Utopie und Fernsehen

Utopie und Fernsehen

100 Prozent Journalistenrabatt beim Internetdating ist immer noch besser als deutsches Fernsehen. Oder? Die Fernsehproduktionen erweisen sich heute als im Wortsinn umstritten. Sven Regeners Urheberrechts-Rant bekommt noch allerlei Zustimmung. Und Gottschalk – ja, auch irgendwas mit Gottschalk.

Ein Beben. Eine Stunde, bevor Konstantin von Hammerstein, der neue Hauptstadtbüroleiter des Spiegels (siehe Spiegel-Hausmitteilung), im ZDF sagte, die Saarland-Wahl habe "keine Strahlkraft für den Rest des Bundes"; bevor um Punkt 18 Uhr die erste Wahlprognose aus dem Saarland verkündet wurde; schon bevor die Urnen geschlossen wurden also, nannte FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher am späten Sonntagnachmittag bei Twitter das Ergebnis ein Beben:

"Ein Beben ist, wenn Parteien von denen eine den Vizekanzler und eine andere einen Ministerpräsidenten stellt weniger haben als die Piraten."

Die Piratenpartei hatte, als vierte Kraft, die FDP und die Grünen hinter sich gelassen, und mit den Piraten zieht – ja was eigentlich ins Landesparlament ein? Das wäre keine Frage für eine Medienkolumne, wenn die Piratenpartei keine Partei der Digitalisierung im erweiterten Sinne wäre, die es auch nötig macht, das Medien- im Wort Mediengesellschaft neu zu denken. (Das Foto zeigt die etwas ältere Mediengesellschaft: Eine "Berliner Runde" diskutiert über die Saarland-Wahl. Mit FDP und CSU, dafür ohne Piraten – Fernsehrealität.)

Geschickt gesetzt insofern, der Artikel über Liquid Democracy im Feuilleton der Süddeutschen (S. 12), in dem die Piratenpartei "die politische Bewegung der Stunde" genannt wird. Während das Zeit-Magazin sich bekanntlich konkret an einer Liquid-Agenda versucht, ist SZ-Autor Felix Stephan im Allgemeinen eher skeptisch, dass Liquid Democracy bringt, was es verheiße – einen "herrschaftsfreien Diskurs" im digitalen Raum, der sich "als utopische Alternative zur vom Lobbyismus durchtränkten analogen Real-Welt versteht". Es handle sich nach wie vor, so Stephan unter Rückgriff auf eine Studie von 2008, um eine Utopie:

"Der Vergleich von Blogs und Mainstream-Medien ergab damals, dass beide weitgehend dieselben Themen behandelten, wobei die Agenda nach wie vor von den etablierten Medienhäusern diktiert wurde. Was das deutschsprachige Internet diskutierte, hing also noch genauso von den großen Verlagen ab wie vor 20 Jahren. Den Raum für die digitalen Debatten schaffen indes bis heute hochprofitable Konzerne wie Facebook, Google und Apple, die Informationen filtern und Datenströme lenken, ohne irgendjemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, der keine Anteile am Unternehmen hält. Und die Freiheit und Gleichheit im Netz ist dabei jene große Erzählung, die diese Unternehmen eben so profitabel macht."

Der digitale Debattenraum sei daher "gleich in zweierlei Hinsicht gelenkter und autoritärer als der parlamentarische: Die konventionellen Medienkonzerne bestimmen die Themen und die neuen den Rahmen, in dem die Debatten darüber stattfinden. Und keiner dieser Entscheider wurde jemals gewählt."

[+++] Konzernmacht und Gelenktheit aber hin oder her: Wenigstens stürzt das Presserabattsystem gerade immer noch ein bisschen ein, was hier und da als "Wulff-Effekt" verhandelt wurde und wird (siehe auch Altpapier vom Freitag). Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung listete noch einmal die schönsten Rabatte auf (Überschrift: "Schleichwerbung optional", S. 31). 100 Prozent Journalistenermäßigung gibt es demnach bei "Museen, Zoos, Internetdating. Irgendwo müssen ja auch Journalisten ihre Freunde finden."

Und während der Spiegel die Abschaffung der Journalistenrabatte nun nach Deutscher Bahn und Air Berlin auch durch die Telekom vermeldet, verkündete man beim in vieler Hinsicht innovativ voranschreitenden Axel-Springer-Verlag – intern, wie Meedia berichtete und u.a. die taz meldete –,

"dass sich die Chefredakteure der Axel Springer AG darauf geeinigt hätten, dass ab sofort 'keine dem Berufsstand Journalist zu ver- dankende Vergünstigungen mehr angenommen werden'. Ausgenommen sind Unternehmensrabatte und ermäßigte Besuche von Kultur- oder Sportveranstaltungen".

Dass die intern vertriebene Pressemitteilung leider irgendwie durchgesickert ist – auch das wird ja in Fachkreisen "Wulff-Effekt" genannt –, ist natürlich Pech.

[listbox:title=Artikel des Tages[Fernsehen stinkt (Berliner Zeitung)##Von wegen neue digitale Ökonomie (FTD)##Am Ende siegen die Idioten (SpOn)]]

[+++] Das Fernsehen, das darf bei all den Diskussionen über den digitalen Debattenraum und den neuen ethisch blitzsauberen Journalismus nicht vergessen werden, ist übrigens auch noch da. Fernsehen, Fernsehen? Genau: Das, was man einschaltet, wenn man keine Ansprüche hat – um Malte Weldings langen Essay aus dem Samstags-Magazin der Berliner Zeitung (siehe auch Frankfurter Rundschau) zusammenzufassen. Die zitierbaren Sätze sind zahlreich, nehmen wir einfach diesen Absatz hier:

"Das deutsche Fernsehen steht so patschzufrieden im eigenen Saft, dass es mit großer Fröhlichkeit darin ersaufen wird, in der Karnevalsbrühe aus Küstenwachenwiederholungen und Serien mit Tieren in der Hauptrolle und Selbstversicherungskabarettsendungen und Redaktionen nach Parteiproporz, die Politsendungen simulieren, und ist die Rente sicher und kippt der Euro und stirbt das Land? Ja, das Land stirbt. Vor Langeweile."

Weldings Konzentration auf Deutschland als Standort freilich ist dann schon vielleicht irgendwie ein wenig deutsch:

"Wer hat die Playstation erfunden, wer die X-Box? Siemens, Bosch? Welcher deutsche Konzern produziert das Smartphone?"

Stefan Niggemeier, den Welding mehrfach zitiert, äußert sich in seiner Spiegel-Kolumne zum deutschen Fernsehen moderater: Er wundert sich, wie Welding, zwar auch darüber, dass nun nach dem ZDF auch RTL seine Qualitätsprogramme in einem digitalen Satellitenkanal versenden will – RTL Nitro –, ist aber am Ende versöhnlich: Es gehe bei diesen Programmen um

"Sendungen, die das Stammpublikum des ZDF-Hauptprogramms möglicherweise durch Wecken verschrecken könnten. Es" – das ZDF – "traut sich hier, Programme zu machen, die nicht jedem gefallen müssen und deshalb denen, denen sie gefallen, richtig gefallen. Erstaunlich, dass der Ausbruch aus dem Immergleichen im Fernsehen anscheinend nur in solch winzigen Nischen stattfinden kann. Aber Hauptsache, er findet statt."

Dass Weldings Abrechnung mit dem Plasma dagegen stellenweise in unverstelltes Kotzen übergeht, erlaubt vielleicht noch einen kleinen nachtragenden Schlenker zu einem anderen Aufreger. Zu Musiker und Autor Sven Regeners Radiobeitrag zu Urheberrecht und Digitalisierung, der schon seit Donnerstagabend heftig durchgekaut wird: Sein deutlicher telefonisch abgelieferter Debattenbeitrag beinhaltet eine User- und Piratenbeschimpfung mit dem Bügeleisen, handelt aber auch, und da sind wir wieder im digitalen Raum der Konzerne, von Youtube und damit von Google. Regener beklagt mit Blick auf Youtube:

"Ein Geschäftsmodell, das darauf beruht, dass diejenigen, die den Inhalt liefern, nichts bekommen, das ist kein Geschäftsmodell, das ist scheiße."

Sein Beitrag wurde in Blogs, Social Media und Zeitungen intensiv diskutiert; die Zustimmungs- und Ablehnungswellen ebben allmählich ab. Es sei aber hier noch auf neuere Reaktionen verwiesen: auf die Regener zustimmende Position der FAZ; auf die zustimmende Position im Generationen-New-Economy-Report-Essay der FTD; und auf die zustimmende Position Sibylle Bergs in ihrer Spiegel-Online-Kolumne. (Einige der ebenso zahlreichen ablehnenden sind seit Freitag bei netzpolitik.org verlinkt.) Und dann noch darauf, dass der Tagesspiegel Regener am Samstag in Teilen nachdruckte. Bleibt zu hoffen, dass er ein Honorar bekommen hat.


Altpapierkorb

+++ Thomas Gottschalk ist ebenfalls ein Medienthema des Tages, schon wieder (siehe auch u.a. Altpapier vom Freitag): Für die FAS saß Nicolas Garz dreimal im Publikum seiner Sendung "Gottschalk Live" +++ Bild am Sonntag berichtet, markant in der Überschrift, im Text dann aber sehr vage über einen "Notfallplan (...), der vorsieht, dem Moderator, alternativ zum Vorabend-Experiment, die Präsentation mehrerer Galas anzubieten; das, so ein Insider, 'wäre dann naheliegend'. Ebenfalls im Gespräch: Ein ARD-Format, das mit 'Wetten, dass ..?' vergleichbar wäre" +++ Den Bogen zum WDR und seiner Intendantin Monika Piel (siehe wiederum Altpapier vom Freitag) schlägt die Süddeutsche (S. 15): "Wichtig ist Gottschalk live auch für Monika Piel, die WDR-Chefin. Sie führt in der ARD noch bis Jahresende den Vorsitz. Und sie hat das Thema von Beginn an zu ihrem gemacht. Gottschalk live war ihr Prestigeprojekt, obwohl nicht alle Senderchefs im ARD-Kreis die Begeisterung teilten" +++

+++ Einer der Autoren des SZ-Textes, Hans Hoff, handelte zuletzt in seinem Blog bei prisma auch ein weiteres Thema ab, das heute weiteren Niederschlag findet: die ZDF-"Wochen""heute show". Hoff findet: "Ganz offensichtlich ruhen sich Oliver Welke und seine Mannschaft derzeit auf dem über die Jahre angesammelten Ruhm aus. Wahrscheinlich sitzen sie öfter in der Asservatenkammer und zählen ihre Fernsehpreise anstatt sich Gedanken über eine feurige Show zu machen" +++ Besagter Oliver Welke wird vom Spiegel interviewt (Zusammenfassung online, in Gänze S. 130 ff.). Letzterer fragt: "Sie machen sich oft über Politiker aus der dritten und vierten Reihe lustig. Ist das einfacher als eine Pointe über die Kanzlerin?" +++

+++ Jakob Augstein, Verleger des Freitag (für den ich regelmäßig frei arbeite), schreibt in der Funkkorrespondenz-Reihe zur Medienpolitik über gängige Verlegerstrategien: "Am Ende bleibt die Argumentation der Verlage voller Löcher und es drängt sich der Verdacht auf, dass es hier nicht um das Überleben der Verlage geht, sondern um ihre Vormacht. Sie kämpfen an zwei Fronten: nach oben gegen die großen Institutionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und nach unten gegen die Blogger und Netz-Aggregatoren" +++

[+++] Montags strafen Fernsehdetailkritiker oft Fernsehallgemeinkritiker Lügen, indem sie den, in der Regel, ZDF-Film um 20.15 Uhr loben. Heute ist so ein Tag: "Das Ende einer Nacht" wird zum Teil regelrecht hymnisch besprochen. Klaudia Wick urteilt in der Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau: "bis zur Atemlosigkeit spannend, ohne auf die üblichen Stilmittel zurückgreifen zu müssen: Keine Gewaltausbrüche, keine Verfolgungsjagden, kein Showdown, kein 'Einspruch, Euer Ehren!'. Dafür Kino im Kopf und ein Zweifel, der als Hauptdarsteller alle deutschen Fernsehpreise auf einmal verdient hätte" +++ " "Kalkül und Ökonomie der Handlung, dazu zwei starke weibliche Persönlichkeiten – ein Glücksfall der Fernsehunterhaltung", meint die FAZ (S. 31) +++ Der Tagesspiegel schreibt, es sei "ein extrem spannender Gerichtsthriller" +++ Und die taz schließt: "Die Grimme-Preis-Jury kann den Film schon mal für die nächste Preisrunde vormerken" +++ Während die jetzige gerade abgeschlossen ist (taz über die Grimme-Preisverleihung) +++ Weiterhin besprochen, auch wenn der Pilot schon lief, wird noch einmal die neue US-Serie "Touch" bei ProSieben (SZ) +++

+++ Ein Theaterkritiker hat bei der Mitteldeutschen Zeitung ein doppeltes Spiel gespielt: als Kritiker und Theaterautor (Spiegel) +++ Und Claus Klebers Ahmadinedschad-Interview (siehe Altpapier) sorgt noch einmal für Diskussionen: Der Zentralrat der Juden kritisiert den ZDF-Mann (TSP), die SZ fasst weitere Reaktionen zusammen +++

Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstag.

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