Sich besoffen machen lassen

Sich besoffen machen lassen

Während Bettina Wulff jetzt die Talkshows zu bespaßen beginnt, folgt dem ESM-"Hype" schon der iPhone-"Hype". In den Medien wird heute, bei allen Hypes, aber auch die Frage diskutiert, woher die ganze Aufregung komme: Hauptsache, Grusel? Berichtet man, weil alle berichten? Berichtet man, obwohl alle berichten? Ist die Kanzlerin schuld?

Nach wochenlangen Spekulationen ist es nun also endlich da, das neue Altpapier. Es trägt den Titel "Sich besoffen machen lassen" und ist der Nachfolger des legendären "Altpapiers vom Mittwoch", dem das "Altpapier vom Dienstag" vorausgegangen war. Vor diesem war das "Altpapier vom Montag" erschienen.

FAZ.net schreibt über die Vorzüge des Neuen:

"Das Neue ist ein Fünftel dünner (7,6 Millimeter) und leichter (112 Gramm)  und rund einen Zentimeter höher als die (vorangegangenen) Modelle. Kamen bislang Anzeigen mit einer Displaydiagonale von 3,5 Zoll (8,9 Zentimeter) zum Einsatz, sind es nun 4 Zoll (10,2 Zentimeter). Aus dem alten Seitenverhältnis von 3:2 wird nun ein hagerer Hüne im Format 16:9."

Halt, sorry. Da ist mir jetzt eine Passage aus der FAZ.net-iPhone-Präsentation reingeraten. Die scheint von der breiten Masse ohnehin wieder besser wahrgenommen zu werden als das Altpapier. Falls auch Sie sich heute morgen noch dafür interessieren, wie am gestrigen Abend die Vorstellung des neuen schnuckeligen Apple-Dingsdibumsdis lief, dann klicken Sie bitte zum Beispiel zum Minutenprotokoll bei Spiegel Online, das gegen 20 Uhr Seitenaufmacher war, zum Live-Bericht auf sueddeutsche.de von Helmut-Martin-Jung (London), Bernd Graff, Mirjam Hauck, Johannes Kuhn und Pascal Paukner, zu besagtem FAZ.net-Text, zur vorübergehenden Site aufmachenden Tickernachlese bei focus.de, zum vorübergehenden Seitenaufmacher bei stern.de, zum handelsblatt.de-Aufmacher, zum Liveticker bei fr-online.de, zum Liveblog von tagesspiegel.de, zum Seitenaufmacher von Welt Online, zum Liveticker von ftd.de oder natürlich zu den besonders gut gelesenen Journalismusportalen gmx.de und bild.de. Allerdings, jetzt kommt's: kein "Brennpunkt".

Ich will mich über diese Welle der iPhone-Präsentationsdossiers, die das Altpapier den ESM auf der Nachrichtenagenda ruckizucki auf die Plätze verwiesen, aber gar nicht lustig machen. Der Plemplemfinger ist ja in Sachen iPhone-Berichterstattung weder weniger verbreitet noch kommt er erkennbar weniger reflexhaft als der Hurra-Ruf. Interessant finde ich aber die hier und da gleich miterörterte Frage, warum auf ein Ereignis, das jenseits der Aktienmärkte eigentlich wirklich keines ist, so viele anspringen; das besagte iPhone ist ja noch nicht einmal im Handel. Man könnte Harald Martenstein befragen, der, wie schon seinerzeit hier im Altpapier zitiert, in einem gestern Abend mit einem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichneten Text über den "Sog der Masse" auch ein paar Sätze über eine Art Journalisten-Mainstream schrieb:

"Weil ich seit längerer Zeit in den Medien arbeite, glaube ich, sie einigermaßen zu durchschauen. Es gibt keine geheimen Verschwörungen, so wenig, wie es gezielte Kampagnen gegen einzelne Politiker gibt. Es stimmt, dass es einem manchmal so vorkommt – fast alle schreiben das Gleiche. Alle sind gegen Westerwelle und gegen Kernkraft, alle waren für Klinsmann. Das hängt damit zusammen, dass die meisten Menschen ungern alleine dastehen. Sie möchten Erfolg haben und geliebt werden. Das gilt auch für Journalisten. Im Mainstream ist man sicher. Die meisten Medien spiegeln folglich den Mainstream wider und verstärken ihn dadurch noch, aber sie erschaffen ihn nicht."

Da ist sicher was dran: Man berichtet über das iPhone, weil man eben darüber berichtet. Schweigen ist andererseits natürlich auch wirklich nicht gerade eine journalistische Kerneigenschaft, selbst wenn man es manchmal zumindest in Erwägung zieht, und Stefan Plöchinger, Chefredakteur von sueddeutsche.de, thematisiert daher in Sachen Apple in einer Kolumne eine "journalistische Schizophrenie":

"Es darf gern auch Sie als Leser befremden oder faszinieren, wenn Produktschauen wie jetzt bei Apple oder kürzlich beim VW Golf VII auf Nachrichtenseiten mehr Klicks produzieren als die Euro-Rettung. Am Ende geht es wohl einfach darum, Ihnen diese Tatsache weiterzusagen. Nehmen Sie diesen Text als Warnung in Sachen Lese- und Kundengesundheit: Betrachten Sie den Hype als solchen. Und verzeihen Sie es der anderen Hälfte der Menschheit, wenn Sie zu jenen gehören, die auf diese Geschichten verzichten könnten."

Es komme auf das Wie an, nicht auf das Ob, schreibt Plöchinger, und er streift auch die Frage, ob sich Journalisten mit ihren ausführlichen Produktbegleitungstexten vor den Karren einer großen Maschine spannen lassen. Eine Frage, die auch jenseits von Apple von Belang ist. In Sachen Bettina Wulff etwa, über deren Leben mit dem Gerücht die Süddeutsche am Samstag berichtete (Altpapier), und damit – womöglich unwissend – genau an jenem Tag, an dem, was vom Verlag so nicht angekündigt war, ihr Buch plötzlich im Handel lag. Oder in der Angelegenheit Emir: Hat sich die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vor den Karren der Bild spannen lassen, als sie als erste über die Mailboxnachricht Christian Wulffs auf Bild-Chef Kai Diekmanns Anrufbeantworter berichtete? FAS-Redakteur Volker Zastrow sagt dazu im Medium-Magazin-Interview, das anlässlich der Verleihung eines weiteren Theodor-Wolff-Preises an ihn geführt wurde:

"Wenn man als Journalist Kenntnis von solchen Sachverhalten erlangt, wonach bemessen Sie dann, wann man sich vor welchen Karren spannen lässt? Indem man sein Wissen für sich behält oder indem man es veröffentlicht? Das galt es abzuwägen."

+++ Im Bereich Print übrigens ist der iPhone-Hype heute auf einer deutlich geringeren Stufe vertreten. Nils Minkmar nutzt zwar im FAZ-Feuilleton das Wort "Hype", aber er nutzt es für das Karlsruher ESM-Urteil, das heute noch die Zeitungstitel dominiert, aber, wie gesagt, online am Mittwochabend schon auf diversen Seiten vom nächsten großen Ding abgelöst war:

"'Decision Day' nannte es seit Tagen die vielgelesene amerikanische Boulevardseite 'Drudge Report', zeigte sogar ein Foto: Deutsche in roten Roben, stehend, das passt sogar auf eine Website, die sonst an dieser Stelle die Geburt zweiköpfiger Kälber anzeigt oder Kadaver von kryptozoologischem Interesse abbildet. Ist es ein das Ende aller Zeiten ankündigendes Biest, oder läuten acht Deutsche das Armageddon aller Märkte ein? Hauptsache, Grusel!"

Auch Carta wundert sich angesichts des ergangenen Urteils, das letztlich unspektakulär sei und damit "fiebersenkend" wirke, rückblickend über die aufgeheizte Stimmung: "Was hatten wir eigentlich alle in den letzten Tagen? Wieso haben wir uns so besoffen machen lassen von dieser Stimmung, da komme etwas ungeheuer Wichtiges und Grundsätzliches und Weichenstellendes auf uns zu?"

Frank Lübberding fragt sich das am Rande auch, in seiner Frühkritik, die ein total simples, wahnsinnig schwieriges Format ist, das bei FAZ.net aber häufig gelingt, wenn es darin um Verwobenheiten von Politik und Medien geht. Wie Minkmar stellt auch er die Teildiagnose Merkel: "Die deutsche Debatte ist nach zwei Jahren der Verschleierung von Fakten und der bewusst unklaren Positionsbestimmungen vollends auf den Hund gekommen."

Was Folgen für den Journalismus habe – wobei Lübberding "Fakten" und "Interpretation" für meine Begriffe ein wenig zu bundespräsidial trennt:

"Wenn Fakten aber zu einer Frage der Interpretation geworden sind, ist der Journalismus am Ende. Er muss sich für eine Interpretation entscheiden – und wird damit selbst Partei. Er wird nicht mehr zur Grundlage der Meinungsbildung, sondern wird selbst nur noch als Meinung betrachtet."

+++ Ob es übrigens zwingend ist, dass Nils Minkmar mit dem Drudge Report ausgerechnet eine Onlineseite als Beispiel für den ESM-Hype vorführt, wo doch auch die eine oder andere Zeitung dem Karlsruher Urteil entgegenfieberte wie einem Gladiatorenkampf , bei dem am Ende der Daumen gehoben oder gesenkt wird, sei infrage gestellt. Aber Richard David Precht wird das womöglich als Beleg für die Richtigkeit seiner Thesen abspeichern, die er laut Werben&Verkaufen bei einer Grossotagung in Baden-Baden abgesondert haben soll:

"Die Aufgabe von Massenmedien sei es nicht in erster Linie zu informieren und zu unterhalten, sondern 'Öffentlichkeit über relevante Themen herzustellen' und so als 'sozialer Kitt' zu wirken. Dies könnten Printmedien besser leisten als das Internet. Das Netz stelle zwar ein unglaubliches Verfügungswissen auf Knopfdruck zur Verfügung. Doch wer helfe einem, zu unterscheiden was relevant sei und was nicht?"

Ja, keine Ahnung. Vielleicht ist ein Einführungsreader in die Kommunikationswissenschaft von 1998 auch nicht der Text, mit dem sich heute noch ein gewinnbringender Vortrag über Medien schreiben lässt.

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Interessanter – oder war es relevanter? –, jedenfalls heutiger und weniger billigen Applaus heischend, erscheint mir die Debatte über Googles Autocomplete-Funktion (siehe Altpapier), die im Zusammenhang mit der exklusiven Berichterstattung von Stern, Brigitte, Bunte sowie, laut Tagesspiegel, bald auch bei "Menschen bei Maischberger" und "3nach9" geführt wird: "Was soll Google in Fällen wie bei Bettina Wulff tun? Autovervollständigen anpassen oder nicht?" Das fragte Zeit Online dieser Tage einige sog. Netzexperten. "Googles Argument, die Funktion spiegele nur die Realität wieder und forme sie nicht, ist lächerlich. Schließlich hat Google den Code für den Algorithmus selbst programmiert", sagt etwa Evgeny Morozov. Und mehrfach taucht dann der Vorschlag auf, Google solle einfach die negativen bzw. "klar negativen" Vorschläge bei der Autovervollständigung abschaffen.

Wer "negativ" definieren darf, das wäre die nächste Frage.


ALTPAPIERKORB

+++ In der gedruckten Zeit schreibt Victor Mayer-Schoenberg heute über den Google-Algorithmus +++ In der FAZ darf mal wieder ein Pirat ran: Bruno Kramm schreibt großflächig über die Gema ("Wehrt euch endlich!") +++ Und drittes langwieriges Megathema: Diese Sache mit der "Tagesschau"-Melodie ist noch nicht ausgestanden. Während sich die einen dafür interessieren, was die Überarbeitung kostet, nämlich nach offiziellen Angaben wenig, wobei die Angaben zwischen "kein Honorar" und "sieht so aus" schwanken sollen (SZ), weiß Bild, die gerade schon nichts wusste, dass sie es doch wusste (kress), was glauben soll, wer mag. Und dann hätten wir da noch eine mich nicht rundum überzeugende Erörterung, derzufolge die "Tagesschau" ihre Melodie schon 2000/2005 verändert habe, "und zwar gravierend" (Stefan Niggemeier) +++

+++ Die neue ARD-Generalsekretärin heißt Susanna Pfab, sie tritt aber erst in zwei Jahren an (u.a. SZ/FAZ/taz) +++ Gestorben ist 64-jährig der Tennisreporter Gerd Szepanski (u.a. TSP) +++

+++ In Frankreich sollen 500 Stellen bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten von France Télévisions gestrichen werden, wobei die regionale Struktur von France 3 aufgeweicht werden könnte (SZ). Die FAZ dazu: "Die Verantwortlichen fordern eine „Kulturrevolution“ – der auch fünfhundert Arbeitsplätze zum Opfer fallen werden. Diese Pläne sind dermaßen unerwartet und radikal, dass sie den Sozialisten möglicherweise zu weit gehen. Unter einer rechten Regierung wären sie jedenfalls unmöglich zu verwirklichen und würden am Widerstand der Betroffenen und der Öffentlichkeit scheitern" +++ Zwei schwedische Journalisten, die weit mehr als ein Jahr in Äthiopien inhaftiert waren, seien frei, schreibt die taz +++

+++ Die neue G+J-Gesamtleiterin Julia Jäkel taucht in der SZ auf: "Sorgen darüber, was unter der Gesamtleitung Jäkels in Zukunft möglich sein könnte, macht den Mitarbeitern im Hamburger Verlag nun der Fall, auf den der Betriebsrat am 10. September in seinem Rundschreiben aufmerksam gemacht hat" – eine Kooperation von "Essen und Trinken" mit der Autostadt Wolfsburg +++

+++ Michael Spreng berät im SZ-Panorama-Interview Bettina Wulff: "Allein die ganzen Stichworte: Prostituierte, Präsident, Verleumdung... Das elektrisiert Medien und Öffentlichkeit doch automatisch. Und das Buch zu pushen ist legitim. Allerdings scheint sie ihre mediale Präsenz jetzt zu übertreiben. Das ist gefährlich. Dann kann die Stimmung auch kippen" +++

+++ Und viel Fernsehen ansonsten. In Kürze: Die taz über "Der Albaner" (Freitag, Arte) über das Leben eines sog. Illegalen +++ Die FAZ über die WDR-Mobbingdokumentation "Lucas' letzter Brief" (22.30 Uhr) und "GSI – Spezialeinheit Göteborg", freitags auf ZDF neo, sonntags im ZDF +++ Und es gibt einen Text über Jan-Gregor Kremp, den "neuen 'Alten'" – wobei: "Der 'Alte' ist zwar nun ein anderer, aber ansonsten bleibt beim 'Alten' alles, wie es schon immer war"; ist doch klar, man verändert ja auch nicht einfach mal die "Tagesschau"-Melodie +++ Die Berliner Zeitung über den Reportage-Selbstversuch "Vier Wochen Asyl" (ARD, 21.45 Uhr) +++ Die SZ hat Annette Frier getroffen, deren Film "Schleuderprogramm" läuft (ZDF, 20.15 Uhr) +++

Das Altpapier stapelt sich wieder am Freitag.

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