Hätte ja sein können

Hätte ja sein können

Al Qaida? Eben nicht. Der Umgang mit den Ereignissen in Norwegen gibt Anlass zur Beschäftigung mit dem „Super-GAU der Terrorexperten“ und der Logik des Echtzeitjournalismus

Medienjournalisten haben – das ist der Job – in Momenten, in denen sich alle anderen von den Medien besonders sehnlich Informationen erhofft, in der Regel nichts Besseres zu tun, als die Performance der Journalisten genau im Blick zu behalten.

Ihre Geschichte über die Nachbereitung des Anschlags und Massenmords von Norwegen ist nun also diese: Die Medienaufbereitung geriet zur Bühnenaufführung huntingtonschen Musterdenkens, wenn es um den Islam geht, und bewies eine erschreckende Schlampigkeit.

Bei der Satire „Switch“ würde es, wie Stefan Niggemeier in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schreibt, auf die Frage nach der Ursache eines gerade passierten Unglücks heißen: „Al Qaida. Alles andere wäre zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulation.“

Dummerweise waren ZDF-„Terrorexperte“ Elmar Theveßen und seine Kollegen, so Niggemeier, „höchstens noch Millimeter von der ‚Switch‘-Satire entfernt“:

„Elmar Theveßen (…) berichtete in der ‚heute‘-Sendung von seinen Gesprächen mit ‚norwegischen Sicherheitsbehörden‘, die ihm bestätigten, was sie offiziell (aus gutem Grund, wie man im Nachhinein meinen möchte) nicht sagten: dass wohl Islamisten hinter den Anschlägen stecken.“

In seinem Blog schritt Niggemeier zur Kür des „dümmsten voreiligen Kommentars“; dass die Auswahl nicht klein war, zeigten das Bildblog sowie Niggemeier in der Zeitung: „In allen Teilen der weltweiten Medienmaschinerie hatten dieselben Reflexe funktioniert.“

Karim El-Gawhary stößt für die taz in ähnlicher Tonlage ins selbe Horn – ein wenig anders geht die Melodie natürlich – und nennt Norwegen den „Super-GAU der Terrorexperten“.

„Seien es die öffentlich-rechtlichen Sender wie ARD oder ZDF oder private wie NTV oder N24 – auf allen Kanälen schwadronierten die vom Fernsehen ernannten Fachleute über politische Militanz und erzählten aus dem islamistischen Nähkästchen. Binnen kurzer Zeit hatten sie die Öffentlichkeit zu Fachleuten über die skandinavische al-Qaida-Szene gemacht und Wasser auf die Mühlen der allumfassenden Islamophobie gegossen.“

Im Hintergrund des vorschnellen Einschießens auf Islamisten steht bei Niggemeier der Terror selbst: Die Reaktionen und Reflexe hätten gezeigt, „wie sehr es Al Qaida gelungen ist, unser Denken zu bestimmen“. El-Gawhary hebt eher auf die Geschwindigkeit ab, mit der Ereignisse in Echtzeit erklärt werden sollen. Er schließt:

„Vielleicht sollten die Medien einfach in Fällen wie Oslo für ein paar Stunden den Mut zur Lücke versuchen. Wenn sie zu dieser Größe gefunden hätten, dann ließe er sich ersatzlos streichen: der Berufsstand des Errorexperten.“

Beim in der medialen Aufarbeitung recht präsenten Tagesspiegel kritisiert das Expertenwesen aus ähnlichen Gründen wie El-Gawhary übrigens ausgerechnet ein – Experte:

„Journalisten wollen offenbar nicht alleine die Last der Spekulation auf ihren schmalen Schultern tragen und delegieren die Verantwortung an gleichfalls unwissende Experten. Dass es dann zu falschen Aussagen kommt, wie am Freitag, darf also nicht verwundern. Das Gute am beschleunigten Nachrichtengeschehen ist, dass falsche Aussagen schnell wieder korrigiert sind. Aber generell wünsche ich mir im Journalismus einen kritischeren Umgang mit Experten.“

Die Zeitfrage im Echtzeitjournalismus ist, zumindest seit kurzem, auch eine, die der vom Spiegel in anderem Zusammenhang besuchte FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher stellt. Ein Mann, der „in der Zwischenwelt“ von Print und Online „sein ganz großes Thema gefunden“ habe. Schirrmacher:

"Sobald man ins Internet geht und dort Nachrichten abruft, wird einem Print-Leser klar, dass sein Wissensstand veraltet ist. Gleichzeitig merkt er aber auch, dass im Echtzeit-Internet die Haltbarkeit sich auf Sekunden beschränken kann, vor allem dann, wenn, was immer häufiger geschieht, Nachricht mit Interpretation unzulässig vermischt wird. Dass das Netz alles weiß, ist eine Fiktion. Der Print-Journalist muss sich also zum Phänomen seines unvollständigen Wissens bekennen, und das tut er am zukunftsträchtigsten, indem er Hintergründe analysiert." (Mehr zu diesem Spiegel-Artikel im Altpapierkorb)

Den gewonnenen Erkenntnisgewinn aus Krisenberichterstattung speziell „im öffentlich-rechtlichen Fernsehen“ und zusätzlich der „lang erwartete(n) aspekte-Sendung mit Thilo Sarrazin“ (mit einem Beitrag der heute auf der SZ-Medienseite porträtierten Güner Balci, den die Berliner Zeitung „komplett überflüssig“ nennt) sowie die „neuen Einsichten, die mir diese Sternstunden des Qualitätsjournalismus schenkten“, stellt Hilal Sezgin in der taz graphisch dar: mit einer weißen Fläche, die beinahe eine halbe Seite einnimmt (siehe Screenshot der pdf-Version oben) – vielleicht sollten, kleiner Exkurs, die Freischreiber, der Berufsverband der freien Journalisten, da mal nachfragen: Unter Umständen ergibt das ein gutes Honorar.

Online stellt der Tagesspiegel weitere Reaktionen auf die Anschläge in Norwegen zusammen, vor allem aber auch zahlreiche bei Twitter, in Blogs und bei Tagesspiegel.de selbst („Etwa zwei Drittel der Kommentare, die auf Tagesspiegel.de von Usern geschrieben wurden, unterstellten islamistische Motive“).

[listbox:title=Artikel des Tages[Alles andere wäre Spekulation (FAS)##Error-Experten (taz)##Experte über Experten (TSP)##Der das Imperium erschüttert (SZ)##Diesen Platz bitte selbst ausfüllen (taz)]]

Auch dem Internet-Manifest des Attentäters widmen sich die Zeitungen, etwa die komplette Seite 3 der SZ. Dem wiederum Tagesspiegel sagt der im (von mir ungelesenen) Manifest des norwegischen Attentäter zitierte, in England weilende Pointenhuber Henryk M. Broder „(a)uf die Frage, ob er sich jetzt irgendwelche Sorgen mache, dass er nun weltweit in so einem Zusammenhang exponiert werde“: "Das einzige, worüber ich mir Sorgen mache, ist, woher ich Ersatzteile für meinen Morris Traveller aus dem Jahre 1971 bekomme. Sogar in England werden die Teile knapp."

Die FAZ erwähnt auf der Titelseite noch andere, die zitiert wurden:

„Was können die verstorbenen Staatsmänner Jefferson und Churchill dafür, dass der Norweger sie zitierte, was kann der legendäre Philosoph Mill dafür, dass ein zum Verbrecher Entschlossener sich auf ihn beruft? Der Rückgriff eines Menschen, der Kinder erschießt, auf das Christentum ist ebenso hirnrissig und aller Logik fern wie die Ermordung von Landsleuten durch einen, der die Nation zu schützen vorgibt.“

Dass die Zeitungen tendenziell heute also nicht mit Furor über ganze Menschengruppen herfallen, sondern den oder die Einzeltäter als solche benennen, solange nichts anderes bekannt ist, ist natürlich richtig. „Die ersten Antworten“, heißt es im FAZ-Feuilleton (S. 25), „passen nicht in das gängige, jedem Leser skandinavischer Krimis vertraute Links-Rechts-Schema.“

Andererseits ist das eine ideale Gelegenheit, um noch einmal festzuhalten, dass eine ähnlich aufgeklärte Haltung im Umgang mit Fanatikern vor ziemlich genau zehn Jahren nicht minder wünschenswert gewesen wäre.

Vermutlich brauchen wir mehr Nick Daviese vom Guardian, die es mit jedem Detail genau nehmen und in jahrelangen Recherchen einen Mann wie Rupert Murdoch quasi zu Fall bringen, und weniger Leute, die immer nur Vermutungen anstellen. Aber das ist reine Spekulation. Die Süddeutsche telefonierte mit Davies für die Samstagsausgabe und stellt ihn als vielleicht etwas anstrengenden Zeitgenossen dar. Doch man kann im Licht der Norwegen-Berichterstattung zumindest nochmal die SZ-Zusammenfassung seiner, Davies‘, Medienkritik zur Kenntnis nehmen:

„Im Kern beklagt Davies, dass Journalismus ein Geschäft sei, das nur noch wenig mit Aufklärung zu tun habe. Im Wesentlichen bestehe der Inhalt britischer Blätter aus Agenturmeldungen oder PR-Mitteilungen, nur ein geringer Teil aus Eigenrecherche oder überhaupt nur einer summarischen eigenen Überprüfung der Fakten durch die Redaktion. Manche hielten Davies" Abrechnung mit der eigenen Zunft für überzogen pessimistisch, andere eher für eine schlichte Beschreibung der Realität.“


Altpapierkorb

+++ Medienmogule: Hat James Murdoch falsch ausgesagt? +++ +++ In der FAZ wird in aller Kürze die Sorge zitiert, „die ‚Pro Israel‘-Stimmen in der Presse könnten nach Murdochs Fall verstummen“ (S. 29) +++ Die Trauerfeier für Leo Kirch am Freitag wurde bei sueddeutsche.de fürs Showgeschäft aufbereitet mit einer Fotogalerie (Foto oben: Sterbebildchen) +++

+++ „Das Hamburger Abendblatt könnte einen Teil seiner Eigenständigkeit verlieren“, so der Spiegel. Der Springer-Verlag „will sich dazu nicht äußern und verweist auf den gemeinsamen Redaktionspool der Springer-Blätter“, der ja schon die blaue Welt-Gruppe in die, äh, schwarzen Zahlen geführt hat +++ Super-Idee: „Das japanische Industrieministerium Meti will eine Firma damit beauftragen, im Internet ‚fehlerhafte beziehungsweise unpassende Informationen über die Sicherheit der Atomkraft‘ aufzuspüren“, so Der Spiegel. „Eine Sprecherin der Energieagentur sagte, die Maßnahme sei nötig, weil Blogs und Tweets ‚Schäden durch Gerüchte‘ angerichtet hätten.“ +++

+++ Der Spiegel macht sich im oben genannten Text, in dem Frank Schirrmacher aufblitzt, über die Webpräsenz der deutschen Verlage her: „Wem (…) gehört die Zukunft? Dem Wiederaufguss-Journalismus? Dem Bezahlmodell? Oder ist mit News künftig überhaupt kein Geld mehr zu machen, wie die Apokalyptiker orakeln?“ Und Schirrmacher gehört nicht nur der Texteinstieg, sondern auch der Schluss: „Wenn wir nicht jetzt reagieren, wo wir noch handlungsfähig sind, werden wir einen hohen Preis zahlen: Es werden die Zeitungen und Zeitschriften nicht etwa verschwinden, sondern es werden gewaltige Konzentrationsbewegungen entstehen, an deren Ende Journalisten zu Zulieferbetrieben werden und Mega-Konzerne die Inhalte verteilen.“ +++

+++ Im Fernsehen: Die FAZ (S. 29) findet das Kleine Fernsehspiel „Cindy liebt mich nicht“ (ZDF, 23.50 Uhr) beeindruckend +++ Die taz empfiehlt „Chiko“, trotz schwer erträglicher Gewaltszenen (ARD, 22.45 Uhr) +++ Und wie war „Dalli Dalli“ mit Kai Pflaume? „Das Problem ist nur, dass Hans Rosenthal nicht wiederbelebt werden kann. Und auch nicht seine Zeit“ (TSP). Dagegen die FAS: Man scheint „leider fürs Publikum des Dritten Programms die Original gerettet zu haben“. Dagegen die BLZ: „Wer sich am Sonabend vor den Fernseher setzte und sich die erste Folge des neuen "Dalli Dalli" ansah, konnte plötzlich glasklar ausmachen, wo und wie sich das Showfernsehen seit Hans Rosenthal verändert hat.“ Allerdings, so SPON: „Dabei ist es natürlich Unsinn, dass die Neuauflage nun vor allem Zuschauer zufrieden stellen muss, die schon das Original gesehen haben. Die Show muss, bei aller Nostalgie, vor allem eines: das Publikum auch noch im Jahr 2011 unterhalten können“  +++ Umfassende Humorlosigkeit und Irrelevanz stellt einmal mehr Oliver Pocher unter Beweis, im Spiegel-Interview +++

+++ Sonst so: Zu den Aktionen gegen Bild (siehe auch Niggemeier-Blog) befragt die Berliner / FR den WDR-Hörfunkdirektor +++ Die taz berichtet im Medienseitenaufmacher von Islamisten, die einen marokkanischen Blogger mit dem Tod bedrohen würden +++ Die SZ behandelt einen Fall von Jugendschutzkritik am „Polizeiruf“, die wie Zensur wirke – der Staat versage im Film, das sei die beanstandete Botschaft, fasst Christopher Keil zusammen (S. 15) +++

Das Altpapier stapelt sich am Dienstag wieder

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