Die Medien und ein närrischer alter Mann

Die Medien und ein närrischer alter Mann
Günter Grass ist im April gestorben. Gerade deshalb sollte man an ihn erinnern. An seinem Beispiel wird deutlich, wie überfordert Teile der Medien mit der Flüchtlingsdebatte sind. Manifeste und Appelle werden nämlich nicht reichen.

Man muss in diesen Tagen die Medien an Günter Grass erinnern. Der im April verstorbene Nobelpresiträger hatte sich im November vergangenen Jahres zur Flüchlingsdebatte geäußert. Er erinnerte anläßlich einer Tagung des PEN-Clubs an das Schicksal der Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei brachte er auch die zwangsweise Einquartierung von Flüchlingen in Privatwohnungen ins Spiel. Anders war damals nämlich deren Unterbringung nicht zu gewährleisten. Die Reaktion der deutschen Medien war einhellig gewesen. Wie konnte er nur so einen Unsinn erzählen? Man behandelte Grass wie einen närrischen alten Mann, der seltsame Gedichte über Israel verfaßte. PEN-Generalsekretärin Regula Venske war verärgert über die Berichterstattung.

"Mich erreichen derzeit viele Zuschriften von Menschen, die am Mittwoch mit uns gefeiert und nachgedacht haben und nun empört sind, wie ein ruhiges und differenziertes Gespräch von manchen Medien für reißerische Zwecke instrumentalisiert wird. Journalisten, die offenbar mehr um ihre Gästecouch als um ihr journalistisches Ethos besorgt sind, diskreditieren sich selbst. Und wer jetzt in den Chor der hämisch Hetzenden einstimmt, stellt sich ein Armutszeugnis aus und verwirkt sein Recht, sich noch je in einem Leitartikel oder am Stammtisch auf christliche Werte zu berufen."

Nun sind Journalisten wie andere Menschen auch: Sie leiden bisweilen an Vergeßlichkeit. Schon am Samstag hatte die Bild unter dem Motto "Wir helfen" eine Kampagne zur Flüchtlingshilfe gestartet. Das Schwesterblatt Bild am Sonntag ließ gestern "100 prominente Deutsche" zu dem Thema zu Wort kommen. Darunter den Chef der Bahn-AG, Rüdiger Grube.

"Deutschland hat in den schweren Zeiten der Nachkriegszeit Millionen Menschen aufgenommen und integriert. Heute steht unser Land so gut da wie noch nie. Warum sollte es uns nicht wieder gelingen, Flüchtlinge zu einer Bereicherung werden zu lassen."

Es reichte bei Bahn-Chefs zwar schon, wenn ihre Züge pünklich (oder überhaupt) fahren und Bahnhöfe gebaut werden. Insofern wäre der Titel dieser Bild-Befragung namens "Hört uns zu!" ein Appell der Bahnkunden an deren Chef. Aber die gleichen Medien, die noch vor wenigen Monaten die Anmerkungen von Grass als die eines senilen alten Mannes deklarierten, tröten jetzt in dessen Horn, ohne es allerdings zu bemerken. Nur haben sie nicht dessen Konsequenz, sondern lassen es zumeist mit unverbindlichen Statement bewenden. "Wir schaffen das schon", so die Beruhigungsformel für das Publikum.

+++ Dafür gibt es einen Grund, den der Spiegel jetzt sogar auf den Titel bringt. Das dunkle und das helle Deutschland, so lautet seine als Manifest beschriebene Titelgeschichte. Das Dunkle ist jenes Deutschland, wo sich die Xenophobie ausdrückt. Heidenau und die Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sind die passenden Stichworte. Nun hat die Fremdenfeindlichkeit wie der Antisemitismus ein charakteristisches Merkmal: Er kommt auch ohne Fremde und Juden aus. Rassistische, oder bei Soziologen "menschenfeindliche Einstellungen", sind Projektionen auf andere Gruppen. Sie haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Gerade deshalb sind diese Einstellungen gefährlich: Sie lassen sich auch durch empirische Erfahrung nicht widerlegen. In der Forschung finden sich seit den späten 1970er Jahren entsprechende Daten dazu. Es gibt diese Einstellungen in Teilen der Bevölkerung. Nur konnten sie damals nicht in gleicher Weise öffentlich werden wie heute. Gerade Facebook ist zur Plattform für Xenophobe und Rassisten geworden. Die Medien reagieren auf diese Stimmung und argumentieren dagegen. Das ist auch der Impuls gewesen, warum sich von Bild bis taz alle verpflichtet sehen, dem Rassismus etwas entgegenzusetzen. Die Debatte über die allenthalben historisch genannte Flüchtlingswelle wird von diesem Diskurs bestimmt.

+++ Nur ändert das nichts an der Empirie, weil der Rassismus diesen gar nicht braucht. Die Medien haben aber offenkundig damit ein Problem. Sie argumentieren unverdrossen, wie noch im November vergangenen Jahres in der Polemik gegen Grass. Die Kritik an Grass bestand nämlich vor allem darin, sich auf die Gewißheit einer funktionierenden Festung Europa auszuruhen. Wieso soll man Flüchtlinge in Privatquartiere unterbringen, wenn Deutschland statt 14 Millionen nur 200.000 Menschen aufnehmen will? Um diese Zahl ging es noch im November 2014. Deutschland hatte ein Asylrecht, das bei formaler Großzügigkeit in Wirklichkeit strikte Grenzen gezogen hatte. Letztlich hatte es den europäischen Anrainerstaaten wie Griechenland oder Italien die Hauptlast der Verantwortung überlassen. Deutschland verhielt sich in der EU egoistisch. Es war stolz auf die Aufnahme von 20.000 Syrern als Kontingentflüchtlinge. Unter dieser Voraussetzung muss die Integration von Flüchtlingen für eine der reichsten Gesellschaften der Welt möglich sein. Allerdings kann davon wohl nicht mehr in gleicher Weise die Rede sein, wenn aus 200.000 plötzlich 800.000 Flüchtlinge werden. Es verändert die Voraussetzungen jeder Integrationspoltik, die aber Grass im Gegensatz zu seinen Kritikern erkannt hatte.

"Das sind alles Erfahrungswerte, die man wahrnehmen muss, wenn man einfach pauschal von Fremdenfeindlichkeit redet, und ich glaube, dass diese Erfahrung uns helfen kann, dem, was auf uns zukommt, was du [PEN-Präsident Josef Haslinger, Anm. d. Red.] umrissen hast und was die nächsten Jahrzehnte bestimmen wird, eine Massenwanderung von Menschen, eine Vermischung der Kontinente, auch ganz andere Formen von Macht und Machtausübung werden wir konfrontiert sein, dass man dem nur gewappnet sein kann, wenn man gemachte Erfahrungen mit zu Rate zieht."

Allerdings gehört es zu diesen Erfahrungswerten, dass Deutschland damals keine Alternative hatte. Es stand nach dem verlorenen Krieg unter der Kontrolle der Besatzungsmächte. Diese wiesen die deutschen Behörden an, entsprechend zu handeln. Alle Deutsche wurden damals in Mithaftung genommen für einen verbrecherischen Krieg. Grass hatte in der Beziehung bekanntlich seine eigenen Erfahrungen gemacht. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Deutschland kann und muss sich entscheiden, wie es mit dieser Situation umgeht. Der "Ansturm", so der Stern, ist kein Naturereignis, sondern Ausdruck politischen Willens. Darüber muss eine politische Debatte möglich sein, die nur in den Mainstream-Medien stattfinden kann, wenn sie nicht den Pöblern auf Facebook überlassen werden soll. Dann hilft auch kein Optimismus, wie im Stern unter dem Titel "Der Ansturm" von vergangenem Donnerstag.

"Nie zuvor suchten so vlele Menschen bei uns Asyl. Sie werden das Land verändern – wie wir zusammenleben, arbeiten, wohnen, denken. Die Flüchtlinge schaffen ein neues Deutschland."

Darüber wollen die Deutschen allerdings mitbestimmen. Das ist in der Demokratie so üblich. Dabei geht es nicht nur um das Tabuthema Abschiebung, das etwa der Focus anspricht. Den Flüchtlingen vom Westbalkan keine Asylstatus zu geben, ist in Politik und Medien weitgehend Konsens. Der Unterschied zwischen dem November vergangenen Jahres und der im August diesen Jahres ist ein anderer: Deutschland hat den Syrern politisches Asyl versprochen. Diese nehmen das Angebot jetzt an. Nur war Deutschland das einzige Land in der EU, das dieses Versprechen formuliert hatte. Der Bundesinnenminister sieht das Problem. Die Medien müssen es wenigstens formulieren, damit eine rationale Debatte über die Folgen dieser historischen Völkerwanderung möglich wird.

+++ Don Alphonso nennt das Phänomen "Prantlhausen", wo man sich dieser Diskussion verweigert. Damit ist der Chef der Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, gemeint.

"In Holzkirchen herrscht Vollbeschäftigung und es könnte schon sein, dass deshalb die Integration besser läuft. Mein Käsehändler zum Beispiel ist Bosnier und während des Krieges hierher geflohen, und hat sich bestens eingefügt – jahrelang dachte ich sogar, er sei Franzose. Es geht. Ob es jetzt gut geht, weniger gut oder krachend scheitert, liegt meines Erachtens nicht an dem, was Facebook zulässt, was getwittert wird oder in der Prantlhausener Zeitung steht. Es geht um das, was Menschen tatsächlich sehen, erleben, und wie sie es aus ihrer Lebenssituation heraus verstehen. Das kann prima laufen. Aber man kann es nicht herbeischreiben oder wegkommentieren, oder von Facebook verbannen und glauben, damit sei das Problem gelöst. Es geht um Menschen, sagen die Aktivisten des Anschwärzens, ganz so, als wären sie und die Flüchtlinge die einzigen Menschen in dieser Krise."

Die Medien müssen die Wirklichkeit abbilden. Sie können sie nicht mit Appellen und Manifesten einfach umstricken. Ob sich jemand noch an seine Kommentare zu Grass vom November vergangenen Jahres erinnert? Wer seine Analyse heute teilt, muss sich nämlich auch mit seinen Schlussfolgerungen beschäftigen. Es ist nicht sicher, ob das jedem bewusst ist. Der Politik wohl eher als manchen Medien in Prantlhausen.


Altpapierkorb

+++ Sind Journalisten Schuld? In China schon. Dort hat jetzt ein Kollege gestanden, den dortigen Börsencrash ausgelöst zu haben, so ist unter anderem bei der Tagesschau zu lesen: "Ich habe meine eigene Meinung hinzugefügt und so diesen Bericht erfunden. Ich hätte ein solches Stück nicht zu einer so heiklen Zeit schreiben dürfen. Ich habe dem Land und den Investoren großen Schaden zugefügt." Wang Xiaolu hatte während der Börsenturbulenzen im Juli einen Artikel veröffentlicht. Darin berichtete er von Plänen der Regierung, ihr Geld aus dem Aktienmarkt abziehen zu wollen. Das habe zu Panik geführt und zu den Kursverlusten beigetragen, zitieren ihn Staatsmedien."

+++ Nicht nur Staatsmedien, sondern auch Staaten haben bekanntlich manchmal ein Problem mit Journalisten. In Ägypten ist das schon chronisch geworden. Dort hat jetzt das Gericht das Urteil gegen Mohamed Fahmy bestätigt, so die Frankfurter Rundschau: "Ein Berufungsgericht in Kairo verurteilte am Wochenende das dreiköpfige TV-Team zu langen Haftstrafen, auch wenn der Vorsitzende Richter das Strafmaß aus der ersten Instanz von sieben auf drei Jahre reduzierte. Er blieb jedoch bei dem Vorwurf, die Angeklagten hätten die Muslimbruderschaft unterstützt sowie der Nation durch falsche Berichte geschadet." Das kommt uns jetzt aus China bekannt vor. "Als angebliche Belege für diese Behauptungen hatte die Staatsanwaltschaft während des Prozesses ein Sammelsurium aus Tierfilmen, Nachrichtensendungen anderer TV-Stationen und Privatvideos präsentiert, die die Polizei bei der Verhaftung der Angeklagten im Dezember 2013 beschlagnahmt hatte.“

+++ Dafür kommt jetzt eine Journalistin in England auf ihren Posten zurück, obwohl sich deren Zeitung sehr für die Meinungen von Prominenten interessiert hatte. Allerdings ohne dazu befugt zu sein, wie Geheimdienste nicht nur in China und Ägpyten. Wobei an dieser Befugnis wenigstens in westlichen Demokratie Zweifel bestehen. Es geht um Rebaka Brooks, so die FAZ. „Gut ein Jahr nach ihrem Freispruch im Abhörskandal um die britische Boulevardzeitung „News of the World“ kehrt die frühere Chefredakteurin Rebekah Brooks einem Bericht der„Financial Times“ abermals an die Spitze des Medienkonzerns News Corp zurück. Wie die Zeitung am Freitag berichtete, wird die 47-Jährige wieder die britische Sparte des Konzerns von Medienmogul Rupert Murdoch leiten. Sie war 2011 nach Auffliegen der Affäre um das Abhören von mehr als 600 Mobiltelefonen teils sehr prominenter Opfer von eben diesem Posten zurückgetreten.“

+++ Auch in Deutschland gibt es Personalnachrichten, wenn auch zum Glück nicht so dramatisch wie in China oder Ägypten. Michael Konken gibt den Vorsitz bei der DJV auf. Dafür beginnt Richard Gutjahr bei der Rheinische Post. Beides via turi.

+++ Interessiert sich jemand für die Zukunft der Tageszeitungen? Er wird bei der Huffington Post fündig. Allerdings ist dieser Artikel von Cornelia Diederichs nur von begrenzter Lustigkeit. Sie ist Bloggerin und YouTuberin, außerdem sei sie kreativ. Angesichts dieses Elaborats muss man sich schon fragen, ob man den Online-Journalismus überhaupt braucht. Oder YouTube. Damit kann man nämlich noch nicht einmal den Fisch vom Wochenmarkt einwickeln.

+++ Trotzdem ist ja online nicht alles schlecht. Daher wollen wir auf die Suche der freien Journalistin Carolin Neumann hinweisen, die nach Kollegen - älter als 50 Jahre - sucht, die sich im Internet neu erfunden hätten. Man könnte an den FAZ-Kollegen Jasper von Altenbockum denken, der über seine Online Erfahrungen etwa auf Twitter sicherlich Interessantes mitzuteilen hätte. Ob es zur Neuerfindung gereicht hat, ist aber noch nicht geklärt.

+++ Ein ewiges Thema sind auch die Gebühren für das öffentlich-rechtliche Sendesystem in Deutschland. Bis vor kurzem ging die Debatte noch um die Frage, ob sie zuviel Geld hätten. Jetzt scheint das Gegenteil der Fall zu sein: "Die dank des neuen Rundfunkbeitrags zustande kommende Mehreinnahmen-Rücklage von knapp 1,6 Milliarden Euro, die zurzeit auf einem Sperrkonto liegt, wollen die Sender von 2017 an vollständig konsumieren, und die ARD hätte gern pro Jahr noch 99 Millionen Euro drauf. Das heißt, ARD, ZDF und Deutschlandradio hätten in der nächsten sogenannten Gebührenperiode von vier Jahren gerne zwei Milliarden Euro mehr als jetzt. Im vergangenen Jahr nahmen die Anstalten 8,4 Milliarden Euro ein." Es geht um ein Sperrkonto, schreibt Michael Hanfeld.

+++ Schließlich noch eine Geschichte über Eisenbahnzüge. Es gab das Gerücht, die Bundesregierung wolle Züge chartern, um Flüchtlinge von Ungarn nach Deutschland zu bringen. Darüber ließe sich durchaus reden. Nun hatte eine Kollegin der ARD diese Meldung mit Hinweis auf eigene Quellen bestätigt. Allerdings hat das Auswärtige Amt kurze Zeit später diese Meldung dementiert. Das müsste sogar rasende Reporter irritieren, aber die wussten ja noch nichts über die rasante Geschwindigkeit des Online-Journalismus. Vielleicht sollte man dann doch besser in Polen nach einem Zug suchen. Der hat mittlerweile in ganz Europa die Schatzsucher elektrisiert.

+++ Eine Verwirrung weniger: Die Bundesregierung hat über ihren Sprecher das Chartern der Züge für die syrischen Flüchtlinge dementiert. Dafür weist Wolfgang Michal noch auf einen anderen Zug hin.

+++ Was jetzt auch nicht mehr fehlt? Ein Spion im Dienste Ihrer Majestät. Es ist nicht James Bond. Dafür aber die Pressekonferenz der Kanzlerin. Es ist aber nicht auszuschließen, dass sich alle deutschen Medien diesem Ereignis im Laufe des Tages widmen werden.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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