Man sollte Fahrräder verbieten

Man sollte Fahrräder verbieten

David Cameron auf Mubaraks Spuren? Außerdem: Nicht so schlecht wie angenommen sind der Schweizer „Tatort“ und die deutsche Medienpolitik.

So einladend es oft auch sein mag, Vorschläge als Schnapsidee abzutun: Manchmal sollte man sich wohl diesem Impuls widersetzen, um alkoholische Getränke nicht zu diskreditieren. Dies gilt für die Ankündigung des britischen Premierministers David Cameron, mutmaßlichen Riot-Mitmischern den Zugang zu sozialen Netzwerken zu beschneiden, weil Twitter und der Blackberry Messenger (BBM) bei der Koordination der Randale eine Rolle gespielt haben. Matthias Kremp schreibt dazu bei Spiegel Online:

„Völlig unklar ist, wie der von Cameron genannte Ausschluss Einzelner aus den sozialen Netzwerken technisch umgesetzt werden soll. Könnte man einzelne Nutzer konkret als Drahtzieher identifizieren, wäre es in Zusammenarbeit mit den Betreibern der Angebote sicher möglich, deren Zugang zu den Netzen zu unterbinden. Es wäre aber nicht zu verhindern, dass diese sich wenig später unter einem Pseudonym erneut Zugang verschaffen.“

Zeit Online fasst einige internationale Reaktionen auf Camerons Äußerungen zusammen, unter anderem von Bloggern aus dem Nahen Osten. Unter den Zitierten ist auch Jeff Jarvis, der meistverehrte Guru Digitaliens, der sich im Guardian an Cameron wendet:

„Beware, sir. If you take these steps, what separates you from the Saudi government demanding the ability to listen to and restrict its BBM networks? What from Arab tyrannies cutting off social communication via Twitter or from China banning it?“

Im Februar, unter dem Eindruck der Aufstände in Tunesien und Ägypten, hatte der Premierminister im übrigen noch eine „neue Generation“ gepriesen,

„for whom technology - the internet and social media - is a powerful tool in the hands of citizens, not a means of repression“.

Ähnliche Widersprüche hat der Blog BodySpaceSociety in der Berichterstattung über die Randale ausgemacht:

„O sublime hypocrisy of European mainstream media! The same technologies that a few months ago were glorified for single-handedly bringing down dictators during the Arab Spring, are now at the core of an unprecedented moral panic for their alleged role in fuelling UK August 2011 riots. (...) And, o! exquisite refinement in the ancient art of double standard: the same conservative press that indignantly deplored dictators’ censorship of online communication, now call for plain suppression of entire telecommunication networks.“

Schon bevor Cameron seine Gedanken formulierte, hat die in London lebende Journalistin Mercedes Bunz in einem Interview mit DRadio Wissen etwas gesagt, was prima in die Debatte passt:

„Das wichtigste Gerät beim Aufstand ist eigentlich nicht mal das Blackberry, sondern das Fahrrad. Die meisten Aufständischen sind mit dem Fahrrad unterwegs, und wir würden ja jetzt auch nicht plötzlich anfangen, Gesetze gegen Fahrräder durchzusetzen.“

Passend dazu: Meldungen über aktuelle staatliche oder parastaatliche Eingriffe in die Kommunikationsfreiheit. In Libyen macht man sich verdächtig, wenn man ein Satellitentelefon benutzt (Reuters). Facebook will die Profile von Gefängnisinsassen löschen (der österreichische Standard berichtet kurz, Next Media Animation auf bewährt alberne Weise).

[listbox:title=Artikel des Tages["Rupert Murdoch's Greatest Moments in Ethics and Integrity" (Huffington Post)##Sozialdemokrat Eumann verteidigt deutsche Medienpolitik (Funkkorrespondenz)]]

Wenn man David Cameron so sieht, wie er sich auf tapsige, hölzerne Art als souveräner Hardliner zu inszenieren versucht, drängt sich der Eindruck auf, dass er vergessen machen möchte, dass er nach den Enthüllungen des Phone-Hacking-Skandals wegen seiner Nähe zu Rupert Murdoch und seine Leuten in der Öffentlichkeit gar nicht so souverän da stand. Mehrere Artikel, die allesamt in die Kategorie Nachwehen der Abhöraffärenenthüllung fallen, finden sich in der aktuellen Medienberichterstattung, etwa in der Süddeutschen, die ihren Aufmacher auf S. 15. dem „Selbstdarsteller“ Piers Morgan widmet, „der sich bei CNN als geschmeidiger Talker gibt“, den aber nun „seine Vergangenheit als Chefredakteur britischer Revolverblätter einholt“. Er könnte in Ferkeleien beim Daily Mirror, der nicht zu Murdoch gehört, verwickelt sein:

„Morgan, der von 1995 bis 2004 (...) Chefredakteur des Mirror war, hat jedes strafbare Verhalten bestritten. Aber in seiner Heimat ist die Versuchung groß, ihm nicht zu glauben. Morgan hat zu viele Menschen verletzt in seiner Laufbahn, die er meistens auf Kosten anderer gemacht hat.“

Richter erinnert aus gegebenem Anlass an bereits bekannte Verfehlungen Morgans:

„Im Jahr 2000 kaufte er Aktien einer Firma, die dann in einer Mirror-Kolumne empfohlen wurde. Es folgten jahrelange Untersuchungen gegen Morgan, der stets beteuerte, von der Drucklegung dieser Kolumne nichts gewusst zu haben. ... 2004 musste er den Mirror verlassen, weil er gefälschte Fotos gedruckt hatte. Auf denen sei angeblich zu sehen gewesen, wie britische Soldaten irakische Gefangene misshandelten.“

In einem zweiten Artikel weist Richter darauf hin, dass auch der Guardian 2006 mal ein Telefon abgehört hat, und zwar das eines „mutmaßlich korrupten Rüstungsmanagers“.
Eine aktuelle Äußerung Murdochs („There can be no doubt about our commitment to ethics and integrity") hat die Huffington Post zu der hübschen Headline „Rupert Murdoch's Greatest Moments in Ethics and Integrity“ inspiriert. Zehn aus der jüngeren Vergangenheit hat die HuffPo zusammengestellt. Wie es mit Murdochs Laden weiter geht, berichten Steffen Grimberg in der taz („Es bleibt alles beim Alten“) und Lutz Knappmann im Wirtschaftsteil der Süddeutschen („Der Alte bleibt - noch ein bisschen“)

Das neben der Randaleberichterstattung derzeit am stärksten kritisierte journalistische Genre ist die Börsenberichterstattung. Der Blog Lost in Europe hat dazu folgende Meinung:

„Die Medien sind selbst Teil der globalisierten Märkte, die jede Information, jedes Gerücht und jede Spekulation begierig aufgreifen und auf ihren vermeintlichen oder echten Mehrwert abklopfen. 95 Prozent sind dabei Spekulation, bestenfalls fünf Prozent Information. Völlig beliebig ist dieses Medienmarktsystem allerdings nicht. Die Parteilichkeit zugunsten der USA und das Vorurteil gegenüber Europa ist nicht mehr zu übersehen."


Altpapierkorb

+++ Die hiesige Medienpolitik ist gar nicht so schlecht. Sagt jedenfalls der SPD-Medienpolitiker Marc Jan Eumann. „Impulse statt Generalabrechnung: Von der Rundfunk- zur Netzpolitik“, lautet der Titel seines Aufsatzes, den der SPD-Medienpolitiker für die Funkkorrespondenz verfasst hat. Der Text ist eine Replik auf eine Abhandlung von Lutz Hachmeister und Thomas Vesting, die in einer Kurzfassung bei Carta erschien. Eumann: „So berechtigt die Kritik an den Regulierungsstrukturen im Einzelfall sein mag, so ist als vorläufige Bestandsaufnahme dennoch festzuhalten, dass diese Strukturen mit dafür gesorgt haben, dass in Deutschland ein vielfältiges und erfolgreiches Rundfunksystem entstanden ist. Es ist zum Beispiel auch nicht zu erkennen, an welcher Stelle die in Deutschland oft als Vorbild gerühmte britische Rundfunkaufsichtsbehörde Ofcom erfolgreicher ist als das bestehende Regulierungssystem in Deutschland. Es sei denn, man verfolgt einseitig das Ziel einer Beschneidung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.“

+++ „Wunschdenken“, den „am gespanntesten erwarteten ‚Tatort‘ 2011“ (siehe Altpapier vom Februar), den Nathalie Wappler, die Kulturchefin des Schweizer Fernsehens, einst öffentlich einst öffentlich zerpflückt hatte, bespricht Jochen Hieber in der FAZ (S. 33). Er entdeckt Anspielungen auf „Take the Money and Run“ (Woody Allen, 1969), „Lost in Translation“ und „Die Vögel“.

+++ Die taz vergleicht die Protagonistin des zweiten ARD-Sonntagskrimis „Maria Wern, Kripo Gotland" mit anderen fiktiven schwedischen Ermittlerinnen: „Mit Irene Huss ist Maria Wern auf Augenhöhe. Eine zweite Kommissarin Lund ist sie aber nicht.“

+++ Udo Reiter, der Noch-Intendant des MDR, steht in der Udo-Foht-Affäre inzwischen noch schlechter da als ohnehin. Diesen Eindruck erwecken Recherchen der durch investigativen Journalismus bis dato nicht aufgefallenen Super Illu, die der Flurfunk Dresden zusammenfasst.

+++ Die gegen den ehemaligen Netzwerk-Recherche-Boss Thomas Leif gestellte Anzeige wegen „Betrugsverdacht“ (siehe gestriges Altpapier) „richtet sich namentlich nicht nur gegen Leif, sondern auch gegen nicht benannte weitere Verantwortliche im Netzwerk Recherche. Das heißt, dass sich der Anfangsverdacht auch gegen die anderen Vorstandsmitglieder des Netzwerks richtet“, erläutert die FAZ.

+++ Um den „Volks-TV“-Planer Helmut Thoma (siehe ebenfalls Altpapier von gestern) geht es heute in einer David-Denk-Kolumne über „alte Männer, die nicht loslassen können“ (taz), sowie im Tagesspiegel

+++ Der Niedergang des früheren Intelligenzblatts Iswestija sei „ein Paradebeispiel für den Ruin der Presse“ in Russland, wo es „keine landesweite Qualitätszeitung mehr“ gebe, schreibt Johannes Voswinkel in der Zeit (S. 14)

+++Altpapier-Autor Christian Bartels hat das Internationale Zeitungsmuseum in Aachen besucht, „das sowohl über die lange Geschichte der Zeitung (und alles, was damit zu tun hat, das Drucken, das Papier, Zensur und Journalistenethos…) als auch (...) schwierige Gegenwart des alten Mediums Zeitung sowie seine Zukunft“ informieren will und an diesem „irrwitzige Pensum“ scheitert (ueberallistesbesser.de).

+++ Die Hannoversche Allgemeine empfiehlt mit Abstrichen Donald, das wohl nur einmalig erscheinende „Lifestylemagazin aus Entenhausen“ (Untertitel), Das Blatt sei „eine Parodie auf Männermagazine“ und überdies „der gelungene Versuch, die intellektuelle Sphäre der Donaldisten, die sich der Sprache und Kultur des Enten-Kosmos mit pseudowissenschaftlichem Eifer nähern, und die ganz normalen Donald-Sympathisanten und Comic-Konsumenten miteinander zu versöhnen“.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag. 

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