Alles neigt zum Weitergehen

Alles neigt zum Weitergehen

Was wird 2011? Was verbindet Anfang und Ende 2010 (Anschläge wg. Kurt Westergaard) . Und wer bewegte 13.800 verliebte Nerds mit iBook in Berlin-Mitte?

Eigentlich wäre jetzt die Zeit für lustig-kühne Vorschauen auf 2011 neben den ausführlichen Rückblicken auf 2010, die ja schon zur Verwertung des reichlich vorhandenen Contents überall angestellt werden.

In ersterer Hinsicht ist heute für die Berliner Zeitung Jörg Thadeusz unterwegs, den man als Berliner eigentlich mögen müsste, so oft, wie er einem begegnet. Er räumt u.v.a. Stephanie zu Guttenberg Chancen auf "Heiligsprechung, bevor sie Königin von Deutschland wird", ein. Vielleicht einen Tick ernster gemeint: dass die Bild-Zeitung ihre eigene Frage, ob KT 2011 "schon Kanzler" wird, ein wenig verneint.

[Und falls noch eine schon etwas ältere Vorschau auf 2011 interessiert: Christian Jakubetz zufolge wird Stefan Niggemeier glauben, "er sei Lena Meyer-Landrut", noch bevor Konstantin Neven DuMont ins "Dschungelcamp" geht und dann ganz RTL kauft; die Guttenbergs kommen hier nicht vor, aber Richard Gutjahr...]

Aber die Aktualität passt heute leider nicht ganz zu solch verspielten Ansätzen. Gestern wurde vermutlich der vermutlich spektakulärste Anschlag auf die Medienfreiheit mindestens dieses Jahres, wurde "knapp ... ein Blutbad" (SPON) verhindert (siehe auch evangelisch.de). Der Angriffsversuch auf die Jylland Posten (die ihren Bericht in unschöner eigener Sache mit einem Screenshot vom foxnews.com-Bericht illustriert) hat die deutsche Presse ein wenig auf dem falschen Fuß erwischt.

Auf der Titelseite der Süddeutschen verweist eine Randspaltenmeldung auf die Seite 7, auf der ein dürrer Agenturbericht wartet, wie er jedem ansatzweise Politik- oder Medieninteressierten gestern vielfach im Internet begegnet ist. Auf der Titelseite der FAZ steht ungefähr dergleiche Bericht als Hauptaufmacher, am Ende wird auf die Medienseite weiterverwiesen.

Blättert man dorthin, stößt man auf Franz Kafka (im BR-Radio läuft gerade "Der Process" als "eine fulminante Hörsinfonie", lobt Jochen Hieber; hier ist sie auch zum Download verfügbar) sowie auf "Inspector Barnaby". Michael Hanfeld hat den offenbar ausscheidenden Titeldarsteller John Nettles getroffen, hat ein zdf.de-Interview mit diesem gelesen durchgeklickt. Egal, ein Nachfolgedarsteller ist gefunden "ein Ende von 'Barnaby' ist also nicht in Sicht", das ZDF habe inzwischen achtzig Folgen im Programm, schreibt die FAZ-Medienseite unter der Überschrift "Schöner morden".

Und wo geht's um den Vorfall in Dänemark? Bei genauerem Hingucken findet man in der Randspalte eine Glosse mit kursiver Überschrift "Terrorwarnung", in der ebenfalls Hanfeld daran erinnert, dass ein Mordversuch am Karikaturisten Kurt Westergaard vor fast einem Jahr, am Neujahrstag 2010, stattfand. Es kommen "South Park" und Molly Norris vor sowie die Information, dass "kürzlich erst ... die 'Welt' einen islamkritischen Artikel aus ihrem Online-Angebot genommen (hat), ...dessen Autor mit dem Tod bedroht worden" sei. Es neigt alles zum Weitergehen, islamistischer Terror und westliche Krimiserie, sozusagen.

Nur für ein bisschen Vollständigkeit: Was die FR schreibt, die TAZ, was der Tagesspiegel (der seinen Bericht mit einem Jylland Posten-Screenshot illustriert), klingt jeweils recht ähnlich. Die Bild-Zeitung hat ein längeres Originalzitat Westergaards ("...Wir dürfen und werden uns Kritik am radikalen Islamismus nicht verbieten lassen. Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen, wenn es um unsere Wertordnung geht"). Das heißt aber nicht, dass auf ihrer Titelseite das dänische Thema mit den "100 schönsten Deutschen" oder dem gesunden Tiefkühlgemüse mithalten könnte. Es bewegt sich layoutgrafisch auf einem Niveau mit Michael Ballack, immerhin.

Um nun aber, fast zum Jahresabschluss, noch einen hübscheren Akzent zu setzen: Gestern hatten wir an dieser Stelle ganz den Tagesspiegel-Artikel über "Deutschlands seriösestes Nachrichtenmagazin" vergessen: Kojote heißt es und verdient tatsächlich Prominenz, weil ihm das Kunststück gelungen war, die Meldung vom "Postchaos" in Berlin-Mitte wegen 13.800 Zuschriften auf eine Chiffreanzeige sozial-viral zu verbreiten. Eine Stadtmagazin-Leserin habe sich in einem Café in einen Mann Anfang 20 mit Retro-Brille verguckt, der ihr vor seinem iBook von seinem neuen Projekt erzählt hatte, und wollte den wiederfinden, hieß es (vgl. z.B. jetzt.de, das romantische knuddels.de).

[listbox:title=Artikel des Tages[Deutschlands seriösestes Magazin##Der Tsp. darüber (Mi.)##Kafka downloaden (BR)##TAZ berichtet vom CCC-Kongress##Jahresbilanz der ROG (PDF)]]

Dahinter also steckte das kojote-magazin.de des 46-jährigen Nicht-Freiberuflers Bernhard Pöschla, das mit Meldungen im angenehmen Könnte-fast-wahr-sein- bzw. Könnte-fast-falsch-sein-Sound ("Gewagt: Junger Berlin-Besucher läuft ohne Bierflasche in der Hand durch Mitte") wirklich Spaß bereitet. Gegenüber Hadija Haruna vom Tagesspiegel zeigte er sich auch einsichtig:

"Dass einige Leser die Ironie dahinter nicht verstanden hätten, sei keine Absicht gewesen. Eine Falschmeldung habe er nicht verbreiten wollen."


Altpapierkorb

+++ A propos Onlinezeitungen und Berliner Klischee-Stadtteile im Widerstreit: Peer Schader hat einen langen und persönlichen Artikel über den Prenzlauer Berg und die "Prenzlauer Berg Nachrichten" geschrieben, weniger im Lichte des BLZ-Artikels neulich darüber als in dem der Meinungen des Stadtsoziologen und “Gentrification Blog”-Bloggers Andrej Holm. +++

+++ Noch 'ne Vorschau auf 2011 wagt in der Süddeutschen Christopher Keil: Die Bundesverfassungsrichter werden an der politischen Beherrschung des ZDF wenig ändern, trotz (oder wegen) Kurt Becks Normenkontrollklage. "Es wird also darauf ankommen, ob das ZDF die Kraft hat, sich zu verändern, ob der Intendant stark genug ist, den Rückbau der politischen Architektur durchzusetzen." Da kann man aber gespannt sein... +++

+++ "Ich bin ein Mann der Tat, der schreibt", sagte Jérôme Clément zu Claudia Tieschky, als die ihn besuchte, weil der wahrscheinlich wichtigste Arte-Begründer nun in den Ruhestand geht. Heute kann er sich über einen schönen, zeitenumspannenden Artikel in der Süddeutschen (S. 15) freuen, an dem bloß der Satz "Bei Arte folgt ihm nun 2011 die Kinoexpertin Véronique Cayla als Präsidentin" etwas erstaunt. Schließlich folgt Cayla auf den Deutschen Gottfried Langenstein, der bis Ende 2010 zumindest nominell den schönen Titel des Arte-Präsidenten trägt, im SZ-Artikel aber gar nicht vorkommt. Clément indes ist bis 2010 Vizepräsident. +++ Ferner meldet die SZ, dass der o.g."rechte amerikanische Fernsehsender Fox News" "unter den Programmen der Nachrichtensender im US-Kabelfernsehen ...gleich alle zwölf ersten Plätze" belegt, was die gemessenen Zuschauerzahlen betrifft. +++

+++ An die seit 365 Tagen in Afghanistan verschleppten Fernsehreporter Stéphane Taponier und Hervé Ghesquière erinnert die TAZ. Die französische Regierung setze sich kaum für ihre Freilassung ein. +++Außerdem sah sie (die TAZ) dem Sendeschluss des spanischen Nachrichtensenders CNN+ am Dienstag um 0.00 Uhr zu. +++ Und berichtet vom CCC-Kongress in Berlin: "Natürlich würde ein Hackerkongress diesen Namen nicht verdienen, wenn dort nicht auch ein paar amtliche neue Hacks vorgeführt würden. Dass irgendwann über Nacht die Startseite des FDP-Shops gehackt wurde und wahrscheinlich auch die Startseite der ARD, geht eher als nächtliche Fingerübung durch." +++

+++ Auch das ändert sich 2011: die Besetzung des "Satire-Gipfels", also des sogenannten der ARD. Heute leitet ihn letztmals Matthias Richling (Tsp.). +++ Auch das ändert sich 2011: MTV entschwindet ins Pay-TV. Das Hamburger Abendblatt bringt einen Abgesang. +++

+++"Mindestens 57 Journalisten und ein Medienassistent sind im Jahr 2010 während ihrer Arbeit oder wegen ihres Berufs getötet worden. Das sind 19 Medienmitarbeiter weniger als im Vorjahr (2009: 76 Journalisten, 1 Medienassistent). Die Zahl der Länder, in denen Medienmitarbeiter ermordet wurden, ist im Vergleich zu 2009 von 20 auf 25 gestiegen...": gerade herausgekommen ist die Jahresbilanz der Reporter ohne Grenzen. Hier lässt sie sich als PDF downloaden. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.
 

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