Hitler geht immer

Hitler geht immer

Dicke Hitler-Tagebücher-Story in der Zeit. Außerdem: Der Spiegel und die Muttersprache, Altverleger Alfred Neven DuMonts innere Größe muss doch nicht überschätzt werden.

Wirklich steil sind die Thesen selten, mit denen die Wochenzeitung Die Zeit ihre Titelstorys überschreibt. Daher wirkt sie ja so seriös. Aber heute: "Hitlers letzter Sieg"? Vor gut 30 Jahren, Ende April 1983, habe er stattgefunden, ist offenbar die Logik der Schlagzeile.

Zum bevorstehenden 30-jährigen Jubiläum (darf man Jubiläum schreiben? Als Nicht-Fan des Stern darf man wohl) der Veröffentlichung der Hitler-Tagebücher hat die Zeit ein in jeder Hinsicht dickes Ding, eine "wirklich exklusive Geschichte, die es in sich hat" (Chefredakteur Giovanni di Lorenzo im aktuellen Werbevideo): das "Tagebuch der Tagebücher", das der letzte lebende unter den drei im Frühjahr '83 verantwortlichen Stern-Chefredakteuren, Felix Schmidt, kurz nach dem Platzen des Schwindels und dem Ende seiner Stern-Chef-Tätigkeit geschrieben, aber nicht veröffentlicht hatte. "30 Jahre lang ließ Schmidt sein Manuskript, das wir hier gekürzt dokumentieren, unberührt", leitet Die Zeit ihr dreieinhalb-, inklusive Bonusmaterial viereinhalbseitiges Dossier ein. Und lässt auch nicht unerwähnt, dass Schmidt es "auf Anregung des damaligen 'Zeit'-Chefredakteurs Theo Sommer" geschrieben habe.

Schon in dieser Autorennotiz klingt es enorm dramatisch (z.B.: "Kurz vor Druck vertraute er", Schmidt, "sich seinem Freund Thomas Schröder vom 'FAZ'-Magazin an, der seine aufkommenden Zweifel verstärkte. 'Wenn wir einer Fälschung aufgesessen sind', sagte Schmidt zu Schröder, 'ist die tiefste Stelle der Alster nicht tief genug, um uns aufzunehmen'..."). Und der letzte Satz des Tagebücher-Tagebuchs lautet:

"Eine Meldung über den Rücktritt der stern-Chefredakteure Peter Koch und Felix Schmidt wird formuliert. Sie wird um 19 Uhr in heute und um 20 Uhr in der Tagesschau verlesen. Sie klingt in meinen Ohren wie eine Selbstauslöschung."

Aber so dramatisch verlief es dann doch nicht, wie bereits der vorangestellten Autorennotiz zu entnehmen ist:

"Schmidt wurde später Autor für das 'FAZ-Magazin', die 'Welt am Sonntag' und Arte. Er war Geschäftsführer mehrerer TV-Firmen des Holtzbrinck-Konzerns, in dem auch die 'Zeit' erscheint. Heute lebt Schmidt, 78, in Hamburg und Südfrankreich."

Noch immer offenbar fungiert Schmidt (mit dem erwähnten Schröder) als Geschäftsführer der FTS Media GmbH, die etwa "Das Philosophische Quartett" im ZDF solange herstellte, wie es es gab, seither aber nichts mehr auf Sendung haben zu scheint. Auf der FTS-Webseite stellt er sich jedenfalls mit schönen Attributen als Journalist, der "einer informationsbedürftigen Öffentlichkeit an ersten Positionen viele Jahre nachrichtengebend und meinungsbildend gedient" habe, vor.

Was Schmidt nun also, gekürzt und überarbeitet, schreibt bzw. anno '83 schrieb, ist sehr lesenswert, sowohl für nicht mehr ganz junge Medienbeobachter, die die handelnden Personen so oder so kennen, als auch für jüngeres Publikum, um sich die mediale Dynamik der vordigitalen Ära zu vergegenwärtigen. Zwei Beispiele:

"Über den Zeitpunkt der Veröffentlichung der Tagebücher wird erstmals intensiv im Winter 1982/83 gesprochen. Es sind schon rund 45 Bücher im Hause - 'Aber es werden immer mehr, und sie werden immer teurer', jammert Schulte-Hillen [Gerd, der damalige Gruner+Jahr-Chef; AP]. Der Vorstandsvorsitzende will mit Heidemann [auch Gerd, dem hauptverantwortlichen Stern-Reporter; AP], der ihn regelmäßig zum Geldabholen besucht, ernsthaft darüber reden, die Beschaffung der restlichen Bände zu beschleunigen. Es fehlen vor allem Bände des Jahrgangs 1944. Rund acht Millionen Mark sind Heidemann zu diesem Zeitpunkt ausgehändigt worden. (Später wird sich herausstellen, dass Gruner + Jahr insgesamt 9,3 Millionen Mark für die Beschaffung der Tagebücher gezahlt hat - Anm. d. Red.). Als Termin für den Beginn der Veröffentlichung wird der 5. Mai bestimmt. Heidemann hat immer neue Einwände. Er will noch so viel aus seiner Quelle in der DDR herausholen - etwa eine angeblich von Hitler verfaßte Oper 'Wieland der Schmied', den dritten Band von 'Mein Kampf' und dergleichen. Heidemann: 'Wenn wir jetzt schon mit der Veröffentlichung beginnen, bekomme ich nichts mehr.' Er bittet, den Termin auf September zu verschieben. Von Walde bekommt er Unterstützung. Auch er will 'später' beginnen, schließlich müßten er und Pesch noch drei weitere Serien-Folgen 'Hitler und die SA' schreiben..."

Die Veröffentlichung wurde weiter verschoben, Fragen nach der Echtheit wurden dringlicher, aber Stern-Reporter Heidemann blieb standhaft beim Verschweigen seiner Quelle, also des Fälschers Konrad Kujau, wie man später wusste:

"Schulte-Hillen beendet die Diskussion mit der Bemerkung: 'Ich übernehme jetzt die Gesamtverantwortung.' Ein Wort. (... das Schulte-Hillen später bestritt. Vielmehr habe er zu Heidemann gesagt: 'Mit Ihrer Weigerung laden Sie mir die Gesamtverantwortung auf.' - Anm. d. Red.). Abends kommt Heidemann mit der ehemaligen Fernsehmoderatorin Barbara Dickmann, die seit kurzem beim stern arbeitet, in mein Büro. Ich versuche es auch noch mal. Ich gieße ihm fleißig ein. Vielleicht lockert das die Zunge. Heidemann: 'Herr Schmidt, Sie wissen doch, daß Menschenleben in Gefahr geraten, wenn ich den Namen preisgebe...'"

Dann erstaunt noch die Passage "Ferner sei bei der 'historischen Prüfung' ein Fehler bei der Datierung eines Gesetzes zum Schutze der Landwirtschaft festgestellt worden. Der 'Tagebuch'-Hitler will das Gesetz am 11. Januar 1933 unterschrieben haben, das Bundesarchiv aber belegt, daß das Gesetz am 19. Januar 1934 in Kraft trat". Schließlich hatte Hitler ja erst am 30. Januar '33 die Macht übernommen... (Vielleicht gewinnen die ersten 50 aufmerksamen Leser, die sich bei der Zeit auf den versteckten Fehler melden, eine Hamburger Hafenrundfahrt mit Theo Sommer?). Es lohnt sich jedenfalls, dass Dossier zu lesen.

Bloß: Warum zum Teufel "Hitlers letzter Sieg"? Offenbar bezieht die Haupt-Schlagzeile sich am ehesten auf das das Dossier abschließende Interview (S. 19) mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer (gerade auch in der Community der Wochenzeitung Freitag en vogue, bei der Zeit aber auch sonst, also sehr en vogue). Welzer erklärt die damalige Verblendung so vieler Stern- und G+J-Verantwortlicher als

"... Gruppendenken. Man sucht nur noch Bestätigung für das, was man tut. Bei der Euro-Rettung geht es übrigens nicht anders zu. Das ist doch fatal, dass seit Jahren dasselbe Personal diese sogenannte Krise managt. ... ... Je mehr Entscheidungen in eine Richtung Menschen schon getroffen haben, desto unwahrscheinlicher wird, dass sie eine andere einschlagen."

Und sagt zum Hitlerthema u.a.:

"Hitler als kultisch verehrter 'Führer', das war damals noch Bestandteil des kommunikativen Gedächtnisses. Der Hitler-Kult der NS-Zeit setzte sich daher nicht nur in Form der Dämonisierung fort. Ich erinnere mich gut daran, wie meine Eltern noch in den siebziger Jahren reagiert haben, wenn sie im Fernsehen Originalaufnahmen von Hitler sahen. Da waren noch immer Faszination und Ehrfurcht."

Das sei aber

"vor allem ein generationelles Phänomen. Die Hitler-Faszination übertrug sich nicht mehr in die dritte und vierte Generation. Und ich bin mir sicher, dass Hitler immer unwichtiger werden wird für die Erinnerungskultur. Da haben wir das Schlimmste hinter uns. Hitler ist nicht mehr, was er mal war!"

Deshalb also, wenn ich es recht verstehe, "Hitlers letzter Sieg". Ob sich solche generationellen Probleme nicht vor allem generationell erledigen, und ob, wenn man "Sieg" in solch übertragenem Sinne versteht, sicher nicht jedes, aber jedes dritte oder vierte Hitler-Cover weiterhin so eine Art "Sieg" sein könnte - derlei Fragen bieten sicher noch Stoff für fünf, sechs Zeit-Dossiers und ein paar Dutzend Spiegel-Titelstorys.  

Was macht eigentlich der schon erwähnte Gerd Schulte-Hillen? "Heute, mit 72 Jahren, ist er Strategieberater", informiert die Wer-war-dabei?-Randspalte in der Zeit, und zuvor:

"Schulte-Hillens Motiv war weniger Geldgier oder Größenwahn wie bei anderen Beteiligten. Er war der nüchterne Geschäftsmann, der einfach wusste: Hitler geht immer."

Trotz diverser Fehler, zu denen auch seine Beteiligung an David Montgomerys Berliner Zeitung-Abenteuer gehörte: Diese Schulte-Hillen-Strategie ist übergenerationell wirksam geblieben.

####LINKS####

[+++] Was macht eigentlich der schon erwähnte Stern? Heut die Titelstory "Schampus für alle!"/ "Aldi hat unser Land verändert - wie kein anderes Unternehmen. Ein Blick hinter die Fassade des Imperiums".

[+++] Weitere alt-ehrwürdige Medien der Bundesrepublik im Schnelldurchlauf: Das Sturmgeschütz der Demokratie, der Spiegel, befindet sich in rechtlichen Auseinandersetzungen mit seiner langjährigen Indien-Korrespondentin Padma Rao. Als ihr Vertrag nicht verlängert wurde, bekam die Inderin offenbar mitgeteilt:

"Niemand bestreitet deine journalistischen Fähigkeiten: Es ist der zentrale Punkt, die schön geschriebene Geschichte, wie sie ja auch nur von einem Muttersprachler erwartet werden kann, die eine Korrespondentenstelle außer Reichweite rückt",

zitiert die TAZ aus einem Schreiben an Rao. Nachdem das Arbeitsgericht Hamburg eine Klage wegen abwies, klagt Rao nun in Indien. Passend dazu berichtet die Zeit (S. 28), sehr neutral, über die gerichtliche Auseinandersetzung der versetzten London-Korrespondentin Bettina Schulz mit ihrem Arbeitgeber FAZ (siehe newsroom.de, newsroom.de).

[+++] "Kaum staunte man über die innere Größe des Verlegers Alfred Neven DuMont, 86", und die der Chefredaktionen seiner Berliner Zeitung, da verschwand der Anlass dieses Staunens schon wieder aus dem Netz: Ober-Perlentaucher Thierry Chervel und meedia.de im Wechselspiel über das überraschende Auftauchen und das nicht so überraschende Verschwinden einer negativen Arno-Widmann-Äußerung über den jüngsten Roman des Altverlegers. "Wenn ein Feuilletonist verlangt, die Literatur solle zugunsten der Bilanzen schweigen, dann ist dies zumindest eine hochgezogene Augenbraue wert", orakelt meedia.de-Chefredakteur Christian Meier.

Die angespannte Lage bei der BLZ, bei der laut Betriebsrat "mindestens 46 Jobs auf der Kippe" stünden, auch wegen geplanter Abteilungs-Verlagerungen nach Köln, fasst journalist.de zusammen.
 


Altpapierkorb

+++  Auch die heutigen Top-Schlagzeilen über ein "Gigantisches Netzwerk der Steuerhinterzieher" werden in Kürze Medienthema sein. Das "Internationale Konsortium für investigative Journalisten" (icij.org) hat 2,5 Millionen Dokumente bzw. 260 Gigabyte Daten aus zehn Steueroasen, in denen 130.000 Personen aus mehr als 170 Ländern genannt seien, ausgewertet. Deutschsprachigerseits waren die Süddeutsche Zeitung (die den verstorbenen Erben, Playboy und Fotografen Gunther Sachs als Aufmacher auswählte: "Das System Sachs"), der NDR und die schweizerische Sonntagszeitung dabei. +++

+++ Hohn mit Hohn vergilt meedia.de und wundert sich in harschen Worten über einen seltsamen Artikel des Chefredakteurs Ulrich Reitz zum gestrigen 65. Geburtstag seiner krisengeschüttelten Zeitung WAZ: "Unter der Überschrift 'So entsteht eine kritische Geschichte mit Nutzwert für die Leser' (kein Witz, das ist wirklich die Überschrift) fabuliert Reitz im 'Frag doch mal die Maus'-Stil über Daten-Journalismus und wünscht sich von seiner Redaktion zum Zeitungsgeburtstag 'mal was Kritisches'. ... ... 'Ja, und das machen die jetzt', schreibt WAZ-Chef Ulrich Reitz in Dudu-Sprache." +++ Das WAZ-Portal derwesten.de findet mit der "erstaunlichen Transferleistung", die Meldung über Angela Merkels Ärger über Paparazzifotos von ihrem Urlaub in der Bild-Zeitung "mit einem der besagten Paparazzi-Fotos zu bebildern", Erwähnung im Bildblog. +++

+++ Jörg Armbrusters Rettung aus Syrien nimmt der Tagesspiegel zum Anlass, "International SOS" vorzustellen, das Unternehmen wie den SWR "bei der Bewältigung der medizinischen und Sicherheitsrisiken" in gefährlichen Regionen unterstützt, und die Frage nach einer "Zweiteilung in besonders gefährdete freie und bessergestellte, fest angestellte Korrespondenten" aufzuwerfen. +++

+++ Den ersten Arbeitstag des neuen BBC-Generaldirektors Tony Hall würdigt sueddeutsche.de. +++ Die neue New York Times-Büroleiterin in Berlin, die bisherige International Herald Tribune-Chefredakteurin Alison Smale, würdigt newsroom.de. +++

+++ "Und mal wieder ist alles gut gegangen", so der Tenor im ausführlichsten und bestinformierten Beitrag zu Harald Schmidts Vertragsverlängerung bei Sky (dwdl.de). +++ Indes Dieter Hildebrandts stoersender.tv stellt taz.de vor. +++

+++ Marcel Weiß' Schwein pfeift! Bzw. stellt sich der neunetz.com-Blogger auch auf Carta Evgeny Morozov, dem "Hitman der Feuilletons", oder gewiss auch hiesigen Intellektuellen, die sich beleidigt fühlen ("Der deutsche Intellektuelle kann nichts, außer auf die Häppchen zu warten, die ihm Morozov, Lanier oder Carr aus den USA zuwerfen. In Deutschland, von Schirrmacher teilweise abgesehen, kommt aus den Kreisen derer, die Schreibzugriff auf die Feuilletons haben, nichts außer pure Ablehnung gegenüber 'dem Internet'...") zum Shootout. +++

+++ Die SZ-Medienseite geht dem Trend zu mattem Papier bei Zeitschriften noch (wobei "Magazine auf mattem Papier erobern den Kiosk" dann doch übertrieben scheint) und lässt Thomas Schuler von der "Krise der Ombudsleute" bzw. Public Editors in den USA berichten (S. 29). +++

+++ Die FAZ-Medienseite berichtet vom Projekt des oppositionellen aserbeidschanischen Senders "Meydan TV" in in Berlin-Moabit und beschreibt den Triumph des "ehemaligen Trotzkisten" und Gründers des Portals médiapart.fr, Edwy Plenel, im aktuellen französischen Politiskandal. +++

+++ Nichts oder kaum etwas mit Medien, aber eine Sentenz, die auf künftigen Sinnspruchkalendern lange  bleiben könnte, formulierte Joachim Huber für die Tagesspiegel-Kommentarseite: "Eine Gesellschaft, die alle Süchte verbietet, verbietet auch die Sehnsucht". +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.
 

weitere Blogs

Ein mysteriöser Todesfall, das Mauern der Einheimischen und eine latente Homophobie begegnen einer lesbischen Pastorin bei ihrer Ankunft in einer ostdeutschen Kleinstadt. Aus der Großstadt bringt sie zudem ihre persönlichen Konflikte mit. Beste Zutaten für den Debütroman „In Hinterräumen“ von Katharina Scholz.
Nach 15.000 Kilometern und fünf Monaten ist Leonies Reise vorbei. Was bleibt? In ihrem letzten Blogbeitrag schaut sie auf ihre Erfahrungen zurück.

Vom Versuch nicht zu hassen. Biografische Streiflichter von gestern, das irgendwie auch heute ist.