazu passt auch die neueste Wiesenhof Werbung. Man versuchte sich dort am Humor und landete mit dem Komiker Atze Schröder glatt in jenem Sumpf, den Kress so beschreibt. „Aber die Wiesenhof-Werbung ist nicht nur deswegen schlecht oder zotig. Um den ganzen die Krone aufzusetzen, hat der Texter noch eine weitere Geschmacklosigkeit mit extremer Überlänge auf den Grill gelegt: die 20 Zentimeter Mega-Wurst von Wiesenhof ist so lang, "dass Gina und Lisa danach eine Trauma-Therapie" brauchen. Eine mehr als unverhohlene Anspielung auf den vermeintlichen Vergewaltigungs-Fall der TV-Trash-Ikone Gina-Lisa Lohfink. Ein Werbespruch unter der Gürtellinie und jenseits von allem, was Respekt gegenüber Frauen angeht. Vielleicht war der Fall vor einigen Monaten noch nicht so prominent, aber durchaus bekannt, weswegen sich die Frage stellt, wie so ein Spot produziert werden kann. Schließlich durchläuft ein Film-Skript mehrere Kontroll-Stufen.“ Herr Schröder hat sich distanziert. Hoffen wir einmal, dass er jetzt keine Trauma-Therapie braucht. Oder die Verantwortlichen in der Produktionskette.

+++ Dafür hat Frau Lohfink ein neues Engagement gefunden, wie uns die Bild am Sonntag mitteilt. Vielleicht sponsert jetzt Wiesenhof eine Grillparty im Container mit Herrn Schröder am Grill.

+++ Die taz berichtet dagegen über Versuche der AfD, die Berichterstattung von Medienvertretern auf dem NRW-Landesparteitag zu verhindern. Wo man mit solchen Bemühungen schon recht fortgeschritten ist, zeigt dagegen dieser Fall aus Samibia, ebenfalls aus der taz. In der FAS beschäftigt sich das Feuilleton mit dem türkischen Journalisten Can Dündar und den Repressalien des Staates gegen die freie Berichterstattung. (noch nicht online). Man könnte auf die Idee kommen, dass die Erdoganisierung der AfD rasante Fortschritte macht. Die Verhältnisse in Sambia werden sie weniger interessieren.

+++ Auf DWDL lesen wir etwas über den Rechtepoker für die Berichterstattung über die Olympischen Spiele. Die öffentlich-rechtlichen Sender drohen damit, „Discovery auf die Schnauze fallen zu lassen.“ Dafür hat die Zeit ein Männermagazin in Planung, wie uns Horizont erläutert. Man könnte dort Herrn Schröder einen Gastbeitrag über die Untiefen des Sexismus in der modernen Medienwelt schreiben lassen.

+++ Schließlich im Deutschlandradio eine Würdigung von Kerstin Schweighöfer über die verdienstvolle Carolin Emcke. Letztere erhält bekanntlich in diesem Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. „>>Der Auslandsjournalist hat es schwer<<", sagt sie im Deutschlandradio Kultur. Die Redaktionen hätten immer weniger Geld, bei spektakulären Terminen würden die Medien festangestellte Kollegen schicken, die häufig nicht das nötige Hintergrundwissen besäßen. Schweighöfer sagt, es sei wichtig, Krisen und Kriege anhand von Beobachtungen und Geschichten zu konkretisieren - so wie es Carolin Emcke in ihren Essays und Reportagen tut. In den Reportagen sollte man "immer vom Einzelschicksal ausgehen". "Wir müssen personifizieren", sagt die Journalistin, die in den Niederlanden lebt.“ Über die Grenzen dieses journalistischen Ansatzes lohnte sich die allerdings die Debatte. Denn Personifizierung entspricht der Logik digitaler Medien, die einen Donald Trump hervorbringen.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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