Einfach mal Kraftwerk verpflichten!

Einfach mal Kraftwerk verpflichten!

Die Fragen des Tages: Kann ein Journalist von traumatischen Erfahrungen profitieren? Bekommen Al-Jazeera und Al-Arabiya Konkurrenz? Funktioniert Crowdsourcing bei den Cablegate-Dokumenten?

Der Journalismusveteran Klaus Harpprecht hat in dieser Woche in einem umfänglichen Interview gesagt, er sei „mehr und mehr von der Ironie des Weltgeistes überzeugt“. Ob in folgendem Fall von Ironie die Rede sein kann, ist Ermessenssache, aber allemal läuft der Weltgeist derzeit zu ungewöhnlicher Form auf, hat er doch dafür sorgt, dass in einer aus 20 Bänden bestehenden „Nobelpreis Bibliothek“ der Bild-Zeitung demnächst für 7.95 Euro ein Buch eines Mannes zu haben sein wird, dessen „Sprache ein Gemeinschaftswerk Karl-Eduard von Schnitzlers und Joseph Goebbels' sein könnte“. Die Rede ist von Heinrich Böll, den die Zeitung vor rund 40 Jahren mit diesen Worten bedachte.

In die „einzigartige Sammlung“, in der „unter anderem Werke von Buck, Camus, Canetti, Faulkner, Garcia Marquez, Golding, Hemingway, Solschenizyn und Singer“ nicht fehlen dürfen, hat Bild Bölls „Gruppenbild mit Dame“ aufgenommen - und nicht „Die verlorene Ehre der Katharina Blum", jenen Roman, in dem der Schriftsteller seine Erfahrungen mit der Bild-Zeitung aufarbeitete. Was würde Katharina Blum (YouTube-Screenshot aus der Volker-Schlöndorff-Verfilmung des Romans) dazu sagen, wenn sie eine reale Figur wäre?

Die Bild-Zeitung hatte sich Böll seinerzeit als Gegner in ihrem Anti-Terror-Kampf ausgeguckt. Ein Begriff, der heute bekanntlich eine andere Bedeutung hat. Gestorben im aktuellen Krieg gegen den Terror ist der BBC-Journalist Omaid Khpalwak. Die NATO hat mittlerweile zugegeben, dass sie ihn Ende Juli bei einer Operation in Afghanistan getötet hat. Natürlich „versehentlich“, obgleich dieser elfmal getroffen wurde (Guardian, siehe auch Altpapier

Womit wir beim Thema zehn Jahre 9/11 gelandet wären, das heute womöglich zum letzten Mal ein Altpapier-Schwerpunkt ist. Max Ruppert hat für den journalist den US-TV-Journalisten Michael Walter interviewt, der vor zehn Jahren über den Angriff aufs Pentagon berichtete und später „einen Film über Journalisten mit posttraumatischen Störungen“ gedreht hat:

„Was können Journalisten aus dem 9/11-Trauma lernen?“

?„(...) Die Erlebnisse von damals haben aus mir einen besseren Journalisten gemacht. Wenn ich etwa an jemanden herantrete, der eine traumatische Erfahrung durchmacht, frage ich anders. Ich lege nicht mehr die Aggressivität an den Tag, die wir als Reporter oft haben. Wenn Sie mal auf der anderen Seite gestanden haben, wissen Sie, wie sich das anfühlt.“

„Wie kommen Sie mit der Berichterstattungsflut anlässlich des zehnjährigen Gedenkens klar?“

?„Am Abend des 11. September sagte ich zu meinem Kameramann: ‚Ich bin froh, dass dieser Tag vorbei ist.‘ Und er sagte: ‚Mike, dieser Tag wird für dich nie vorbei sein. In unserem Business wird es immer Ein-, Fünf-, Zehnjahresrückblicke geben. Du wirst dein ganzes Leben lang darüber reden.‘ Und genauso ist es gekommen. 

Hamed Abdel-Samad widmet sich der in der 9/11-Sonderausgabe des Freitag der Entwicklung der Sender Al-Jazeera und Al-Arabiya in den letzten zehn Jahren:

„(Sie) haben frischen Wind in die arabische Medienlandschaft gebracht, doch die Sender bleiben in den Zwängen von Petrodollar und Politik gefangen und stellen letztlich auch nur eine gut gemachte Mediendiktatur dar. Der 11. September 2001 verhalf Al-Jazeera zu Ruhm, der Irakkrieg etablierte Al-Arabiya als Konkurrenz. Doch die arabische Revolution könnte der Anfang vom Ende beider Sender sein. Früher war der arabische Zuschauer auf Al-Jazeera und Al-Arabiya angewiesen, um der staatlichen Propagandamaschine zu entkommen. Heute nimmt die Skepsis zu, weil beide Sender am Ende doch in Geist und Logik der Diktatur gewachsen sind. Sollten die Befreiungsbewegungen in Tunesien und Ägypten in echte Demokratien münden, werden in diesen Ländern neue Sender und Zeitungen entstehen.“

Die American Society of Magazine Editors hat eine Slideshow mit 101 9/11-Titelbildern amerikanischer Magazine zusammengestellt. Kaum zu toppen ist mal wieder die Programmpolitik der ARD. „Bin Ladens Leibwächter spricht“ lief gestern in einer Kurzfassung bei „Panorama“, die mittellange Version gab es später im frühen Nachtprogramm zu sehen und für die 60-minütige ist als Ausstrahlungszeit 3.10 Uhr vorgesehen (in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag).

„Julian Assange und wie er die Welt sieht“ - das ist und bleibt ein Thema in diesem Theater. Heute interviewt ihn Andrian Kreye unter diesem Titel für die Süddeutsche (S. 15). Es geht unter anderem um die Einbindung von Wikileaks-Sympathisanten in die Cable-Auswertung:

„Bei der Herausgabe der kompletten Daten arbeiten Sie derzeit nicht mit traditionellen Medienpartnern, wie bei Cablegate, sondern mit einer Crowdsourcing-Aktion bei Twitter. (Anmerk. d. Red.: Wikileaks hat über den Kurznachrichtendienst einen Aufruf herausgegeben, das Material nach relevanten Geschichten und Fakten zu durchsuchen, und diese dann unter der Kennmarke #WLfind über Twitter zu verbreiten). Funktioniert diese Methode?“

?„Die Methode ist effektiv. In den letzten dreißig Tagen wurden laut Google News rund 350.000 Nachrichtenartikel aufgrund unseres Materials verfasst. In fast jedem Land haben diese Geschichten Debatten und Untersuchungsverfahren initiiert. Die Hashtags (Twitter-Kennmarken) füttern diesen Nachrichtenzyklus.“

[listbox:title=Artikel des Tages[US-TV-Mann Michael Walter über sein 9/11-Trauma (journalist)##Die 9/11-Cover der US-Magazine (magazine.org)##Klarnamen sind zweitrangig (Zeit)]]

Erwartungsgemäß fehlt es auch heute nicht an Wortmeldungen zur deutschen Wired, der hippsten Männermagazinbeilage seit den Bauernkriegen. „Optik und Design sind gelungen. Der Rest übt noch“, meint Bernd Graff (sueddeutsche.de). Am ausführlichsten äußert sich Don Alphonso in der FAZ:

„Mitunter hat man den Eindruck, die Buntheit von modernen Gehhilfen und Prothesen vor sich zu haben, die das Elend von Verlust und Behinderung kaschieren. Das Bunte ist die einzige echte Klammer zwischen höchst unterschiedlichen Themen, die dem Bemühen geschuldet sind, den verschiedenen Lesern gerecht zu werden (...) Manchmal werden Augen geöffnet. Manchmal, wenn mal wieder die Gäule des digitalen Lebensstils durchgehen, schaut man betreten weg.“

Die von Chefredakteur Thomas Knüwer ins Spiel gebrachte Patriotismuskarte (siehe Altpapier von gestern) nimmt Spiegel Online auf:

„Es ist ‚Wired‘ und auch Deutschland zu wünschen, dass sich das Heft verkauft.“

Es ist zu Deutschland wünschen? Geht‘s noch? Nicht das Blatt, sondern die iPad-App von Wired rezensieren ring2 (Fazit: negativ) und meedia.de (positiv).

Mit einer innovativen Zeitschriftenmacher-Idee, die im viel besungenen Deutschland schwer vorstellbar ist, wartet Wallpaper auf. Das britische Magazin hat - und damit wäre dann auch die heutige Überschrift erklärt - für die Oktober-Ausgabe die Gruppe Kraftwerk als Gastredakteure rekrutiert.


Altpapierkorb

+++ In der Australiastraße 52b im Hamburger Hafen wurde gestern zum zweiten Mal der Deutsche Radiopreis verliehen. Wer warum in den zehn Kategorien gewonnen hat, weiß das Hamburger Abendblatt (ausführlicher steht es auf der offiziellen Website der Veranstalter). Doppelt freuen durfte sich das Internetradio 90elf (siehe relativ weit unten im Altpapierkorb von Mittwoch), das die zuständige Grimme-Jury als „beste Innovation“ kürte („Ein positives und gelungenes Beispiel für die Chancen und Entwicklungspotentiale des Hörfunks im Internet und Mobilfunk“). Schließlich bekam der neue 90elf-Mitarbeiter Manni Breuckmann auch noch einen Sonderpreis, allerdings nicht von der Jury, sondern von einem „Beirat“.

+++ „Bedingt gesprächsbereit“, gibt sich laut taz WDR-Chefin Monika Piel in Sachen Tagesschau-App. Hintergrund: deren von Verlegern beklagte vermeintliche Textlastigkeit. Steffen Grimberg schreibt, Piel „sei natürlich weiterhin bereit, ‚Möglichkeiten für Kompromisse und Kooperationen auszuloten‘. Dazu könnte gehören, ‚bei den Apps den Video- und Audioanteil noch weiter in den Vordergrund zu rücken.‘“

+++ „Online sind Namen zweitrangig", sagt David Clark, „einer der Gründerväter des Internet“ im Interview mit der Zeit, das Teil eines „Baut-ein-neues-Internet“-Specials in der Wochenzeitung ist, welches wiederum auf diesem Buch beruht (siehe auch @zeitbomber). Clark ist ein Verfechter der Pseudonymität im Netz: „Für die meisten Funktionen im Netz reicht es aus, wenn man sich selber ein Identifizierungszertifikat ausstellt und es dann kontinuierlich einsetzt. Wenn Sie eine solche digitale Identität kontinuierlich benutzen, werden die anderen Internetbesucher Sie im Lauf der Zeit kennenlernen. Ihnen vertrauen lernen oder auch nicht; das entspricht dem menschlichen Verhalten außerhalb des Internet sehr gut. Wie der Name dieser Person nun im richtigen Leben lautet, ist zweitrangig.“

+++ Weiterhin ein Thema ist der Kampf zwischen dem „bulligen“ (FTD vorgestern) Techcrunch-Erfinder und Blogger-Pionier Michael Arrington auf der einen und dem Gemischtwarenladen AOL bzw. der eher unbulligen Blogger-Pionierin Arianna Huffington auf der anderen Seite (DRadio Wissen, Heise Online). Christian Sickendick geht darauf ein, was es für Folgen haben könnte, dass AOL Arrington gefeuert hat: Wenn ein Journalist den Arbeitgeber wechsle, „interessiert das kaum einen Menschen, die Marke, die Zeitung, die Zeitschrift bleibt dieselbe. Bei einem Blog ist es anders. Die Macher, die Gründer, die irgendwann einmal die Webseite gestartet haben, sind selbst die Marke.“

+++ Eine Nachkritik zu „World Express – Atemlos durch Mexiko“, dem gestern bei RTL gelaufenen Pilotfilm zu einer geplanten Serie liefert Harald Keller für die Funkkorrespondenz ab: „‚World Express‘ ist ein aus dem Baukasten des modernen Abenteuerfilms zusammengesetztes filmisches Pasticcio. Die vorherrschende Eigenschaft ist jugendlicher Übermut, angereichert mit tollkühnen Szenen, die (...) durchgängig mit dem gebührenden Unernst geschrieben und inszeniert wurden. (...) Gehobene Ansprüche an die Logik werden von diesem Stoff nicht befriedigt. Aber dasselbe gilt ja auch für manch hochgelobten ‚Tatort‘, für gewisse ‚Polizeiruf-110‘-Episoden und insbesondere für etliche lächerlich brutale skandinavische Metzel-Thriller.

+++ Außerdem in der FK: von mir eine Nachbetrachtung zur Wiesenhof-Doku der ARD inklusive ihrer medialen Nachwirkungen und einer besonderer Würdigung der Entwicklung, dass Unternehmen auf kritische Berichterstattung mit Gegenfilmen reagieren.

+++ Letzteres praktiziert auch Scientology. Über den aktuellen Gegenschlag der Firma gegen die Zeitschrift New Yorker berichtet die FAZ (S. 41). Anlass ist dieser Artikel.

+++ Ist Tagesspiegel-Redakteur Joachim Huber der Xavier Naidoo des Medienjournalismus? Oder wie ist es zu erklären, dass sich diese Überschrift aus der vergangenen Woche und die heutige zu Gaby Köster (siehe auch David Denks taz-Kolumne „Fernsehen“) nur geringfügig voneinander unterscheiden?

 +++ Ebenfalls im Tagesspiegel: Sonja Pohlmann über Brigitte Mom, die neue Zeitschrift „für Frauen, die gut aussehen wollen, wenn das Baby brüllt“.

+++ Die Berliner Zeitung berichtet über das drohende Ende von France Soir, die einst „Frankreichs größte Tageszeitung“ war und in den 50er-Jahren „mit bis zu acht Ausgaben am Tag“ aufwartete

+++ An der dwdl.de-Meldung, dass ab kommender Woche das Monatsblatt „Sportsfreund“ in den Regalen liegt, fällt uns vor allem auf, dass das neue Magazin „über den Tellerrand des Tagesgeschehens hinaus blicken“ will. Potztausend! Ganz in der Nähe des Tellerrands liegt bekanntlich der Scheideweg. Der Südwestdeutsche Verlag für Hochschulschriften kennt offensichtlich die taz-Wahrheit-Rubrik „Neues vom Scheideweg“ nicht, sonst hätte er sich für diese Neuerscheinung vermutlich einen anderen Titel einfallen lassen als „Lettlands Mediensystem am Scheideweg“. Egal, bestimmt super, das Buch.

+++ „Wie das Jugendmagazin ‚Spiesser' für seine Anzeigenkunden den werbefreien Raum Schule erschließt“, beschreibt Katharina Riehl in der Süddeutschen (S. 17).

+++ Einen wichtigen Tipp für Fans von Hubert Burda und Helmut Marktwort hat Dorin Popa

+++ Ist die Frankfurter Rundschau „noch links“? meedia.de fasst die in der SPD-nahen Zeitschrift Neue Gesellschaft - Frankfurter Hefte geführte Debatte zusammen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag. 

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