Nicht alltägliche Wahrnehmungsräume

Nicht alltägliche Wahrnehmungsräume

Hat sich im Zuge der Causa Wulff „eine neue Recherchekultur“ entwickelt? Besitzt die ARD ein professionelles Management, das auf die Poker-Tricks der DFL angemessen zu reagieren weiß? Außerdem: Ein Blick zurück in die Zeiten, als Politiker noch Spaghetti für Journalisten kochten.

Die Sender Tele 5 und arte haben eines gemeinsam: Sie sind ungefähr gleich populär. Der Spielfilmkanal ist mit einem Marktanteil von 1,0 Prozent noch einen Tick beliebter als der deutsch-französische Sender (0.8 Prozent). Für die hartgesottenen arte-Fans ist es möglicherweise unzuässig, die beiden Programm überhaupt in einem Atemzug zu nennen. Deshalb sei hier natürlich sofort ergänzt, dass arte, anders als Tele 5, schon viele, viele Fernsehpreise gewonnen hat und bald vielleicht noch ein paar dazu kommen, denn für den Grimme-Preis beispielsweise ist der Sender gerade gleich zwölfmal nominert worden, wie das Grimme-Institut am Donnerstag bekannt gab. In dem Spiel um die wichtigen Preise mischt nun erstmals in seiner Geschichte auch Tele 5 mit. Nominiert wurde in der Kategorie „Unterhaltung“ nämlich die im Nachtprogramm laufende Medienkritik-meets-Comedy-Sendung „Walulis sieht fern“ (Disclosure: Ich war Mitglied der Nominierungskommission Unterhaltung). Bekannt ist sie möglicherweise dank des viralen Hits „Der typische Tatort in 123 Sekunden“ (siehe auch Screenshot).

Bereits fest steht, dass die besondere Ehrung im Rahmen des Grimme-Preises in diesem Jahr der Schauspierlerin Hannelore Hoger zuteil wird. Eine ganz besondere Ehrung gebührt zweifellos auch dem Deutschen Volkshochschul-Verband für die Formulierungshöhen, zu denen er sich in der Begründung aufschwingt: Hoger erschließe „ihren Zuschauern nicht alltägliche Wahrnehmungsräume und Verhaltensweisen, auch im Sinne der Persönlichkeitsbildung“.

Am ausführlichsten berichten über die Nominierungen dwdl.de und die Funkkorrespondenz, die das Wahrnehmungsraumerschließungs-Zitat aufgreift und zudem darauf verweist, dass das ZDF - das auf den ersten Blick eigentlich ganz gut da steht, weil es inclusive Ableger auf 19 Nomierungen kommt - in der Kategorie „Information und Kultur“ „mit keiner (!) einzigen Produktion aus seinem Hauptprogramm" vertreten ist. „Das weist auf eine bedenkliche Entwicklung bei dem von Knoppschem und Arensschem Doku-Fiction-Stil geprägten Sender hin“.

Darauf, dass Beate Lehr-Metzger für ihren „vorzüglichen Dokumentarfilm“ „Keine Kameraden“, über den Franziska Augstein heute in der SZ (Seite 15) schreibt, jemals einen Grimme-Preis bekommt, sollte man lieber nicht wetten. Schließlich hat der Film über russische Kriegsgefangene auf der Nordsee-Insel Langeoog noch nicht einmal einen Sender gefunden, auch jener, wo die Herren Arens und Knopp zugange sind, will ihn nicht. Augstein geht auf Details der Ablehnungshistorie ein;

„Wie der WDR der Filmemacherin mitteilte, sei der Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen ‚alles andere als ein Ruhmesblatt' gewesen. Aber zeigen will der WDR den Film nicht. Der Sender bemängelte in seinem Absagebrief, dass kein Lager ‚im heutigen NRW' darin vorkomme und verwies Frau Lehr-Metzger an den NDR. Beim NDR zeigte man sich zwar ‚beeindruckt', will den Film aber auch nicht haben. Dieses ‚keineswegs' aus ‚politischen Gründen.‘“

Ungewöhnlich ist nicht die Begründung der Sender, ungewöhnlich ist nur, dass eine Filmemacherin solche Hintergründe transparent macht. Normalerweise schreckt die Zunft davor zurück, weil die Gefahr groß ist, sich es mit jemanden endgültig zu verderben.

Aufmacher auf der SZ-Medienseite ist heute ein Beitrag Hans Leyendeckers, in dem er lobt, im Fall Wulff hätten „die Medien eine neue Recherchekultur entwickelt“:

„Das Pingpongspiel der Medien mit Wulffs Anwälten verrät manches über die neue Recherchekultur im Lande: Früher war die Regel, dass ein Blatt eine Geschichte vorantrieb und die Konkurrenz meist durch kompaktes, stures Schweigen auffiel. Im ‚Fall Flick' beispielsweise, eine der großen Affären des Landes, jammerte die FAZ - es waren die achtziger Jahre - noch über das ‚Ärgernis' der ‚illustrierten Zeitschriften', die ‚da wöchentlich ein mit Häme über den Parteienstaat angefülltes Publikum verwöhnen'. Heute recherchiert das Frankfurter Blatt vorne mit.“

Daneben gebe es aber auch noch „den Kikeriki-Journalismus, den offenkundigen Versuch, Nichtigkeiten aufzublasen“. Ein Beispiel dafür liefert heute die Münchener Abendzeitung. Einen gewissen krimialistischen Drive bekommt die Causa Wulff fraglos durch die Razzia bei seinem Ex-Sprecher Olaf Glaeseker, der verdächtigt wird , „er habe sich von einem Veranstaltungsmanager bestechen lassen“ (SZ, Seite 1). Die Augsburger Allgemeine, die heute ausnahmsweise zitiert sei, weil Glaeseker für das Blatt mal als politischer Korrespondent in Bonn gearbeitet hat, fragt: „Was wusste Wulff?“ Und das fragen sinngemäß natürlich alle. Darüber hinaus nehmen die Zeitungen die neuen Kalamitäten Glaesekers zum Anlass, jenen Mann, mit dem sie früher beruflich viel zu tun hatten, kurz zu porträtieren. Das war auch nach der Entlassung Glaesekers bereits der Fall (siehe Altpapier). Robert von Lucius schreibt heute auf Seite 2 in der FAZ:

„Kaum ein anderer Regierungssprecher wird so einflussreich gewesen sein wie Olaf Glaeseker. (...) Er neigte zum Eigenbrötlerischen und zog hintergründige, auch manipulierende Gespräche dem klaren, öffentlichen Wort vor.“

Dass Personen, die für wen oder auch was immer als Sprecher im Einsatz sind, auf „manipulierende Gespräche“ setzen, sollte eigentlich keine Erwähnung wert sein. von Lucius schreibt weiter:

„Dass sein von Wulff angebotener Wechsel in das Bundespräsidialamt für ihn nicht als selbstverständlich galt, wies schon auf erste Zeichen der Entfremdung zwischen beiden hin. Der stämmige ehemalige Mehrkämpfer hatte gespürt, dass Wulffs zweite Frau zunehmend zum Chefberater wurde und so sein Einfluss schwand, er auch nicht mehr alles wusste.“

Jens Schneider (SZ) weiß dagegen, dass Glaeseker „mit der Berliner Szenerie kaum zurecht“ kam, was auch immer das konkret heißen mag.

[listbox:title=Artikel des Tages[Hans Leyendecker über die neue Recherchekultur der Medien (SZ)##Julian Assange über fast alles (Rolling Stone)##Edo Reents über den Auftritt der Piratin Afelia bei Illner (faz.net)]]

Aufschlussreiches zum Thema Medien und Politik in den 1950er-Jahren bietet Lutz Hachmeisters kürzlich im Kino angelaufenes Dokudrama „The Real American - Joe McCarthy“. In einem Interview mit der Funkkorrespondenz (Disclosure: Ich habe es geführt) erläutert der Regisseur, dass der Kommunistenjäger McCarthy ein medialer Pionier war:

„Er war sicher einer der ersten, der die Nachrichtenagenturen, die Hauptstadtpresse, das Radio und vor allem das frühe Schwarzweiß-Fernsehen als Instrument der Selbstinszenierung und Themensetzung begriffen haben. Er hatte es also mit einem Medien-Mix zu tun, den es vorher so auch nicht gab. Man sieht in dem Film zudem, wie McCarthy Journalisten zu sich nach Hause einlädt, um für sie Spaghetti zu kochen. McCarthy war auch einer der ersten, die sich komplett als öffentliche Figuren inszeniert haben. All das, was man heute in großer Potenz vielleicht dem Facebook-Zeitalter zuschreiben würde, also das Veräußern des Privaten in einem sehr starken Maße, hat er in den 1950er Jahren schon vorexerziert. Sehr intuitiv, er hatte zwar ein paar Redenschreiber, aber keinen Spin Doctor oder Medienberater.“

Ebenfalls in der Funkkorrespondenz: Passend zum heutigen Start der Fußball-Bundesliga-Rückrunde, kritisiert Dietrich Leder implizit die herkömliche Berichterstattung zum Thema Rechtevergabe. Viele Medien fielen auf die Poker- und Inszenierungstricks der Deutschen Fußball-Liga (DFL) herein. Leder macht sich Gedanken darüber, wie die ARD damit umgeht. Er fragt:

„Besitzt sie wirklich ein professionelles Management, das auf die Poker-Tricks der DFL einfach nicht eingehen wird? Vermutlich nicht. Deshalb wird sie am Ende womöglich noch wesentlich mehr zahlen als bislang.“

Der Tagesspiegel nimmt das Ende der Winterpause zum Anlass, sich gleich in zwei Artikeln mit der Zukunft der Übertragungsrechte zu beschäftigen. Joachim Huber, „der sich ein lebenswertes Leben ohne ‚Sportschau‘ vorstellen kann“, wartet dabei mit einer kühnen These auf:

„Es gehört zum Paradox dieses Profisports, dass eine zeitnahe Zusammenfassung besseren Sport verhindert."

Kollege Markus Ehrenberg meint dagegen:

„Es wird am Ende des derart angestachelten, viel komplizierter gewordenen Bieterverfahrens wohl wieder auf die ARD und auf das andere Ausschreibungsszenario hinauslaufen.“

Zwischen diesem Fazit und der Headline „Bye, bye, Reinhold Beckmann“ besteht allerdings ein gewisser Widerspruch. Eine nicht unspektakuläre Nachricht im Zusammenhang mit Fußball und Fernsehen verdanken wir Charlotte Roche, die demnächst eine neue Talkshow moderiert. Sie sagt, sie schreie gelegentlich „den Bildschirm an“, wenn sie Bayern-Torwart Manuel Neuer sehe. Schalke-Fan Roche verübelt dem Keeper immer noch seinen Wechsel von Gelsenkirchen nach München.


Altpapierkorb

+++ Was macht eigentlich Julian Assange? Michael Hastings hat für den amerikanischen Rolling Stone ein langes Interview mit ihm geführt.

+++ Aktuelle Artikel zu SOPA und PIPA: Die FAZ druckt zu der Debatte um die US-Gesetzesentwürfe verschiedene Positionen. Fridtjof Küchemann schreibt auf der Medienseite: „Die größte Sorge von Internet-Giganten wie Google und Facebook scheint hingegen zu sein, dass in der Diskussion um den Umgang mit geistigem Besitz im Netz ihre milliardenschweren Geschäftsmodelle in den Blick geraten, die weitgehend ohne eigene Inhalte auskommen.“ Ganz anders dagegen Constanze Kurz im Feuilleton: „Der Verwerter-Lobbyismus zur Gängelung der Nutzer durch Zensur- und Sperrgesetze ist so weit ausgeartet, dass er nicht nur eine Bedrohung von Rezipientenfreiheit und freier Meinungsäußerung im weltweiten Netz zu werden droht, sondern das Netz als Ganzes in Frage stellt. Die eigentlich spannende Frage bleibt daher: Wann legen die großen Internet- und Computerfirmen endlich zusammen und kaufen die nervigen Verwerterkonzerne auf?“ freitag.de hat zum Thema einen Text des Internetdiskursstars Clay Shirky übersetzt, der Kurz gefallen düfte. 

+++ Sowohl Franziska Bulban und Kilian Trotier in der Zeit (Seite 50) als auch Katrin Schuster im Kulturkommentar des Freitag (Seite 13, Nachmittags-Update: mittlerweile auch online) beschäftigen sich mit der Integration von Google+ in die Google-Suche. Die bringt es mit sich, dass Google+-Nutzer bei der Fahndung nach relevanten Suchergebnissen neuerdings sehr schnell auf relativ banale, für die Suche in der Regel allemal irrelevanten Posts von Leuten aus den eigenen Kreisen stoßen. „Aus der Such-Maschine wird eine Ich-Maschine“, schreiben Bulban/Trotier leicht blumfeldesk. Schuster meint: „Mit peinlicher Bedenkenlosigkeit rückt sich das Unternehmen nun selbst in den Vordergrund.“

+++ Wie die Google-Tochter Youtube mit Personen umspringt, deren Urheberrechte sie verletzt hat, berichtet ein Hamburger Fotograf in seinem Blog.

+++ Eine Frühkritik zur gestrigen „Maybrit-Illner"-Sendung hat Edo Reents für faz.net vefasst. Im Text unter der Headline „Afelia wird Kanzlerin“ geht es vor allem um die Piratenpartei-Geschäftsführerin Marina Weisband aka @afelia.

+++ Mittlerweile online: ein Artikel des früheren nordrhein-westfälischen Landesmedienanstaltenchefs Norbert Schneider, der in der vergangenen Woche bei epd-medien erschienen ist, aber aktuell bleibt, nicht zuletzt, weil heute Freitag ist. Schneider schreibt: Was sich jeden Freitag das ganze Jahr über jetzt schon abspielt, dass die ARD zwei TV-Movies, Melodram und Krimi, nahtlos aneinanderhängt, und die Nachrichten irgendwann nach elf noch Platz finden (...), ist systemwidrig. Es ist nichts anderes als die Geburt des Programms aus dem Geist des Marktes.“

+++ „So richtig ernst scheint die Themenabstimmung bei den Fernsehfilmredaktionen der ARD anscheinend niemand zu nehmen. Hatte Hauptkommissarin Lindholm erst vor wenigen Wochen für den NDR einen Fall mit entführten Mädchen zu lösen, die über Jahre hinweg in einem engen Kellerverlies festgehalten worden waren (...), legt schon am Sonntag der Saarländische Rundfunk mit einem ebenfalls an den Fall Kampusch erinnernden Plot nach“; schreibt Uwe Ebbinghaus in der FAZ. Nach diesem für seine Zeitung nicht untypischen ARD-kritischen Opening geht es versöhnlich weiter: „Für den Zuschauer ist die Doppelung allerdings zu verschmerzen, weil die neue Folge eine ganz eigene Spannung entwickelt und zu den besten der ‚Tatort‘-Reihe in den letzten Jahren gehört.“

+++ Neues vom ORF, dessen Situation im Altpapier seit Anfang der Woche Thema ist (siehe unter anderem hier): Niko Pelinka, der Generaldirektorsbüroleiterkandidat, an dem sich in den vergangenen Tagen der Protest der Redakteure entzündete, hat seine Bewerbung zurückgezogen. Das Thema wird den Medienmedien in Österreich und Deutschland aber erhalten bleiben, weil noch weitere fragwürdige Personalangelegenheiten zur Debatte stehen (Spiegel Online). Bei Welt Online lautet die Schlagzeile: „Erstes Opfer im Kampf gegen Wiener Parteienfilz.“

+++ Schöne Nicht-Antwort Helmut Dietls in der aktuellen Ausgabe von Moritz von Uslars Interview-Rubrik „99 Fragen“ im Zeit-Magazin: „Til Schweiger oder Matthias Schweighöfer?“ - „Weiter.“ Dass die Beilage des Wochenblatts nach Spiegel und SZ bereits die dritte Publikation innerhalb nicht einmal einer Woche ist, die den Regisseur anlässlich seines neuen Films interviewt, obwohl der erst am 2. Februar startet, ist angesichts dieser Passage zu verschmerzen. Unschlagbar auf dem Gebiet der alllzu frühen Berichterstattung ist heute die Hamburger Morgenpost, die eine Dokumentation mit dem Koch Tim Mälzer, die am 27. Februar in der ARD läuft, als Aufmacher auf die Titelseite setzte.

+++ Stefan Winterbauer macht sich bei meedia.de mit dem Dünkel des Nicht-Bildungsbürgers ein bisschen über Bildungsbürger lustig, die bei den Online-Angeboten der Zeit und des Tagesspiegel die Berichterstattung zu „Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!“ in vermeintlich wenig bildungsbürgerlichem Ton kommentieren: „Es beschleicht einen der schlimme Verdacht, dass so mancher Hardcore-Feuilletonleser im Dschungel womöglich gar nicht weiter auffallen würde.“ Seinen Text schließt Winterbauer mit einem „hochkulturellen“ Zitat F. W. Bernsteins: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“ Winterbauer will uns also sagen, dass die gegen das Dschungelcamp wütenden Leser von Zeit und Co. früher Fans der Show gewesen seien. Darauf mit einem hochkulturellen Zitat zu antworten, fällt nicht leicht.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

 

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