Bayreuth in gemütlich

Bayreuth in gemütlich

Ein künstlerisch ambitioniertes Rechtfertigungsprojekt, eine anarchische Koch-Kunst-Musikshow, ein Post-Amoklauf-Film und ein aufrechter Sozialist stehen heute im Fokus.

„Wie wichtig war dieser Sieg?“ oder „Wie wichtig war dieses Tor?“ - solche Fragen, die eigentlich nur schwer als Fragen zu bezeichnen sind, stellen TV-Sportmoderatoren und -reporter bekanntlich gern. In diesem Milieu fühlt sich ja auch Reinhold Beckmann zu Hause, und das hat man an ihm gestern Abend im Hamburger Abaton-Kino angemerkt, als er im Anschluss an eine Vorpremiere der 90-minütigen NDR-Doku „Die Guantanamo-Falle“ mit dem ehemaligen Häftling Murat Kurnaz talkte. In dem Film spielt auch dessen Mutter eine Rolle, weshalb Beckmann also den Regisseur Thomas Selim Wallner fragte:

„Wie wichtig war die Begegnung mit der Mutter?“

Ein Anlass des Films, der am 3. September im NDR Fernsehen läuft, ist, dass sich am Mittwoch zum fünften Mal Kurnaz‘ Befreiung aus der „Guantanamo-Falle“ jährte. Ein beeindruckendes Lesestück zum Thema Guantanamo findet sich im übrigen in der September-Ausgabe des US-Magazins Esquire.

Dass Beckmann, der nicht zum ersten Mal mit Kurnaz redete, gestern Abend arbeiten musste, passt insofern, als er ab kommender Woche ja künftig immer donnerstags statt montags im Einsatz ist. Insofern konnte er sich schon einmal biorhythmisch eingrooven auf den neuen Tag - wobei Gesprächsbeschleuniger à la

„Murat, wie ist es, wenn du den Film siehst: Werden da viele Fragen beantwortet oder werden viele neue Fragen aufgeworfen?“

darauf hindeuten, dass Beckmann seine Form im Sommerurlaub hat konservieren können.
Auf den neuen ARD-Talkshow-Stundenplan (siehe auch Altpapier vom Montag) kann man sich derzeit auch mit Jürgen Roth einstimmen, der sich in der September-Nummer von konkret (S. 41) Anne Will vorknöpft und dabei erst einmal Marshall McLuhan zitiert:?

„Terror ist der Normalzustand jeder oralen Gesellschaft, weil in ihr zu jeder Zeit jedes eine Wirkung auf alles ausübt.“

Will wiederum sei

„eine jener auf Wirkung und noch mal Wirkung geeichten Terroristinnen, die (...) die Welt mit ihren hypokritischen Sabbeleien verdecken und dabei für hochseriöse Personen des öffentlichen Lebens gehalten werden“.

Was aus Wills Sicht alles anders wird ab kommenden Mittwoch, erfahren wir vielleicht heute Abend von ihr in der NDR Talkshow. Ein anderer Roth-Beitrag zu Will erscheint bald in diesem Buch, das auch Aufschluss darüber gibt, womit Menschen ihre Zeit verbringen, die früher einmal „Tatort“-Kommisssar waren und beinahe Bundespräsident geworden wären.

„Kurz bevor“ sich die ARD „der Herrschaft der fünf manischen Master (Jauch, Plasberg, Maischberger, Will, Beckmann)“ ergibt, vergewissere sie sich aber noch einmal „ihrer eigenen Bedeutung“, schreibt Peter Kümmel in der Zeit (S. 52). Es geht um das entfernt trilogie-ähnliche Projekt „Dreileben“ von Christoph Hochhäusler, Dominik Graf (aus desseb Film das neben stehende Bild stammt) und Christian Petzold, das am Montag zu begutachten sein wird (siehe Altpapier). Jenseits von „erzählerischem Wagemut und künstlerischer Freiheit“ sei das Ganze „auch ein Rechtfertigungsprojekt“, meint Kümmel:

„Vermutlich werden sie all jenen, die die in den kommenden Wochen über das Programm des Ersten schimpfen, ein schneidendes ‚Ja, aber habe Sie ‚Dreileben‘ gesehen?‘ entgegenschmettern.“

Dietrich Leder würdigt das „Sommerexperiment 2011“ in der Funkkorrespondenz:

„Im Thema und in der Form unterscheiden sich die drei Filme so stark, dass man mitunter die Gesamtkonstruktion (...) vergisst. (...) Gemeinsam ist den Filmen indes die Haltung, mit denen sie erzählt werden. Diese gemeinsame Haltung ist gekennzeichnet durch ein absolutes Ernstnehmen des vielgestaltigen Personals bis in die Nebenfiguren hinein, durch eine zwischen dokumentarischer Neugier und dramatischer Aufladung souverän changierenden Bildgestaltung, durch autonome, also nie für Erklärungen oder Deutungen funktionalisierte Dialoge und durch eine Schauspielführung, die den Figuren eine enorme physische Präsenz verleiht. Dem schaut man gerne zu, auch über die Gesamtlänge von 270 Minuten. Und so muss man eingestehen, dass der unterstellte Versuch und in diesem Sinne das Experiment der Regisseure, den Autoren- und den Genrefilm zu versöhnen, aufgegangen ist.“

Friederike Haupt schreibt auf der FAZ-Medienseite 39:

„Wer das irgendwann für eine Art Bayreuther Festspiele in bequem und unterhaltsam hält, liegt nicht ganz falsch“,

was aber gar nicht abfällig gemeint ist. Schließlich lautet die Überschrift: „Drei Regisseure retten das deutsche Fernsehen.“

Machen wir mit einem Rätsel weiter: Wer ist einer „der meistbeschäftigten Gremien-Vertreter der Pressebranche“, ein „Manager, der Karriere gemacht hat, ohne eine Managerkarrierre gemacht zu haben“ und gehört zudem „zum Fähnlein der letzten aufrechten Sozialisten unseres Landes“? Die Worte gelten dem für den Vertrieb zuständigen Jahreszeitenverlags-Geschäftsführer Hermann Schmidt, der zum 31. August aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand geht. Das erste Zitat stammt stammt aus der Media Tribune, das zweite vom Jahreszeitenverlags-Boss Thomas Ganske, das dritte von Manfred Bissinger, der einst auf sehr verschiedenen Posten für das Ganske-Imperium schuftetete und von dem man eigentlich nicht vermutete, dass er für „aufrechte Sozialisten“ etwas übrig hat. Dass der gestern in Hamburg-Harvestehude verabschiedete Vertriebsmanager brachennischenintern so eine Art Kultstatus hat - darauf deutet eine 140-seitige All-about-Schmidt-Sondernummer hin, die das Fachblatt DNV (Der neue Vertrieb) produziert hat (aus der stammt auch das Bissinger-Zitat).

[listbox:title=Artikel des Tages[Steve Jobs ist/war Stevie Wonder (Süddeutsche)##Anarchie bei ZDFkultur (taz)##Die Lage bei Fox News (konkret)]]

Das Thema, das Schmidt zuletzt immer wieder in den Vordergrund gerückt hat, ist die Gefahr, die der Pressevielfalt und -freiheit drohen, wenn an dem Presse-Grossosystem herumgeschraubt wird. In diesem Zusammenhang hatte er zu Beginn des vergangenen Jahres ein paar Wahrheiten über einen streitlustigen Globalkonzern aus einem Vorort vor Norderstedt ausgesprochen. Die Sache hatte ein unschönes juristisches Nachspiel, was zum Entschluss, sich zurückzuziehen, einiges beitrug. Mit der Zukunft des Grossosystems (siehe unter anderem dieses Altpapier) beschäftigt sich in dieser Woche auch text intern (S. 2). Man hat sich unter diesem Gesichtspunkt die 8. Novelle des „Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ (GWB) angesehen, in der das zuständige Bundeswirtschaftsministerium deutlich macht, dass es in Sachen Grosso „keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf“ sieht. Das Ministerium ziehe sich „klammheimlich aus der Affäre zieht“ aus der Affäre, tadelt aus das Fachblatt.

In seinem aktuellen Buch „Wir kommen wieder“ in dem es hauptsächlich um etwas anderes geht (und das in einem Verlag erscheint, der auch Bücher von mir verlegt - RM), erwähnt Schmidt noch einen weiteren Rückzugsgrund:

„Der Jahreszeiten-Verlag war zwei Jahrzehnte lang ‚mein‘ Verlag gewesen (...). Nun drängten andere ans Ruder, deren Vorstellungen ich in einigen wesentlichen Punkten nicht teilte. Die sollten dan mal sehen, wie sie ohne mich klarkommen würden.“

Da fällt einem dann natürlich zwangsläufig wieder ein, dass der Jahreszeiten-Verlag auch nicht mehr der feine Laden ist, der er gern zu sein vorgibt, jedenfalls ist er zuletzt durch einen nicht so sozialistischen Umgang mit Journalisten aufgefallen.

Das aktuelle Ideechen von Schmidts zukünftigem Ex-Verlag: Ganskes Leute haben die legendär defizitäre Was-auch-immer-Zeitschrift Prinz kleiner und teurer gemacht. Gutscheine „im Wert von über 60 Euro“ sollen die Preiserhöhung rechtfertigen. Die Coupons für verbilligte Cuba Libres und Massivholz-Esstisch kommen im neuen Heft noch vor dem, was man selbst mit viel Wohlwollen nicht als Content, geschweige denn Inhalt bezeichnen kann (siehe auch meedia.de).

Weit über die Zeitschriftenbranchenkreise hinaus, nämlich bis auf erste und dritte Seiten von Tageszeitungen, wirkt ein anderer krankheitsbedingter Abschied: Steve Jobs war nun garantiert kein aufrechter Sozialist, sondern „Stevie Wonder“, wie es die Süddeutsche in ihrer Überschrift auf Seit 3 zusammenfasst. Einer für die Altpapier-Gemeinde im Zusammenhang mit dem Abschied des Apple-Meisters besonders interessanten Frage geht Poynter nach: Inwiefern hat Jobs den Journalismus verändert?


Altpapierkorb

+++ Noch häufiger ein Thema als „Dreileben“ (siehe oben) ist „Die Lehrerin“, aber der Post-Schulamoklauf-Film läuft ja auch bereits heute bei arte. Es geht um zwei befreundete Lehrerinnen, von denen eine nach der Katastrophe im Koma liegt. Der Film „verhebt sich an seinem Gegenstand“, meint Jens Müller (taz). Torsten Körner schreibt in der Funkkorrespondenz: „Sind (die) Dialoge mit der Freundin Halluzinationen, Wünsche, transzendente Abenteuer, Mirakel? Von allem ein bisschen – und dieses Schweben zwischen den Per-spektiven macht diese Szenen schön und leicht. Diese Verwandlungsszenen vor Meereskulisse können die innere Befreiung und Veränderung visuell nicht schlüssig erklären.“ Vollauf begeistert zeigt sich Michael Hanfeld in der FAZ („So eindringlich und behutsam, dass es einen zerreißt“), während Katharina Riehl (Süddeutsche) den Film lobt, „weil er sich einfacher Antworten völlig enthält“. Auch Nikolaus von Festenberg (Spiegel Online) äußert sich.

+++ Die taz empfiehlt die bisher auf diversen Offenen Kanälen zu sehenden und nun bei ZDFkultur startenden „Konspirativen Küchenkonzerte“ - eine Mischung aus Talk (über Indiemusik und Kunst), Live-Performances und Kochshow, gesendet aus einer Wohnung in Hamburg-Wilhelmsburg. „Endlich mehr Anarchie“, freut sich Steffen GrimbergTill Briegleb (Süddeutsche) findet: „Dieses Home-Show-Format ist völlig untauglich für richtiges TV - und kommt genau deshalb an.“

+++ „Richtig rund laufen die Geschäfte schon eine Weile nicht mehr“. Gemeint ist in diesem Fall Rupert Murdochs Sender Fox News. „Seit den Primaries im vergangenen Herbst, bei denen die Republikaner die Kongressmehrheit eroberten, büßt Murdochs Meinungsmaschinerie kontinuierlich Marktanteile ein“, schreibt Andreas Busche in konkret. „Die Kündigung des rechtskonservativen Posterboys Glenn Beck im Frühjahr verdeutlicht das momentane Dilemma von Fox News. Die jüngere Zuschauerschaft der 25- bis 54jährigen zeigt sich immer weniger beeindruckt vom politischen Fanatismus der rechten Schreihälse. Gleichzeitig gehen dem Sender die Identifikationsfiguren aus.“ Dass Krawallbruder Beck jetzt in Isarel wütet, erfährt man aus der FAZ.

+++ Von Fox News und Glenn Beck ist es ja kein großer Sprung zu Kai Diekmann, weshalb hiermit chronistenpflichtbewusst notiert sei, dass Christoph Lesko für meedia.de ein langes Interview mit dem Burschen geführt hat. Geiler als das Gespräch ist indes die Selbstbeschreibung der Leadership Academy Berlin, von der der Interviewautor stammt: „Unsere Philosophie vermeidet den klassischen Weg vieler Consulting-Companies, mit ‚intelligenten Junior-Consultants‘ und reinen ‚Out of the Box‘-Konzepten bedeutende Kundenthemen zu beantworten.“ Hat das Heinz Strunk verfasst?

+++ „Nordost-CDU scheut Internet-Wahlkampf“, berichtet der NDR, weil die Partei in Mecklenburg-Vorpommern die Plattform abgeordnetenwatch.de „weitgehend“ boykottiert

+++ Der Tagesspiegel hat sich die Web-TV-Angebote der Fußball-Bundesligisten angeschaut. 

+++ Auch hier geht es um Fußball, irgendwie: Die vom Torwart Tim Wiese über einen Ex-Torwart in der Bild-Zeitung gemachte Äußerung: „Der Lehmann soll in die Muppet-Show gehen. Der Mann gehört auf die Couch" ist nicht schmerzensgeldwürdig.

+++ Wer schon immer wissen wollte, warum in Texten über die Zukunft des Journalismus zuletzt so häufig von „Curation“ die Rede war, erfährt dazu einiges in der Süddeutschen und bei news:rewired.

+++ Wortfeld bespricht „Mashup. Lob der Kopie“, das Suhrkamp-Buch des jetzt.de-Chefs Dirk von Gehlen.

+++ Welches Zeitschriftencover wird ein paar Monaten wohl zum besten des Jahres gekürt werden? Der Coverjunkie hat da schon mal einen Kandidaten.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.
 

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