Do kanns zaubere

Do kanns zaubere

Oops, der MDR did it again, diesmal: Tanzen für Kadyrow. Der Presserat verkündet Zahlen, die kein gutes Bild vom Journalisten zeichnen. Gilt auch für die Vorgänge beim Netzwerk Recherche

Die einen sagen so, die anderen so:

"Noch nie zuvor sind beim Deutschen Presserat so viele Beschwerden eingegangen wie 2010. Knapp 1700 Mal wurden bei dem Organ Berichte von Zeitungen, Zeitschriften und Onlinemedien beanstandet, das sind rund 30 Prozent mehr als im Vorjahr."

Schreibt Sonja Pohlmann im Tagesspiegel.

Im Handelsblatt, der heimlichen Fan-Postille von Arsenal London, führt die Überschrift über dem Agenturtext dagegen auf eine andere Fährte:

"Wenger Beschwerden über Medienberichte"

Heißt:

"Der Deutsche Presserat muss sich in diesem Jahr wohl mit weniger Beschwerden befassen. Die Zahl werde im Vergleich zum Vorjahr aller Voraussicht nach rückläufig sein."

Das Vorjahr bleibt immer das Vorjahr, auch wenn einmal 2009, das andere Mal 2010 gemeint ist. Der Unterschied in der Wahrnehmung führt zur Frage, was eigentlich die Nachricht zur gestrigen Presserat-Jahreskonferenz ist.

Dass über die gestiegenen Beschwerden 2010 nicht schon 2010 berichtet wurde, kann man nicht behaupten. Nur die Argumentationsmuster haben sich geändert: Für die gestiegene Zahl sprach im letzten Jahr auch der Umstand, dass online Beschwerde eingereicht, der Presserat also "niedrigschwellig" auf seinen Einsatz hingewiesen werden kann.

Weil die Zahlen nun trotzdem gesunken sind, muss es einen anderen Grund geben. Der Tagesspiegel legt nahe:

"240 Beschwerden – die meisten davon gegen Boulevardmedien – gab es über die Berichte zum Loveparade-Unglück in Duisburg im Juni 2010. 200 Klagen bezogen sich auf ein Titelbild der Satirezeitschrift 'Titanic' zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. 41 Rügen wurden 2010 erteilt, 2009 waren es noch 30 gewesen."

Ohne den Forschungen von Prof. Lilienthal in Hamburg vorzugreifen ("Medienethik I: Journalistisches Ethos und abweichendes Verhalten") – interessant ist doch, dass sich eine Entwicklungsgeschichte, die auf stete Besserung hofft, nicht zuletzt durch die unermüdliche Arbeit des Presserats, offenbar nicht erzählen lässt. Sondern dass es allein von der Themenlage abhängt, ob der Journalist, dieser notorische Swinigel, die guten Sitten gute Sitten sein lässt. Erinnert an Peter Lorre in Fritz Langs Film "M – Eine Stadt sucht einen Mörder": Wenn ein Ereignis mit ausreichend boulevardeskem Potential, also Blut, Schweiß, Tränen, kommt, dann kann der Journalist nicht anders. In den Worten von Peter Lorres Filmfigur:

"Will nicht, muss, will nicht, muss."

Springer könnte sagen, die Analogie trägt noch weiter, wenn man sich den Ausschnitt anschaut, in dem Lorres Figur die Legitimität der ihn richtenden Versammlung anzweifelt (die eine von "ehrbaren" Kriminellen ist). Das macht Bild beim Presserat auch, wie Steffen Grimberg in seinem Resümee in der TAZ schreibt:

"Dass vor allem Bild gern mal zurückschießt und die Kriterien des Presserats in Frage stellt, ist ein alter Hut. Über die Aktion vom August, als das Blatt seine Leser aufforderte, beim Presserat gegen eine Rüge zu protestieren, habe man mit Bild gesprochen, sagte Presserats-Geschäftsführer Lutz Tillmanns. Es ging um 'Tatverdächtigenberichterstattung'. Und da, so Tillmanns, werde man wohl weiter 'unterschiedlicher Auffassung' bleiben, wie der Pressekodex anzuwenden sei."

Bei dieser flexiblen Ansicht darüber, was gute Sitten und was nicht, muss man natürlich an Innenminister Friedrich (CSU) denken, der im FAS-Interview zum Trojaner-Skandal (Altpapier von gestern) rechtliche Auffassungen – "als stünden sich im fairen Meinungsstreit zwei Kontrahenten gegenüber", wie Frank Rieger in der FAZ (Seite 31) heute schreibt.

Der CCC-Sprecher liefert einer hübschen Ästhetik des Schwunds auf dem Innenministerposten und wird grundsätzlich:

"Wenn technische Bequemlichkeit über Grundgesetztreue obsiegen sollte, der Zweck also in Innenminister Friedrichs Verständnis die Mittel heiligt, ist die Frage, was danach kommt, nicht mehr nur rein akademisch."

Noch mal zurück zum Presserat. Immerhin bescherte Grimberg der Besuch der Veranstaltung das Wiedersehen mit:

"Bernd Hilder - ja, genau der, der Intendant beim MDR werden wollte und jetzt erst mal Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung bleibt."

[listbox:title=Die Artikel des Tages[Presseratsjahresberichte (TAZ)##MDR - Gesprächsthema im Bundestag (MZ)##Dirty Dancing in Grosny (TAZ)##]]

Der ist nämlich aktuell Presseratssprecher. In dem Sender, dessen Intendant er nicht geworden ist, geht's derweil hoch her. Der am Wochenende vermeldete Umstand (ebenfalls AP von gestern), dass bei den Geburtstagseinweihungsfeierlichkeiten für Ramsan Kadyrow sechs Angestellte des MDR-Fernsehballetts die Beine schwangen, ist nur ein weiterer Ritz auf dem nicht enden wollenden Kerbholz des beliebten öffentlich-rechtlichen Programms.

Die Mitteldeutsche Zeitung hat die Meinung des Grünen-Politiker Tom Koenigs eingeholt, der Vorsitzender des Menschenrechte-Ausschusses im Bundestag ist und wird damit überall, etwa im Tagesspiegel oder in diesem Agenturtext auf Sueddeutsche.de, zitiert:

"'Die sind von allen guten Geistern verlassen', sagte Koenigs. 'Der Mitteldeutsche Rundfunk ist eine öffentliche Anstalt, die eine gewisse Verantwortung hat.' Koenigs kündigte an, er wolle 'der Sache nachgehen': zunächst durch Anfragen im Auswärtigen Amt und dann im Ausschuss. Kadyrow sei international für Menschenrechtsverletzungen bekannt."

Grimberg schreibt in der TAZ unter der schönen Überschrift "Dirty Dancing":

"Auch wenn das MDR-Fernsehballett mit dem gleichnamigen Sender nur noch so viel zu tun hat, als dass die MDR-Produktionsholding Drefa einer der Hauptgesellschafter ist, kann es von der Kommunikationsstrategie des Senders lernen. Der hat nämlich einige Übung darin, darzulegen, warum er nicht immer alles mitbekommt, kleinere Skandälchen nicht sofort auffallen und alle Verantwortlichen danach immer irgendwie unsichtbar sind."

Do kanns zaubere, wie der BAP-Fan ("sind sich immer treu geblieben!") in uns sagen würde. Glauben wir an das Gute und in Bezug auf den MDR, dass Wolle Niedecken dereinst an Karola Wille dachte, als er sang:

"Jede Andre hätt jesaat: 'Et ess zo spät/dä Typ ess fäädisch, nä dä typ/Dä krisste wirklich nit mieh hin.'"


Altpapierkorb

+++ Den gesammelten Driss beim Netzwerk Recherche schreibt Sabine Pamperrien für die FAZ (Seite 33) auf. Wobei Driss, da es um die "kriminelle" Buchführung des Ex-Vorsitzenden Thomas Leif ebenso geht wie um die Vorwürfe, die Journalistikprofessor Michael Haller dem Interims-NR-Vorsitzenden Hans Leyendecker gemacht hat, ein womöglich zu unkonkretes Wort ist: "Johannes Ludwig (noch ein Hochschullehrer, AP) fordert einen rigorosen Neuanfang. Das einst geplante Netzwerk recherchierender Journalisten solle wirklich ein Netzwerk werden. Noch immer gebe es keine Kontaktliste der Mitglieder. Auch andere Ziele verfehle der Verein. Elf Recherchestipendien wurden in zehn Jahren vergeben." +++ Was das Geld betrifft, das NR zuviel bekommen hat – der Presserat könnte welches gebrauchen (Meedia.de). +++

+++ Gustav Seibt macht sich in der SZ (Seite 11) Gedanken über die Geschichte, um zu erklären, warum völlige Transparenz nicht so ist. +++ Der Tagesspiegel stellt den weltweiten jüdischen Sender "Jewish News One" vor, der "ein Gegengewicht zu Al-Dschasira werden" möchte, sonst aber will, was alle wollen: "'Die Menschen sollen das Programm nicht nur einschalten, weil es jüdisch ist', sagt Zanzer. 'Sondern weil es interessant ist und sie solche Sendungen woanders noch nicht gesehen haben.'" +++ Noch eine Premiere: "'Homevideo' thematisiert als erste große deutsche TV-Produktion die neuen, ernstzunehmenden Probleme und Herausforderungen, die Kinder und Jugendliche durch das Internet im Schulalltag bewältigen müssen." (TAZ). +++ Die SZ (Seite 15) interviewt Julianna Margulies aus der ausgezeichneten Fernsehserie "The Good Wife": "Vor kurzem las ich Jenny Sanfords Buch. Sie erzählt, wie ihr Mann, Mark Sanford – damals Gouverneur von South Carolina - sich zu verändern begann. Vom idealistisch denkenden, vorbildhaften Familienvater, der mal die Welt verändern wollte, zum arrivierten Politiker, nach dessen Pfeife jeder tanzen musste. Sein Weltbild war auf einmal nicht mehr realistisch: Er hielt sich tatsächlich für eine allmächtige Person, für die die üblichen Regeln nicht gelten. Das ist gefährlich - nicht nur für ihn, sondern für alle, die mit einem solchen Mann in Berührung kommen." +++ Außerdem freut sich die SZ, dass alle Prognosen zum Todesjahr der Zeitung immer korrigiert werden müssen und die Leserzahlen noch über denen im Internet liegen. +++

+++ Sat.1 hat einen Dreiecksfilm mit Yvonne Catterfeld über den Nazi-Zeit und so gemacht (20.15 Uhr), der offenbar die Standards aus den Event-Vulgarisierungen noch einmal unterläuft. Klaudia Wick sieht in der Berliner (Seite 26, nicht online) das Positive: "Thorsten Näter arbeitet seit mehr als dreißig Jahren als Fernsehregisseur und Drehbuchautor; gelegentlich schneidet er seine Filme sogar selbst. In Dramaturgie und Rhythmusgefühl macht 'Am Ende die Hoffnung' deshalb trotz der bruchstückenhaften Auflösung keinen Fehler." +++ Dietmar Dath schreibt in der FAZ (Seite 33, auch nicht online) die Fernsehfilmkritik als Literatur, welch ein schöner Text: "Zwei Fischer finden U-Boot-Überbleibsel; auf einem Stück Schrott prangt ein Hakenkreuz. Die Musik hat Angst. Eine Radiostimme weiß: Es war einmal ein Zweiter Weltkrieg. Damit ist die Bühne bereitet. Das Fernsehereignis 'Am Ende die Hoffnung' wird verantwortet von der Sat.1-Abteilung 'Deutsche Fiction', die genauso treffend 'German Dichtung and Wahrheit' heißen könnte. Hobbykellerhollywood vom Hausbackensten also, komplett mit marineseetüchtig umfrisiertem 'Titanic'-Plot (der Liebste landet auf dem Meeresgrund, die Greisin erinnert sich wehmütig), schepperndem Orchesterkrach aus Wellblech und liebevoll zu mahnenden Trümmerhügeln aufgeschichteten Bauschuttkulissen." +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder gegen 9 Uhr.
 

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