Daumen hoch/runter

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Die Fußball-EM ist vorbei, wir küren Gewinner und die, die auch dabei waren. Mit dabei: spielverlagerung.de, marcel-ist-reif.de, Marcel Reif, die gesamte Riege der professionellen Spielkommentatoren, Mehmet Scholl, die Uefa, das ZDF im Speziellen und die Öffentlich-Rechtlichen im Allgemeinen

Die Europameisterschaft ist Geschichte, Zeit also für das populäre Spiel "Gewinner und andere Teilnehmer". Einer der Gewinner, medial natürlich, ist meines Erachtens das Fußballblog spielverlagerung.de, vor allem dank seiner Twitter-Live-Analysen, die bestens funktionierten als fußballfachliche Ergänzung zum Fernsehkommentar, zu Vorträgen also, die man sich als Zusammenstellung aus Spieler-Trivia, Statistikdaten und verfrühten Festlegungen vorstellen kann.

Ein zweiter Gewinner sind dennoch die Fernsehkommentatoren, die durch marcel-ist-reif.de jene Konkurrenz bekommen haben, deren Aufkommen eigentlich nur eine Frage der Zeit war: Die Site bot zwar user generated Fußball-Live-Kommentare – aber keiner der angemeldeten Hobbykommentatoren drängte sich dort übertrieben brutal für kommende Großaufgaben auf; ein Spiegel-Online-Autor hat dieser Tage in einem Selbstversuch ganz anschaulich dargelegt, dass gutes Kommentieren vielleicht doch ein paar Fähigkeiten erfordert. Was den Schluss zulässt, dass man Fernsehfußballkommentatoren am besten in die Kategorie einordnet, in die auch Fernsehtontechniker und seit einigen Jahren Thomas Gottschalk (der im mehrseitigen Spiegel-Interview zu seiner Zukunft bei RTL nichts wirklich Bedeutsames sagt, es sei denn, man erachtet es als bedeutsam, dass er selbst trotz RTL-Engagements auch weiter für die ARD ran würde) gehören: Sie können etwas, was andere nicht können, was aber niemand weiß, weil man sie vor allem in dem wahrnimmt, was sie falsch machen.

Wer aber war der größte Gewinner unter den Kommentatoren? Der Süddeutschen Zeitung fiel da am Samstag der Name Marcel Reif ein, mit dem Holger Gertz sich für eine Seite-3-Reportage das Halbfinale Italien-Deutschland auf der Couch anschaute. Reif, richtig, das ist der Kerl, der bei der Europameisterschaft frei hatte, da er für Sky arbeitet. So kann man als Reporter eine ganze Herde von eingesetzten Stadionkommentatoren in einem Aufwasch zur Schnecke machen, ohne sie namentlich zu erwähnen. Gertz meint:

"Wer den Fußball mag und sich drei Wochen lang die Menschen in der ARD und im ZDF anhören musste, das Gerede von Standardsituationen und vom neuen Sommermärchen und von Pferden, die man vor der Apotheke hat kotzen sehen – der wünschte sich: Reif zu hören."

Auch dabei, als Nicht-ganz-so-Gewinner? Das ZDF vielleicht? Der "Fußballstrand", an dieser Stelle auch schon mehrfach Thema, wurde bis heute von niemandem ernsthaft zur Neuauflage empfohlen, es gibt stattdessen aber noch ein paar weitere kritische Stimmen zum Abschluss. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die den EM-Journalismus über mehrere Wochen begleitet hat, schrieb gestern, nachdem sie noch einmal den von ihr bereits vergangene Woche gewürdigten Dadaismus der Katakombeninterviews beschrieben hatte:

"Komplementär zum Übermaß an Einfalt verhielt sich nicht erst bei dieser EM der eklatante Mangel an Journalismus. Aber was sollte man auch erwarten, wenn sich das ZDF an der Seebrücke in Heringsdorf häuslich einrichtete und von der Uefa vorschreiben ließ, dass es für dort produzierte Sendungen Eintritt zu nehmen habe? Wenn der Sportchef des ZDF öffentliche Kritik an den Darbietungen des Duos Katrin Müller-Hohenstein und Oliver Kahn mit den Worten konterte: 'Das ist nicht die Wahrnehmung, die wir haben'? Einer derart honeckerhaft verengten Wahrnehmung entging, dass selbst die ARD einen besseren Eindruck hinterließ."

Selbst die ARD – das ist natürlich hart. Meint aber auch der Tagesspiegel im Rahmen der ausführlichsten Gewinner-Verlierer-Rechnung. Der Gewinner in der Einzelwertung hier, wie auch in der FAS, heißt Mehmet Scholl (ARD):

"Scholl lieferte die beste Einzelleistung aller Mitarbeiter ab. Der Mann kam weitestgehend ohne Floskeln aus, wenn er etwas nicht wusste, dann sagte er, dass er es nicht wisse, und wenn er anderer Meinung war, dann sagte er diese Meinung. "

Am Ende freilich täuscht sich der Kollege mit seiner vor dem Finale abgefeuerten Einschätzung etwas:

"Die Bilder vom Spiel, die freundlicherweise von der Uefa zur Verfügung gestellt werden, kommentiert Béla Réthy wie im Schlaf, was vor allem daran liegt, dass das Spiel der Spanier an die achtzigste Wiederholung eines Lena-Odenthal-Tatorts erinnert. Der Einzige, der in der Lage wäre, diesen Fernsehabend zu retten, ist Balotelli."

Für die nicht fußballaffinen Leser, die diesen Text ohnehin nicht bis hierher gelesen haben (falls doch – Grüße!): Spanien gewann am Sonntagabend kurzweilig 4:0. Ist ein interessantes Phänomen des Sportjournalismus während Sportgroßturnieren: der Journalist als Tierorakel. Kann man natürlich machen; wer orakelt, räumt ja von vornherein ein, dass er sich täuschen könnte.

Absonderlich ist ein anderes Phänomen: der Journalist als Hyperventilierer der jeweils gerade bestbedienbaren Emotion. Das Bildblog hat dazu ein bisschen was gesammelt:

"Bei jedem Fußballturnier ist es das Gleiche. Solange die deutsche Mannschaft gewinnt, sieht es in 'Bild' so aus:" (Es folgt eine Reihe von hysterisch hymnischen Zeilen.) "Sobald die deutsche Mannschaft aber rausfliegt, sieht es plötzlich so aus:" (Es folgt eine Reihe von maximal negativen Zeilen.)

Deutlich wird diesbezüglich, unter dem Bildblog-Artikel verlinkt, Arnd Zeigler ("Die wunderbare Welt des Fußballs"), der in einem Facebook-Posting eine verbreitete sport- oder, nein: klassisch boulevardjournalistische Herangehensweise geißelt:

"Es ist wirklich interessant zu beobachten, dass es für ein Abschneiden wie diesmal bei der BILD (und überraschenderweise auch bei vielen Fußball-Konsumenten) gar keine Kategorie mehr gibt. Es gibt nur 'Europameister' oder 'Vollversager'."

Diese Zeigler-Passage zitiert auch Stefan Niggemeier in seinem Blog – und fährt fort:

"Das aber ist leider kein exklusives 'Bild'-Phänomen. Das war in der Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender nicht anders."

Es folgt eine Reihe von Beispielen, zentral ist ein Beitrag Boris Büchlers (ZDF) nach dem Ausscheiden der DFB-Mannschaft. Niggemeier:

"Um den Eindruck einer Trauerfeier zu verstärken, sind die Ränder der Bilder abgedunkelt — ein Effekt, den RTL konsequent bei Sendungen wie dem 'Supertalent' benutzt, um künstlich Dramatik zu schaffen. Die gleiche Absicht, die gleiche Wirkung, hat er auch hier. Das ZDF zeigt in seiner Sondersendung nach den Nachrichten nicht, wie es war, sondern wie es sich angefühlt hat. Es ist eine konsequente Fiktionalisierung des Geschehens".

Was die trotzdem rundum berechtigte Kritik an der Uefa ein wenig relativiert: Die hat auch am Donnerstagabend offensichtlich wieder ein aufgezeichnetes Bild einer Stadionbesucherin in die Live-Übertragung geschnitten (SZ vom Samstag). Und Filmkritiker Peter Körte fordert in der FAS, die Dramatisierung – wenn schon – zu perfektionieren.

"Vielleicht wäre es angemessener, sich bei internationalen Ereignissen vom Range einer Fußball-Europameisterschaft endlich mal an den visuellen Standards einer großen Hollywood-Produktion zu orientieren und nicht an denen eines mittleren Fernsehspiels."


ALTPAPIERKORB

+++ Fußball Ende. Halt, nee, zwei Dinge noch: Ingo Zamperonis "Tagesthemen"-Abmoderation am Donnerstag (Halbzeitpause Deutschland-Italien: "Möge der bessere gewinnen" in zwei Sprachen) hat laut "Tagesschau"-Blog Zuschauer zu heftiger und offensichtlich wirklich dämlicher Kritik motiviert +++ Und dann ist da noch die Mario-Balotelli-Fixierung deutscher Medien, die in Balotellis Toren gegen das DFB-Team gründet. Das Blog Zum Blonden Engel hat sich drei Texte über Balotellis Jubelpose herausgepickt: "Seeßlen akzuentiert Balotelli als Farbigen, der Widerstand leistet; Poschart ihn als Wilden, der die Grenzen sprengt; Graff ihn als in der Urzeit Erstarrten. Keiner schafft es, sich von der Hautfarbe Balotellis zu lösen, bei allen bleibt er der Schwarze, der sich nur im Verhältnis zu seiner Hautfarbe deuten lässt" +++

+++ Fußball Ende. Wirklich. Zu den Personalien: Michaela Kolster ersetzt von November an Christoph Minhoff als Programmgeschäftsführerin von Phoenix. Die Süddeutsche (S. 15): "Kolster, die bisher das ZDF-Landesstudio in Düsseldorf leitete, wird beim Dokumentations- und Ereigniskanal in Bonn Teil jener berühmt-berüchtigten Doppelspitze, die bei der Sendergründung 1997 erdacht wurde, und die manchmal so wirkt, als sollten sich hier zwei Statthalter von ARD und ZDF gegenseitig in Schach halten. Die merkwürdige Konstellation zu ersetzen – etwa durch ein schlankeres Modell, bei dem ARD und ZDF abwechselnd die Geschäftsführung stellen – , dazu konnten sich die Anstalten trotz ihrer ständigen Klagen über knappe Finanzen nicht durchringen." Kolster hält sich dann mit dem von der ARD soeben bestätigten Michael Hirz vom WDR in Schach +++ Die Funkkorrespondenz beschäftigt sich im Aufmacher mit der Wiederwahl von Dagmar Reim als RBB-Intendantin: "" +++

+++ Strukturelles zum Fernsehen: siehe auch das taz-Interview mit Katharina Behrends, Chefin der deutschen Pay-TV-Sender von Universal Networks, über die Trennung von Spreu und Weizen, und der schönen Passage: "Gesamtmarktanteile von über 1 Prozent sind keine Seltenheit, Formate wie Navy CIS auf 13th Street etwa erreichen Einschaltquoten von rund 200.000. Die Zahlen machen eins ganz klar: Pay-TV ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen". Also umgerechnet dort, wo die FDP steht? +++

+++ Bestätigt ist, dass der Fernsehproduzent Oliver Fuchs der neue Leiter der ZDF-Hauptredaktion Show wird, vulgo: Unterhaltungschef +++ Und noch eine Personalie: Christoph Hauser, derzeit Programmdirektor bei Arte, wird im Frühjahr 2013 Fernsehdirektor des SWR (SZ, FAZ vom Samstag); die Funkkorrespondenz ergänzt die SWR-Personalien um zwei weitere Namen: die des künftigen SWR-Verwaltungsdirektors Jan Büttner und des kommenden Hörfunkdirektors Gerold Hug +++

+++ Bleiben wir beim SWR: Die FAZ schreibt über "Das Dorfexperiment" (23.30 Uhr, SWR), den Auftaktfilm zu einer fünfteiligen Dokumentarfilmreihe +++ Ebd.: Nils Minkmar über "Der große Euro-Schwindel" (22.45 Uhr, ARD), einen Film, der "ein weitverbreitetes Gefühl (bedient), dass wir nämlich in den Vorgängen rund um die nun schon zwei Jahre dauernde Rettung des Euro nicht vollständig informiert werden, dass vieles ohne Beteiligung der Parlamente, ohne Zeugen und der Berichterstattung entzogen geschieht". Gut gemacht, so die Wertung, aber mit einer pauschalisierenden Moral +++

+++ Die SZ derweil bespricht das "flotte" Arte-Zwischenprogramm "Alte Schachteln" (montags bis freitags, 19.05 Uhr), in dem drei Frauen Witze erzählen +++ Und Charlie Sheens neue Serie "Anger Management", die irgendwie von Sheen selbst zu handeln scheint, natürlich nur "fast": "'Ihr könnt mich nicht rausschmeißen. Meint ihr, ihr könnt mich durch irgendeinen anderen Typen ersetzen? Macht nur! Es wird nicht dasselbe sein', lauten die ersten Sätze, die Sheen in seiner neuen Serie spricht". In Deutschland habe sich Vox die Rechte gesichert, Ausstrahlungstermin noch ungewiss +++ Und der Tagesspiegel bespricht eine Bubi-Scholz-Doku in der ARD (23.30 Uhr) +++

+++ Ebenfalls der Tagesspiegel schreibt über die Erfolgsgeschichte der Garganta Poderosa, eines Magazins aus einem Slum von Buenos Aires, das nicht nur über "Drogen, Raub und Mord" berichten will – und Prominente für seine Titel gewinnt +++ Die Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau schreiben über die Site ted.com, "eine der kultigsten, klügsten und unterhaltsamsten Ecken des Internets (...) Sie präsentiert Vorträge, kluge Ideen, aber nicht trocken und spröde, sondern mitreißend und faszinierend" +++

+++ Gestorben ist Manfred Buchwald, der ehemalige Intendant des Saarländischen Rundfunks (SZ via epd, DWDL) +++ Das DJV-Magazin journalist soll sich an einer PR-Aktion beteiligt haben, schreibt Der Spiegel; die taz fasst, auch online, zusammen +++ Alice Schwarzer hat vor Gericht gegen Jörg Kachelmann verloren, Berufung möglich (Spiegel) +++

Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstag.

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