Jenseits von Jena

Jenseits von Jena

Zumindest in Thüringen ist das ZDF-Magazin "Aspekte" noch ein Straßenfeger, der sogar draußen in der Kälte verfolgt wird. Außerdem: ein Fernsehspielfilm, der erklärt, wie die DDR begann.

An diesem Mittwoch, an dessen Morgen bereits 155 Kommentare auf die am frühen Vorabend publizierte Tagesspiegel-Fassung der überall online breit getretenen Meldungen, dass eine Nichtraucher- bzw. "Antiraucher"-(Telepolis) Organisation die ARD wegen Helmut Schmidts fernsehöffentlichem Rauchen verklagt hat und eine andere Nichtraucher-Organisation diese Klage nicht gut findet, aufgelaufen sind...  - an diesem, was breaking news betrifft, also eher schwachen Tag gleitet der mediale Blick in den deutschen Osten.

Anlass 1: was die ARD um 20.15 Uhr sendet (mehr unten im Altpapierkorb), Anlass 2: was das ZDF am 18. November am späten Abend sendete. Das war ein Freitag, an dem spät noch immer die Sendung "Aspekte" läuft, die zuletzt mit prominenten Fernsehnasen ("Anke Engelke, Bestsellerautor Frank Schätzing, Autor Wladimir Kaminer", vgl. dwdl.de) als Gastmoderatoren darauf vorbereitete, im nächsten Jahr mit der neuen Moderatorin Katty Salié "irgendwie jünger, irgendwie fluffiger" (Süddeutsche) werden zu wollen. Dass das traditionsreiche Kulturmagazin zumindest die Betroffenen noch immer erregt, das bewies es am Montag in Jena, wie heute überregional die FAZ auf ihrer Medienseite 33 und die TAZ mit einem instruktiven Beitrag im Inlandsressort berichten.

Es geht um diesen sechsminütigen "Aspekte"-Beitrag, der einerseits Jena sozusagen als attraktiv aktuelle Kulisse nutzt, um ein Buch ("Adams Fuge") und dessen Autoren Steven Uhly vorzustellen, und andererseits das Buch bzw. Jena als Anlass, eine kleine Handvoll Thesen zur Erklärung jener von Neonazis begangenen Mordserie anzureißen, die seit ein paar Wochen jeder zu erklären versucht. Uhly und das "Aspekte"-Team begegnen unter anderem dem NPD-Aussteiger Uwe Luthardt, dem das ZDF-Publikum eine Woche später auch in Maybrit Illners Talkshow begegnete. Und das in wie gesagt sechs Minuten.

Während der Beitrag jenseits von Jena relativ unbemerkt blieb, löste er in der Stadt eine Menge Erregung aus, von der besonders umfassend das Portal jenapolis.de ("das Kommunikations- und Bürgerportal für Jena und Thüringen") kündet. Dort findet sich auch die E-Petition "Wir erwarten eine öffentliche Entschuldigung des ZDF mindestens bei allen Bürgern Jenas", die bislang mehr als 4.500-mal unterzeichnet wurde (und übrigens die Option "Meine Unterschrift nicht im Internet anzeigen" bietet). Falls es Sie nach einer anderen lokalen Meinung verlangt: hier die der Antifa Task Force Jena.

Die zentralen Gründe für Aufregung fasst Günter Platzdasch in der FAZ heute so zusammen:

"Als er am Bahnhof 'Jena-Paradies' aus dem ICE steigt, sagt im Film eine Stimme auf der Tonspur: 'Jena, für Leute mit Migrationshintergrund kein Paradies', dann wird Uhly mit einem Jugendpfarrer und einem NPD-Aussteiger konfrontiert, schließlich wird seine fluchtartige Abreise aus der 'ostdeutschen Angstzone' (so wieder die Stimme aus dem Off) gefilmt. Ob sich sein Bild vom Osten geändert habe, wird Uhly noch gefragt: 'Nö', sagt er, 'war aber jetzt auch nicht so schlimm.' Die Off-Stimme resümiert, Uhly fahre 'erleichtert zurück nach München'."

Was bzw. wer dafür spricht, dass der Zorn vieler Jenaer nicht ganz unberechtigt ist: der Schriftsteller Steven Uhly selbst, der in einem langen Brief an die u.a. in Jena erscheinende Thüringer Allgemeine sich von Verkürzungen distanzierte, eine Art Drehbericht gab und z.B. den Schluss des "Aspekte"-Filmchens so erklärte:

"Eine letzte Frage, die mir gestellt wurde, lautete: 'Was haben Sie Neues gelernt?' Ich überlegte und sagte: 'Nicht viel, ehrlich gesagt, vieles wusste man ja schon.' Damit meinte ich die rechtsradikale Szene. Dann die letzte Frage. Nein, mein Bild vom Osten hatte sich nicht verändert, es (das Bild!) war ja auch nicht so schlimm gewesen. Angst ist eben kein Bild, sondern nur ein Gefühl."

Vorgestern abend also gab es dazu eine öffentliche Diskussionsveranstaltung dazu, und zwar eine sogar ungeheuer öffentliche, wie Jenas lokale Tageszeitungen (es gibt zwei, aber mit identischem Inhalt) in Bild und Wort berichten:

"Eine Riesenschlange hatte sich vor Beginn der Podiumsdiskussion am Theaterhaus Jena gebildet. Doch bis zu 400 Interessenten fanden keinen Platz mehr im überfüllten Theaterhaus. Sie konnten sich die Debatte als Open-Air-Veranstaltung auf dem Großbildschirm ansehen."

Mindestens 200 "viele harrten bei Schneeschauern draußen vor der Videoleinwand aus und kommentierten die Diskussion lautstark", bestätigt Michael Bartsch in der TAZ.

[listbox:title=Artikel des Tages[TAZ über die Jenaer Diskussion##Jenas Presse darüber##Steven Uhlys Making-of-Bericht##Dror Zahavis verfilmungswürdige Vita (Tsp.)##René-Pfister-Moment in der Jurysitzung (BLZ)]]

Den differenzierten Inhalt lässt sich in der Jenaer Presse und der TAZ frei online nachlesen. In Zahlen skizziert: Nur 2,7 (Jenaer) bzw. 3,4 Prozent (TAZ) der Ausländer hätten Angst, sagte Marco Guerconi aus dem Migranten-Beirat der Stadt; nur 300 Bürger seien zur Gedenkveranstaltung für die Opfer rechter Gewalt gekommen, während die oben verlinkte Petition wie erwähnt über 4.500 Petenten fand, beklagte die Linkspolitikerin Katharina König.

Mit der versöhnlichen Wendung, dass "Aspekte"-Redaktionsleiter Christhard Läpple seinen Sohn jetzt gern in Jena studieren lassen möchte, schließen die Jenaer und die FAZ, die allerdings als einzige eine zwischenzeitlichen Aufregung während der Veranstaltung erwähnt. Nämlich las Läpple

"... einen Brief von Uwe-Karsten Heye vor, einst Regierungssprecher unter Gerhard Schröder. Darin bezeichnete Heye die Jenaer Empörung als einen 'typisch ostdeutschen Reflex' und damit als 'einen Teil des Problems', überdies beklagte er eine 'greifbare Abwesenheit von Trauer' in der Stadt. Angesichts solcher Vorwürfe drohte die bis dahin zwar kontroverse, aber friedliche Veranstaltung zu eskalieren. Der Oberbürgermeister, Sozialdemokrat wie Heye, nannte die Auslassungen seines Parteifreundes 'unerhört' und 'schrecklich'..."

und insofern ist das Diskussions-Potenzial also keineswegs beigelegt, sondern vielleicht sogar gewachsen (was dem eigentlichen Thema freilich angemessen wäre). Vielleicht, ZDF, sollten solche Diskussionen, statt ohne Fernsehkameras in Jena im Theater, einfach mal bei Maybrit Illner geführt werden. Aufschlussreicher als vieler andere ZDF-Content wäre es, und bei Illner würde Uwe-Karsten Heye sicher auch persönlich auftreten.


Altpapierkorb

+++ "Einen Film, der etwas davon begreifen will, wie die DDR begann" und dessen Regisseur "hofft, dass er besonders vom Westpublikum gesehen wird", zeigt die ARD heute um 20.15 Uhr: "Der Uranberg". Katja Hübner stellt im Berliner Tagesspiegel den Regisseur Dror Zahavi, einen Israeli, der in Babelsberg Film studierte, als die DDR (gerade) noch existierte, so eindrucksvoll vor, dass sie fast schon seine schillernde Vita zu einem Drehbuch verarbeiten möchte. +++ Der heutige Film selbst: Na ja, würde Christiane Kohl in der Süddeutschen sagen: "... Die Szenen verschwimmen immer wieder im Klischee. Manche Dialoge sind allzu holzig und banal. Etwa, wenn Kriegsheimkehrer Meinel seiner Mutter beim ersten Wiedersehen von dem Gefangenenlager berichtet: 'Es war kein Zuckerschlecken'. ... ... Im Eiltempo spult Regisseur Zahavi die Story herunter, da bleibt nicht viel Zeit, die Figuren genauer zu konturieren." +++ Siehe auch evangelisch.de. +++

+++ Vor allem aber will "die ARD ...mehr Komödien für ihr Fernsehprogramm", sagte die WDR-Fernsehdirektorin (und Degeto-Chefposten-Kandidatin) Verena Kulenkampff "am Montag bei einem Branchentreffen in Köln" (Süddeutsche). +++ Was für einem Branchentreffen? Beim "5. Branchentreff der bundesweiten Brancheninitiative Top Talente, einem Förderverein für Film- und Fernsehdramaturgie..." (dwdl.de). +++

+++ Was tut sich sonst medienpolitisch im deutschen Osten? Bei der Verabschiedung des MDR-Intendanten Udo Reiter ging es zu fast wie bei der von Steffen Grimbergs Schulrektor "damals, in der Neunten, nur die Lebensbäumchen fehlten" (TAZ). +++

+++ Frische Journalistenpreise sind draußen: die Reporterpreise 2011. "Tollerweise nicht die üblichen Verdächtigen" wurden prämiert, "sondern etliche jüngere JournalistInnen", und Jörg Thadeusz habe "eine hübsche Rede voller Wahrheiten gehalten", berichtet womöglich ohne die übliche Ironie die TAZ-Kriegsreporterin. +++ Alle Preisträger gibt's im reporter-forum.de. +++ Dazu kommen Jury-Erfahrungsberichte in der FAZ von Marcus Jauer ("Mir war nicht klar, wie schnell man hier als derjenige auffallen würde, der nichts sagt. Ich hatte auch angenommen, dass Preise ausgewogen über die großen Zeitungen und Zeitschriften verteilt werden, aber... " das soll offenbar gar nicht stimmen) und von Petra Ahne in der Berliner Zeitung: Als eine Spiegel-Journalistin mit ihrem Bericht über Bürokratie im Verteidigungsministerium fast schon den Preis für die beste politische Reportage in der Tasche hatte, ereignete sich ein "René-Pfister-Moment"... +++

+++ Ebd. fasst Björn Wirth unter besonderer Berücksichtigung dessen, was meedia.de in einer Phoenix-Talkshow Klaus von Dohnanyi sagen hörte, die aktuelle Giovanni di Lorenzo-Lage zusammen. Bloß dass di Lorenzo vergangene Woche "sein umstrittenes Interview" nicht "bereits auf Zeit Online zu erklären versuchte", sondern halt in seiner Zeitung, der Zeit selbst. +++

+++ "Wenn nicht gerade Krise ist, findet EU-Politik oft wenig Echo, Online-Dienste über Europathemen gewinnen aber an Einfluss", überschreibt die Süddeutsche ihren Bericht über Portale wie euractiv.com. Freilich trifft sie nur zu, wenn gerade mal keine Krise sein sollte. +++

+++ Womöglich kommt durch eine Klage des (bekanntlich u.a. von Stefan Aust besessenen) Nachrichtenkanals N24 Bewegung in die seit Jahrzehnten kaum bewegte Frage der sogenannten Drittsendeplätze im Privatfernsehen (Süddeutsche).+++

+++ Hoppsala, plötzlich Internet-Kompetenz mitten in der Politik: Der neue Berliner Senator für Justiz und Verbraucherschutz, Michael Braun (CDU), hatte sich in seiner Anwaltskanzlei auch wegen Urheberrechtsverletzungen im Internet engagiert (netzpolitik.org). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.
 

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