Lehrer statt Kasper!

Lehrer statt Kasper!

Heute auf der Agenda: Pöbelnde „Netzpeople“, pöbelnde Leser, substanzarme „kritische Nachfragen“. Außerdem: Politiker kritisieren den „Adelskult“-Sender RBB.

Früher war nichts besser - außer vielleicht die Titelblätter von Fernsehzeitschriften. Diese Erkenntnis vermittelt uns der Blog Dangerous Minds, der darauf hinweist, dass es 1966 möglich war, dass Roy Lichtenstein das Cover des US-amerikanischen TV Guide gestalten konnte. Wer heute in einem TV-Zeitschriftenverlag die Idee vorbrächte, die Titelseite von einem Künstler gestalten zu lassen, wäre wahrscheinlich für mehrere Herzinfarkte in den oberen Etagen verantwortlich.

Kommen wir zu den etwas virulenteren Mediendebattenthemen: Lange nichts Manifest-artiges zu Internetgemeindefragen mehr gelesen? Daniel Bröckerhoff alias @doktordab hat sich für den ZDF-Blog Hyperland zu enem derartigen Grundsatzbeitrag aufgerafft, weil es ihn geärgert hat, wie die hiesigen Netzgemeinde auf die Äußerungen des CSU-Innenpolitikers Hans-Peter Uhl zum Massaker von Norwegen („In Wahrheit wurde diese Tat im Internet geboren“) reagiert hat:

„Was folgte, war beinahe absehbar: (...) Es wurde geshitstormt, gebloggt, gerantet, was das Zeug hielt. Der Effekt: Eine kleine Äußerung eines Politikers erhielt mehr Aufmerksamkeit, als ihr eigentlich zustand. Das Netz begeistert sich an seiner eigenen Lustigkeit (...) Der Netzprotest hat sich längst ritualisiert: Ein Politiker sagt etwas internetahnungsloses und schon geht’s los: Anstatt den Ahnungslosen beiseite zu nehmen und ihm zu erklären, warum sein toller Vorschlag untauglich ist, beginnt der öffentliche Spott der Netzaktivisten.“

Bröckerhoff folgert daraus:

„Die Politik muss lernen, das Netz zu verstehen – aber gleiches gilt auch umgekehrt. Denn wir – die ‚coolen Netzpeople‘ werden dieses politische System mit all seinen Gremien, Konferenzen und Papieren nicht innerhalb von wenigen Jahren ändern, egal wie viel wir spotten, ranten, schimpfen und lustige Mashups aus Politiker-Äußerungen bauen.“

Der Text schließt mit einem mehrteiligen „Appell“, in dem Bröckerhoff unter anderem fordert:

„Erklärt ihnen ‚das Internet‘. Wieder und wieder. Macht euch nicht zum Kasper, sondern zum Lehrer.“

Ob auch schon mal jemand gefordert hat, die vehementen Kritiker bundesdeutscher Auslandseinsätze sollten gegenüber den hiesigen militärpolitischen Strategen als „Lehrer“ auftreten und erstere „beiseite nehmen“, weil sie, die Politker, nicht „verstehen“, was in Afghanistan vorgeht? Mit anderen Worten: Politiker sind nicht ahnungslos, sie wissen, was sie tun. Wenn Uhl sagt: „In Wahrheit wurde die Tat im Internet geboren“, sagt er das, obwohl er weiß, dass es nicht so war. Er sagt es, weil er glaubt, damit politisch punkten zu können.

Auch Heiner Geißler mag dieses oder jenes nötig haben, aber wohl keinen Lehrer. Altpapier-Autor Matthias Dell widmet sich auf der Titelseite des Freitag in seinem Kommentar zur Geißler-Goebbels-Causa (siehe auch Altpapier vom Mittwoch) Deutschlandfunk-Moderator Tobias Armbrüster, der den CDU-Politiker interviewt hatte:

„Es ist richtig, dass im inflationären und falschen Gebrauch von Nazi-Anspielungen die Gefahr einer Verharmlosung liegt, also eines Verlust des Wissens um die Verbrechen, die von Deutschen vor gerade zwei Generationen massenhaft organisiert wurden. Es ist aber auch so, dass Reflexe, die auf bestimmte Reizwörter anspringen (exemplarisch: Johannes B. Kerners ‚Autobahn geht nicht‘ zu Eva Herman), dieses Wissen selbst nicht mehr transportieren, weil sich das Problematische etwa am ‚Nazi-Vergleich‘ auf die Logik von Ansprechen-und-Dementi-Einholen verkürzt. Das DLF-Interview war epochal, weil es dem Leerlauf dieser Logik durch Gesprächspausen hörbar Raum verschaffte.“

Die Frage, „die der Journalist Armbrüster immer wieder stellte“ („Verharmlosen Sie nicht die Sprechweise der Nazis?“) sei, so Dell, „eigentlich keine Frage gewesen, sondern ein Symptom für „die Unfähigkeit eines Journalismus, über das Diktat eines ‚kritischen Nachfragens‘ hinaus das Problematische, das sich hinter der Verharmlosung verbirgt, erklären zu können“.

Während im oben verlinkten Hyperland-Text die Pöbeleien von Netz-Auskennern beklagt werden, ärgert man sich in Online-Redaktionen vor allem über entsprechende Wortbeiträge ganz gewöhnlicher Nutzer. Wie man aus der Tatsache, dass die Leser in der Kommentarspalten zu viel pöbeln, eine originelle Artikelidee entwickeln kann, zeigt ein Beitrag von Philip Faigle für Zeit Online.

„Manchmal sind es Politiker oder Firmenchefs, die beschimpft werden, manchmal sind es die Autoren selbst. Regelmäßig wird uns Journalisten vorgeworfen, ‚dumm‘ oder sogar ‚käuflich‘ zu sein. Manche Leser googeln sogar die Namen der Autoren und verwenden Details der Biografie, um den Redakteur anzugreifen. Einmal schrieb ein Leser unter einem meiner Texte, es wäre besser, man würde mich gleich aus Europa ausweisen.“

Deshalb hat Faigle einen 53-jährigen aus der westfälischen Provinz besucht, der „schon rund 500 Kommentare geschrieben“ hat.

Die öffentlich-rechtliche Posse der Woche - die Ankündigung des RBB, die Hochzeit von Georg Friedrich Prinz von Preußen und Sophie Prinzessin von Isenburg live übetragen zu wollen (siehe Altpapier vom Mittwoch) - greift Sonja Pohlmann im Tagesspiegel auf. Sie hat einige Regionalpolitiker zur Sache befragt, die von dem „Adelskult“ beim Zwei-Länder-Sender gar nicht begeistert sind. Stefan Ludwig, Vize-Fraktionschef der Linken im Brandenburger Landtag, zum Beispiel:

„Im Gegensatz zu Großbritannien und Monaco haben wir hier keine Monarchie, sondern hier heiraten Bürger einer Republik. Deshalb ist der Aufwand einer dreistündigen Live-Übertragung angesichts der vom RBB selbst mehrfach angeführten Kostenbelastung durch Live-Formate völlig unangemessen.“

Klaus Ness, medienpolitischer Sprecher der SPD und Mitglied im RBB-Rundfunkrat, wettert:

„Es ist manchen Zuschauern wohl schwer vermittelbar, dass sie auf Live-Übertragungen im Fernsehen wie vom Karneval der Kulturen aus Kostengründen verzichtet müssen, aber eine Hochzeit drei Stunden lang live gezeigt wird. Ich bin sicher, dass über diese falsche Prioritätensetzung bei der nächsten Rundfunksratssitzung diskutiert wird.“

Hört, hört! Da werden die öffentlich-rechtlichen Adelskult-Anbeter aber zittern!

[listbox:title=Artikel des Tages[Schluss mit lustig! Ein Appell an die Netzgemeinde (Hyperland)##Bild straft ARD ab - mit weniger TV-Tipps (Funkkorrespondenz)]]

Die Bild-Zeitung dürfte gegen die Hochzeitssendung wenig einzuwenden haben. Falls sich jemand fragt, wann eigentlich ihre große ARD-Kampagne losgeht (siehe unter anderem dieses Altpapier): Die Funkkorrespondenz weist darauf hin, dass das Bolevardblatt „im Kleinen die ARD im vergangenen Monat schon mal abgestraft“ hat:

„Bei den täglichen Fernsehtipps auf Seite 1 des Blattes ist die ARD im Juli regelrecht abgestürzt: Es gab nur noch fünf Hinweise auf deren Sendungen. Dabei liegt die ARD mit ihrem Ersten Programm in dieser Rubrik in der Regel klar auf Platz 1, stets vor dem ZDF. Die Privatsender spielen bei diesen Fernsehtipps (...) fast keine Rolle. RTL und Sat 1 müssen froh sein, wenn sie wenigstens zwei- oder dreimal im Monat berücksichtigt werden. (...) Und nun im Juli die Überraschung: Das ZDF liegt bei den Bild-Fernsehtipps mit 10 Hinweisen auf Platz 1 und auf Rang 2 findet sich – Sat 1 mit 6 Nennungen. Erst danach kommt die ARD auf dem dritten Rang mit nur 5 Hinweisen.“

Erwähnenswert ist das deshalb, weil ähnliche Umstände vor rund eineinenhalb Jahren tatsächlich eine Kampagne einläuteten:

„Als die ARD im Dezember 2009 ankündigte, sie werde bald die ‚Tagesschau‘-App starten, reduzierten sich die Bild-Fernsehtipps für ARD-Sendungen von Dezember 2009 bis März 2010 ebenfalls signifikant (...). Anschließend im April 2010 druckte Bild eine dreiteilige Serie über ‚Filz und Schlamperei‘ in der ARD.

Nicht für die Bild-Zeitung, sondern für Zeit Online schreibt Christian Denso. Bildblog-Chef Lukas Heinser kommt in seinem Blog Coffee and TV dennoch nicht umhin zu erwähnen, dass Densos Beitrag zum gestrigen Schmerzensgeld-Urteil in Sachen Markus Gäfgen von erstaunlicher Schlichtheit ist. Denso - ein „Name, den man sich merken sollte“, wie Don Alphonso bereits 2009 bemerkte - schreibt:

„Das Urteil des Frankfurter Landgerichts reiht sich ein in eine beunruhigende Serie von Richter-Entscheidungen ‚im Namen des Volkes‘, die zwar Recht darstellen mögen, aber von diesem Volk zu großen Teilen nicht verstanden werden.“

Heinser entgegnet:

„Wer könnte es dem Volk denn erklären? Man bräuchte Menschen, die Texte schreiben, die dann vom Volk gelesen werden. Texte, die sauber recherchiert wurden und alle Fakten und Positionen abbilden, ohne dabei in Populismus zu verfallen. Die Autoren dieser Texte bräuchten noch eine Berufsbezeichnung — wie wäre es mit ‚Journalisten‘?

Hilfreich zur Einschätzung der Causa ist im übrigen auch die Äußerung eines Kommentators bei Coffee and TV. Er weist darauf hin, dass Gäfgen gewissermaßen ein Verlustgeschäft gemacht hat, weil er 80 Prozent der Gerichtskosten tragen muss. Die entsprechende Summe übersteigt wohl das Schmerzensgeld.


Altpapierkorb:

+++ Heute Abend beginnt die Bundesligasaison. Die Medienseite der Süddeutschen stimmt mit einem Artikel über Taktik-Blogs ein („Die Demokratie der Doppel-Sechs“), die taz mit einem Bericht darüber, dass „Waldis Club“, in der ARD im Anschluss an das Spiel BVB vs. HSV zu sehen, heute erstmals im „fernen Osten“ palavert, nämlich in Leipzig.

++ „Ich kauf doch nicht ‘ne App! Das steht ja auch nicht auf dem Karton“ - Wer es irrwitzig findet, wenn ein iPad-Besitzer so etwas sagt, wird die Geschichte, die die Sat-1-Sendung „Akte“ rund um die iPad-App von Bild inszeniert hat, noch irrwitziger finden (stefan-niggemeier.de).

+++ Zu den Fernseh-Ereignissen des vergangenen Jahres gehörte die spektakuläre Rettung chilenischer Bergleute. Heute leben die Protagonisten des damaligen Medienevents in Armut, berichtet die Washington Post.

+++ Wer in der akuellen Klarnamendebatte einiges verpasst hat, liest „‚Real Names‘ Policies Are an Abuse of Power“ von Danah Boyd. Ohnehin der luzideste Text zu dem Thema bisher (zephoria.org).

+++ Neues zu Rupert Murdochs Kalamitäten findet man im Tagesspiegel und bei Bloomberg. Aber vielleicht kann sich der angeschlagene Medienmogul ja ein bisschen darüber freuen, dass sich jetzt auch der Daily Mirror „Abhörvorwürfen“ ausgesetzt sieht (taz).

+++ „Islamkritik ist ein intellektuelles Kriegsspiel“ - ein Statement von FAZ-Feuilletonchef Patrick Bahners in einem gestrigen Beitrag des ARD-Magazins Monitor, in dem es vorrangig um das PI-Milieu ging.

+++ Bahners‘ Redakteurskollege Edo Reents blickt in der FAZ (S. 35) leicht vergrätzt auf eine andere ARD-Sendung zurück - die Günter-Grass-Folge der Reihe „Deutschland, deine Künstler“. Der Autor kritisiert die im Film vertretene Einschätzung, „Grass habe ‚noch Jahre später‘ auf seine SS-Angehörigkeit mit Beschämung zurückgeblickt“. Reents‘ Erläuterung: „‚Noch Jahre später‘ insinuiert ja, Grass hätte praktisch andauernd und öffentlich auf diese von ihm bis heute zum biographischen Detail kleingeredete Sache zurückgeblickt und nicht erst mehr als sechzig Jahre später. In dem langen Schweigen darüber, das dem Danziger Moraltrompeter den Vorwurf der Heuchelei kaum ersparen kann, liegt doch der ganze Witz!“   

+++ Ebenfalls auf der FAZ-Medienseite: eine Rezension zu „Fischer fischt Frau“, der bei arte zu sehenden „Heimat- und Liebeskomödie“ rund um einen Ostfriesen und eine Marokkanerin. Die FAZ entdeckt „nette, kulturvergleichende Pointen mit Hang zum politisch unkorrekten Kalauer“ à la „Der Marokkaner kauft sein Auto gebraucht, aber die Frau neu. Der Deutsche macht’s umgekehrt.“ Nicht begeistert ist Else Buschheuer: „‚Bauer sucht Frau‘ lässt grüßen“ (Süddeutsche). Und Rainer Tittelbach (tittelbach.tv) findet „diese Multikulti-Komödie für die 60+-Generation arg lendenlahm“.

+++ Wie sieht für die Berliner Bürgermeisterkandidatin Renate Künast die „ideale Zeitung" aus? Die Berliner Zeitung stellte ihr „die Aufgabe“, aus - natürlich - Berliner Zeitung sowie Frankfurter Rundschau, Süddeutsche, taz und BZ „mit Klebestreifen, Schere und Papier“ ein Wunschblatt „zusammenbasteln“.

+++ Der Tumblr-Blog von The Atlantic empfiehlt eine Karte, auf der Daten zu gewaltsamen Angriffen gegen Journalisten in Afghanistan seit 2001 veranschaulicht sind. 

+++ Die Bluessängerin Etta James lebt! Eine Website, die täuschend echt das Klatsch-Portal TMZ nachgeahmt hatte, hatte ihren Tod verkündet, was dann unter anderem via Twitter schnell die Runde machte (Los Angeles Times).

+++ Definitiv bald nicht mehr am Leben ist dagegen der frühere Glücksspielsender 9 Live. Am 9. (!) August wird das Programm eingestellt (Kölner Stadt-Anzeiger/dapd, sueddeutsche.de).

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag. 

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