Der Fall des "Falles Maria"

Der Fall des "Falles Maria"

Eine Mediengeschichte, die keine Geschichte ist: die vorurteilsgeschwängerte Berichterstattung über Roma in Griechenland und Irland. Der Film "Blutgeld" interessiert als Thema, der Bezüge zu "Contergan" wegen. Unterschiedliche Recherchestände zur Frage, was Obama wusste. Man dankt Edward Snowden. Bemitleidet die US-Abhörer. Fordert die Abschaffung der Fernsehräte. Und des Leitartikels, wie wir ihn kennen.

Zigeuner stehlen Kinder. Das würde zwar so niemand behaupten, das stand aber in den vergangenen Tagen sinngemäß in Druck- und Digitalzeitungen. Der "Fall" des blonden Mädchens Maria, das "bei einer Routinekontrolle" in einer Roma-Siedlung bzw. "beim Betteln" mit ihren angeblichen Eltern, die anschließend beim DNS-Test durchfielen, in Griechenland "entdeckt" worden war,  ging international durch die Medien. Ebenso die durch die Berichterstattung erst ausgelösten "Fälle" in Irland, wo Behörden und Medien ebenfalls der Meinung waren, dass schwarzhaarige Eltern kein hellhaariges Kind haben könnten, und dass man auf dieser Recherchebasis Klischees über Kinder entführende und mit ihnen handelnde Roma verbreiten sollte.

Aber die Bild-Redaktion hat sich für den deutschen Raum eine gesonderte Erwähnung verdient – sie hat gleich gar nicht versucht, ihre gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu verschleiern:

"Polizei rettet Mädchen vor Gipsy-Bande: In diesem Roma-Dorf in Griechenland wurde Maria gefunden, am Dienstag wurde ein Mädchen aus einer Siedlung nahe Dublin gerettet. Wie viele blonde und blauäugige Mädchen leben noch bei Roma-Familien in Europa – und warum?" / "Blondes Mädchen in Irland befreit – noch eine Roma-Entführung? Nach Maddie und Maria der nächste Entführungsfall? Die irische Polizei holte ein junges blondes Mädchen aus der Obhut einer Roma-Familie in Dublin." (Foto 7/10) / "Wurde Maddie von Roma entführt?".

Die Bereitschaft, zu glauben, dass "Zigeuner Kinder stehlen" – ein "uraltes antiziganistisches Motiv", das Daniel Strauß, der Vorsitzende des Landesverbands Baden-Württemberg der Sinti und Roma, am Freitag im Tagesspiegel als "so alt und platt" bezeichnete, "dass ich erschrocken war, ihm wieder zu begegnen" –, macht die These aus der Wühlkiste der eigenen Vorurteile allerdings noch nicht richtig: Die "kleine Maria" wurde nicht entführt, sondern gelangte auf für die Medienöffentlichkeit noch unklaren Wegen, allerdings mit dem Einverständnis der echten Mutter, zu ihrer neuen Familie. "Marias echte Mutter", wie dann auch Bild berichtigte berichtete, ist eine bulgarische Roma Romni. An den vermeintlichen Kindesentführungen durch Roma in Irland stimmt noch weniger. Siehe z.B. Zeit Online:

"Der Fall des blonden Mädchens trifft den Nerv der Ressentiments gegenüber Roma: dass sie die eigenen Kinder derart ausnutzen und für wenig Geld weggeben oder sogar anderen abnehmen. Dieses Vorurteil führte in dieser Woche zu einer fatalen Polizeiaktion: In Irland hat die Polizei zwei Roma-Familien ihren hellhäutigen Nachwuchs wegen des Verdachts auf Kindesentführung weggenommen. Doch schon bald stellte sich heraus, dass die hellhäutigen Kinder sehr wohl zu den Familien gehören."

Die SZ schilderte am Wochenende den Vorgang in Irland, den Medienkram inklusive:

"Die europaweite Berichterstattung über diesen Fall [Marias in Griechenland] hat wohl in Irland zu einer Überreaktion geführt. Zunächst hatte der investigative Fernseh-Journalist Paul Connolly einen anonymen Hinweis erhalten, dass ein blondes Mädchen bei einer Roma-Familie in Dublin lebe. Connolly hat eine kritische Reportage über die Roma gedreht, in der es um 'falsche Bettler' ging. Er verständigte die Polizei",

was schon insofern auf eine "Überreaktion" (SZ) hinweist, als der Journalist vergisst, seine Arbeit erstmal selbst zu machen (hier die Sendung). In der TAZ vom Samstag stehen lesenswerte Texte hier (unter der Überschrift "Roma unter Generalverdacht") und hier:

"Ein Muster von tatsächlichem Kinderraub durch Roma gibt es nicht. Ein solches Schema ist nicht dokumentiert, auch nicht historisch. Was es aber gibt, ist ein Muster von Geschichten. (...) Wenn man nach Mustern sucht, wird man eher bei der griechischen und der irischen Polizei fündig als bei den Roma. Bei einer vergleichenden Untersuchung der Europäischen Union in allen Mitgliedsstaaten gaben 56 Prozent der befragten Roma in Griechenland an, innerhalb des letzten Jahres von der Polizei kontrolliert worden zu sein. Das sind die höchsten Werte für irgendeine Minderheitengruppe in der gesamten Union. An zweiter Stelle folgen Afrikaner in Irland."

Was bleibt von der großen Roma-Geschichte, die anders oder gar nicht geschrieben worden wäre, wenn es sich um andere vermeintliche Täter handeln würde, ist, solange die "Lage unübersichtlich ist" (WamS), eine Geschichte über Medien und Ermittler.

####LINKS#### +++ Es gibt einige Besprechungen des ZDF-Films "Blutgeld" (20.15 Uhr), der in der Anlage an "Contergan" erinnert, der seinerzeit Verbesserungen für die Contergangeschädigten bewirkt hat. Der Zusammenhang ist vorhanden: der Produzent Michael Souvignier, den Klaudia Wick in der Berliner Zeitung als risikobereiten Überzeugungsproduzenten porträtiert. Der Tagesspiegel schreibt über den Film:

"Insgesamt 1500 Bluter hatten sich seinerzeit über das Präparat mit HIV infiziert. 400 von ihnen leben heute noch. Einer von ihnen wurde durch den Contergan-Film 'Nur eine einzige Tablette' ermutigt, sich mit seiner Geschichte an die Produzenten des Films zu wenden. Michael Souvignier und Mark Horyna von Zeitsprung Pictures haben sich des Themas angenommen. Herausgekommen ist mehr als ein Betroffenheitsfilm."

Ob der Film nun, wie "Contergan", der Geschichte, von der er handelt, einen neuen Schub gibt, ist die eine Frage, die andere wäre, ob solch ein Film das muss, und die dritte, ob er das vielleicht will. Vielleicht will er:

"Ein trostloser, in manchen Dialogen leider etwas arg nach Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung klingender Film", findet die FAZ, die die Ärzte-Zeitung und Deutsche Hämophiliegesellschaft zitiert, wodurch die mögliche – wie bei "Contergan" vielleicht sogar kausale – Wirkung eines solchen Films stärker in den Vordergrund rückt als ästhetische Fragen. Bei der SZ, die ein "bedrückende(s), spannende(s) zeitgeschichtliche(s) Dokument" gesehen hat, in dem vielleicht ein wenig "dick aufgetragen" werde, ist das ähnlich: Es geht stärker um das Thema als um den Film; bei ihr fällt das Wort "Entschädigung" im letzten Satz, in dem es um eine Stiftung für die betroffenen Bluter geht:

"Derzeit erhalten noch 597 Menschen daraus Hilfen, davon 40 nicht-infizierte Angehörige, 150 HIV-Infizierte und 407 an Aids Erkrankte. Die auf gleichem Wege mit Hepatitis C infizierten Bluter haben übrigens bis heute keine Entschädigung erhalten."

+++ Und mit einer passenden Parallele aus Hans Hütts Blog-Artikel bei wiesaussieht damit zur NSA-Spionage:

"1987 schrieb die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine bundesweite Kampagne aus. Gegenstand der Kampagne war die Einsicht: Die Bürger wissen Bescheid über die Gefährdung durch das HI-Virus. Ihr Wissen wird nur nicht verhaltenswirksam. Nun wird der Aluhut nicht zur Pflicht. Aber schon hören wir Rufe nach europäischen Datenwolken. Nach einer Euronanosoft-Company. Nach eigenen Servern. Der verspätete Kontinent erinnert in dieser Situation an die Aufrüstungspläne des letzten deutschen Kaisers. Als ginge es heute noch um Marineertüchtigung."


ALTPAPIERKORB

+++ Der Spiegel, der in der NSA-Berichterstattung in Deutschland nach wie vor mindestens mitführend ist, legt den nächsten Abhörtitel nach und schreibt, Angela Merkel sei schon 2002 abgehört worde. Die Frage, ob Barack Obama von der Handyabhörung Merkels wusste oder nicht, steht ganz oben auf den Rätselseiten des Tages. Interessant sind die diesbezüglichen Rechercheunterschiede: Er habe seit 2010 davon gewusst, versichert die BamS; eine NSA-Sprecherin dementiert; die Washington Post das Wall Street Journal schreibt, das Weiße Haus sei seit Sommer informiert gewesen (via SpOn) +++ Ebenfalls in der BamS: die Infragestellung von Nacktheit im Fernsehen (mit Foto). Siehe zum Thema Diekmann gegen Horn auch den Bild-Titel vom Freitag +++

+++ Aber wir waren ja bei der NSA. Zum Umgang mit dem Mann, der die Debatte angestoßen hat, auch wenn er sie nur tröpfchenweise ergänzt, als wäre es eine Fortsetzungssoap: "Danke, Edward Snowden", sagt die SZ und fordert Asyl für ihn, die diplomatischen Verwicklungen mit den USA hin oder her: "Die Vorladung Snowdens, die eine qualifizierte Einladung sein muss, ist eine Frage des Rechts; sie zu unterlassen wäre sträflich. Sobald Snowden auf deutschem Boden ist, kann er Asyl beantragen, und es muss darüber entschieden werden. Auch das ist eine Frage des Rechts. Das Rechtsgefühl gibt klare Antwort: Ja!" +++ Die Welt am Sonntag prophezeit einen Snowden-Wahrnehmungswandel auch in den USA und schreibt über ihn: "auch seine ärgsten Kritiker kommen inzwischen an ein paar Tatsachen nicht mehr vorbei. Er hat eine wichtige, globale Diskussion um die Datensammelsucht der NSA und die Freiheit des Einzelnen in den Zeiten des Internets ausgelöst" +++ Und der Tagesspiegel diskutiert, ob es guten und schlechten Datendiebstahl gebe, Snowden-Leaks und Big Brother +++

+++ Warum "#merkelphone- und NSA-Affäre am Ende wohl viel weit reichendere Folgen haben als noch die Wikileaks-Enthüllungen", zitiert die SZ in den "Nachrichten aus dem Netz" aus einem Washington-Post- und einem Slate-Blog: "Die USA sind weniger in der Lage zu heucheln, dass sie Dinge nicht tun, die sie tun, während andere Staaten weniger in der Lage sind zu heucheln, dass sie nicht wissen, was die USA tun." Die Enthüllungen nähmen allen Beteiligten also die in der Diplomatie dringend gebrauchte "Fähigkeit zur Heuchelei" +++ So ähnlich klingt das heute auch im Tagesspiegel: "Auch für Merkel gilt deshalb: Wenn sie nicht mehr wissen wollte, als sie anfangs erfuhr, ist das schlecht. Wenn sie aber mehr erfahren hat und nur so tat, als wisse sie von nichts – noch schlechter" +++ "Wir dürfen hier wenigstens lüften (also bis auf den Tag, als Ihr Präsident zu Besuch kam, da wollten wir die Scharfschützen bei Ihnen auf dem Dach doch lieber nicht unnötig mit einem geöffneten Fenster irritieren). Aber Sie haben ja nicht einmal Fenster!" Stefan Kuzmany hat bei Spiegel Online Mitleid mit den benachbarten US-Kollegen, die ihn abhören +++

+++ Sonst im Spiegel: Medienredakteur Markus Brauck fordert: "Schafft die Räte ab!" und meint die der Öffentlich-Rechtlichen, weil die Parteien die ganze Veranstaltung so organisieren, "als sei sie ein Filialunternehmen des politischen Betriebs" +++ Außerdem: ein Interview mit Paul Steiger, dem Chef von Pro Publica über Utopien und die Finanzierung von investigativem Journalismus +++ Und die Konkurrenz von Oliver Berben und Nico Hofmann, der beiden bekanntesten Fernsehproduzenten: Beide verfilmen die Schlecker-Pleite; der eine filme ab Januar, der andere ab Februar. Wer die Seife ans Set liefert – unklar +++

+++ Der geplante Jugendkanal von ARD und ZDF bedarf konzeptioneller Nachbesserungen; die rheinland-pfälzische Regierungschefin Malu Dreyer (SPD) wurde zitiert, es gebe "noch offene Punkte", etwa Fragen "zur inhaltlichen Gestaltung und zur Finanzierung", aha. Die FAZ vom Samstag: "Kritische Stimmen aus den Ländern fragen zudem, warum die bisherigen Jugendangebote von ARD und ZDF so wenig erfolgreich sind, ob sich das Problem mit einem Jugendkanal nicht einfach vergrößere und man nicht vielleicht vor allem auf Angebote im Internet setzen solle" +++ Die FAS weist vorsorglich darauf hin, dass in ein paar Jahrzehnten "auch die heute 14- bis 29-Jährigen im richtigen Fernsehalter" seien, also alt – wenn man noch lange genug über den Jugendkanal diskutiere, "könnte er vielleicht doch noch ein Erfolg werden" +++

+++ Bundestagspräsident Norbert "Contra Quote" Lammert, CDU, hat derweil seine alte Schallplatte wieder mal aufgelegt: "Es gehe auch bei den Öffentlich-Rechtlichen nur noch um 'Quote, Quote und nochmals Quote'; es sei die Frage, inwieweit das System der Rundfunkgebühren weiter zu rechtfertigen sei" (SZ) – wobei die Infragestellung des kompletten Systems bei seiner sonstigen Kritik an ARD und ZDF nicht standardmäßig ist +++ Apropos Schallplatte: Selbst digital klänge klassische Musik im ARD-Hörfunk wie in UKW, schreibt die SZ in einem interessanten nicht nur medialen Medienseitenaufmacher: "Klassiksendungen werden in der Regel – selbst digital – in 'ARD-Qualität' ausgestrahlt. ARD-Qualität, das bedeutet, dass die Musik in Frequenzspektrum und Dynamikumfang gegenüber den Originalaufnahmen deutlich reduziert ist. (...) Ausstrahlung über UKW, wie sie am 28. Februar 1949 vom BR in München-Freimann auf 90,1 MHz in Europa zum ersten Mal gestartet wurde, ist ohne derartige Manipulation nicht möglich. Frequenzen oberhalb 15kHz lassen sich über UKW nicht übertragen, und leise Stellen der Musik verschwinden ungehört im Grundrauschen des Sendesignals. Für Pop stellt das kaum ein Problem dar, kommt doch diese Musikrichtung meistens gleichmäßig laut daher" +++

+++ Benjamin von Stuckrad-Barre fordert mit einem "Lexikon des Grauens", nämlich der bitte nie wieder zu verwendenden Politikjournalistenphrasen, indirekt das Ende des Formats "Leitartikel" (WamS). Kann man im Grunde so in allen Redaktionen verteilen +++

+++ Nochmal um den fehlenden ARD-"Brennpunkt" ging es am Wochenende in SZ und FAZ. Die SZ protokollierte; für die FAZ formulierte Stefan Niggemeier seinen Blogbeitrag um (siehe auch Altpapier) und erweiterte ihn um die Erklärung der ARD, "dass ein 'Brennpunkt' über die 'bereits vorgesehene, umfangreiche nachrichtliche Berichterstattung in einer verlängerten Hauptausgabe der 'Tagesschau' hinaus zu diesem Zeitpunkt kaum weitere filmische Erkenntnisse hätte liefern können'", sowie um seine Zweifel daran: "(I)n anderen Fällen legt die ARD keineswegs solche strengen Maßstäbe an die Einsetzung eines 'Brennpunktes'" +++

+++ Im Fernsehen: "die story: Antisemitismus heute – Wie judenfeindlich ist Deutschland?" bespricht der Tagesspiegel (ARD, 22.45 Uhr) +++ "Auf den Spuren Fellinis" bespricht Fritz Göttler für die SZ (Arte, Montag, 0.50 Uhr, Dienstag, 15.25 Uhr) +++ Die TAZ "1001 Macht" (23.30 Uhr, ARD)

Das Altpapier gibt es am Dienstag wieder.

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