Da stimmt was nicht

Da stimmt was nicht

Der "Wetten, dass...?"-Unfall beschäftigt weiter die Medien, die sich Öffentlichkeit nennen. Über Quotendruck, Routine und Norbert Bolz

Chapeau, liebe Welt, den Preis für den schärfsten Beitrag zum "Wetten, dass...?"-Unfall kann Dir keiner nehmen: Autorenkollektiv, szenischer Einstieg, historische Referenzen, prominente Stimmen, kritische "Experten"-Stimmen, ein atemlos problematisierender Sound und drunter dann noch die Durchklickbilderstrecke zu Thomas Gottschalk – das ist Journalismus, der sich über den Sumpf empört, in dem er selber sitzt.

Größte Überraschung an dem Text: Jo Groebel war als Phrasenspender offenbar nicht greifbar, weshalb der als Berliner Medienwissenschaftler apostrophierte Norbert Bolz einspringen musste, der sich nicht lumpen lässt:

"Ausgerechnet ein öffentlich-rechtlicher TV-Sender beschleunige damit den Trend 'zu immer extremeren und immer absonderlicheren Darbietungen' der Casting-Gesellschaft."

Genau! Der Vorteil des Welt-Textes besteht auch darin, dass Edo Reents in der FAZ (Seite 33) seinen Kommentar mit der unschuldigen Frage eröffnen kann:

"Warum beschäftigt der 'Wetten dass ..?'-Unfall die Öffentlichkeit so?"

Dass diese Öffentlichkeit ja eigentlich nur aus den Medien, den Norbert Bolzens und ein paar Politikern, die anders als Horst Seehofer (ab 1:10) sofort "alles wissen", besteht, muss man nicht so laut sagen.

Interessant sind am Tag zwei der Nachbetrachtungen weniger die Eiferer der "Sicherheitsstandards" und "Risikoschrankenabsenker" als vielmehr die besonnenen Stimmen, wobei Christopher Keil in der SZ (Seite 15) vielleicht etwas zu geladen an die Sache rangeht. Harald Martenstein schreibt im Feuilleton des Tagesspiegel:

"Jede These, die behauptet, dass irgendetwas heute schlimmer als früher sei, zum Beispiel unsere Sensationsgier oder die Skrupellosigkeit der Medien, ist kenntnisfrei. Das Gegenteil stimmt."

Während das Medienressort mit einem eher nüchternen Bericht sekundiert.

Wie Martenstein widerspricht Bernd Gäbler auf stern.de der Vorstellung, man könne den "Wetten, dass...?"-Unfall direkt aus den Fernsehapokalypsen von Wolfgang Menge erklären:

"Es gibt im Fernsehen vieles, was schrecklich ist. Es gibt Ekel-TV und Trash, es gibt fiesen Voyeurismus und manche Formate arbeiten gezielt mit dem Reiz und der gleichzeitigen Abstoßung durch Gewalt – aber es stimmt einfach nicht, dass in den großen Shows des deutschen Fernsehens in den vergangenen Jahren eine wachsende Tendenz zu Action, Nervenkitzel und Risiko zu verzeichnen wäre."

Das heißt nicht, dass nicht mancher in der Empörung ventilierte Gedanke falsch wäre. Er kommt nur einfach zu kurz, wie Gäbler feststellt:

"Natürlich ist es legitim, über die Quotenfixierung öffentlich-rechtlicher Sender zu sprechen. Aber unsere Debattenkultur selber ist zu oft einem furchtbar simplen Reiz-Reaktions-Schema verhaftet."

Insofern sind die interessanten Kritikpunkte eher im Rande zu finden. Etwa wie man sich den Einfluss der Werbewirtschaft ausmalen muss – Audi oder auch nur der Lizenzrechteinhaber der Sprungstelzen, der laut unseres heißgeliebten "Welt"-Beitrags ein Freund des Verunglückten sein soll.

David Denk nimmt in der TAZ dagegen die Anregung von ZDF-Verwaltungsrat Kurt "Nervenkitzel, Waghalsigkeit und Quote" Beck auf:

[listbox:title=Die Artikel des Tages[Harald Martenstein über "Wetten, dass...?" (TSP)##Bernd Gäbler über "Wetten, dass...?" (stern.de)##Für eine Quotendiskussion (TAZ)##Thomas Bellut über Routine (Berliner)##]]

"Und Beck hat Recht: Eine Quotendiskussion beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist überfällig, weil dort wie in der Causa Brender zwar Chefredakteure in Frage gestellt werden, gelegentlich gar der Papst, aber die Quote – niemals! Sie ist der einzig gültige Maßstab für Erfolg, weil sie so hübsch messbar ist und damit über Geschmacksurteile erhaben."

Man kann ZDF-Programmdirektor Thomas Bellut durchaus Recht geben, wenn der im FAZ-Interview sagt:

"Das Gerede vom Quotenkampf ist Unsinn."

Zumindest wenn man sich "Quotendruck" vorstellen als Jürgen Drews, da er neben dem Schönheitschirurgen steht, der seiner Frau die Brüste aufpumpt, und "mehr! mehr!" schreit.

"Quotendruck" funktioniert wohl er so, wie die Ablösung von Erik Markuse als Chef des Radiosenders MDR-Sputnik, über den die FAZ schreibt (Seite 33, die Berliner gestern): Man hat ein ambitioniertes Programm, eine junge Hörerschaft, versucht die fehlenden UKW-Frequenzen durch multimediale Offenheit wegzumachen – und am Ende kommt ein Privatradiomann und macht, was alle machen.

Thomas Bellut hat auch mit der Berliner gesprochen und dort den bemerkenswerten, fast philosophischen Satz hinterlassen:

"Was 29 Jahre lang gut gelaufen ist, muss nicht immer gut gehen. Diese Routine, dass immer alles geklappt hat, darf einen einfach nicht in einer Sicherheit wiegen, die es so nicht gibt und auch nicht geben kann."

Positiv gewendet kann man sich aber auch darüber wundern, wieviel eigentlich klappt.

Dass etwa die Sonntagszeitungen des Boulevards normalerweise mit ihren "Wetten, dass...?"-Kritiken ungesehener Sendungen durchkommen.

 


Altpapierkorb

+++ Wundern kann man sich auch, dass Norbert Bolz, der immerhin eine Professur an einer Universität innehaben soll, immer noch als Ansprechpartner für Medien gilt, die sich mit ihrem Selbstbewusstsein eigentlich Mühe geben. Wahrscheinlich firmiert Bolzens erwartbarer Beitrag über "Linke Lebenslügen" zur "Deutschland"-TAZ als Zeichen von Ausgewogenheit, Offenheit, Undogmatik, Mut zur Debatte oder was man in Redaktionssitzungen dann noch alles zur Rechtfertigung vorbringt. Nur leider kann man mit Bolz, der die "68er" vermutlich auch fürs Wetter verantwortlich machen würde, keine Debatte führen, weil er einen verschrobenen Unsinn absondert, dem man jedem Erstsemester anstreichen würde: "Multikulturalismus ist das Fazit einer mit dem Kolonialismus des 19. Jahrhunderts beginnenden Selbstkritik des Westens, die das Abendland als einen Schuldzusammenhang konstruiert, aus dem uns nur 'die Anderen' erlösen können." +++ Burner der TAZ-Sonderausgabe soll das Gespräch zwischen Sarrazin und Broder sein, das allerdings recht pfleglich abläuft und in dem die spannendsten Informationen die erwogenen Titel von Sarrazins Bestseller sind: "Wir essen uns Saatgut auf", "Deutschlanddämmerung". +++ Sonst schreibt etwa Dunya Hayali, und Erika Steinbach lernt im Gespräch mit Naika Foroutan, Neco Celik und Thomas Brussig was dazu. +++ Etwas albern ist der Versuch, Alternativen für das Wort Migrant zu finden – gerade weil es nicht ersetzbar ist wie ein Etikett, es bei unüberlegter Verwendung durchaus abwertend gemeint sein kann. +++

+++ Der Analogblogger Ernst Elitz beglückt in der Berliner mit einem Text über 10.000 Ausgaben "Tagesthemen", der gemessen am sonstigen Ausstoß in Ordnung geht. +++ Viel lustiger ist ARD-Aktuell selbst, das Patzer aus der Tagesschau in einem Adventskalender präsentiert. Heute: der rollende Korrespondent. +++

+++ Auf Sueddeutsche.de schreibt Hans-Jürgen Jakobs einen wohlmeinenden Brief an Franz Josef Wagner zu dessen Buch "Brief an Deutschland". +++ Die Rezension in der gedruckten Zeitung (Seite 15) von Johan Schloemann ist da kritischer. +++ Die Arte-"Durch-die-Nacht-mit.."-Sendung mit Modedesigner Wolfgang Joop und Tokio-Hotel-Sänger Bill Kaulitz wird durchgehend gelobt, etwa hier. +++ Barbara Sichtermann verfolgt für den Tagesspiegel die Jahresendshow von Günther Jauch ohne größeren Grund zur Klage. +++


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