Die ganzen Kalamitäten begannen im Januar. "Ich stürzte und brach mir den Oberschenkelhals", erzählt Johanna P., 94 Jahre alt. In der Klinik wurde der Oberfränkin versichert, dass sie Pflegegrad 2 bekäme. Dem war nicht so. Johanna. P erhielt nur Pflegegrad 1. Dadurch kann sie einmal in der Woche mit jemandem einkaufen.
Pflegegrad 1 bedeutet, dass man einen Entlastungsbeitrag von 131 Euro im Monat für den Einkauf kleinerer Tätigkeiten wie Hilfe im Haushalt oder Begleitung zum Arzt beantragen kann. Zugesprochen wird er bei körperlichen, psychischen oder kognitiven Einschränkungen.
Die Bundesregierung überlegt nun im Zuge der Pflegereform, Pflegegrad 1 zu überarbeiten. Im Gespräch ist eine Anhebung des Schwellenwerts, was bedeuten könnte, dass der Pflegegrad 1 erst bei größeren Einschränkungen als bislang anerkannt wird. Die Bund-Länder-Kommission, die derzeit über eine Reform des Pflegesystems berät, hatte sogar laut darüber nachgedacht, den Pflegegrad 1 ganz abzuschaffen. Das immerhin scheint vom Tisch zu sein.
"Ich hab den Eindruck, dass man denkt, die Leute werden bei uns zu alt, das will man nicht, man will uns Alte nicht, darum kümmert sich keiner um uns." Johanna P.
Aber die Diskussion hat viele verunsichert. "Es kümmert sich sowieso kein Schwein um mich", bricht es aus Johanna P. heraus. Sie bräuchte eigentlich viel mehr Unterstützung, sagt sie. Dass sie die nicht erhält und wie sie ihren Lebensabend bestreiten muss, verbittert die Rentnerin: "Ich hab den Eindruck, dass man denkt, die Leute werden bei uns zu alt, das will man nicht, man will uns Alte nicht, darum kümmert sich keiner um uns."
Pflegegrad 1 statt 2 erhielt Johanna P., weil sie aus dem Katalog der Fragen bei der Begutachtung einige zu positiv beantwortete. Bis heute regt sie das Gutachten auf: "Da steht, dass ich die Haustür geöffnet habe, so groß könne also mein Hilfebedarf nicht sein, aber ich bin doch allein, wer soll die Haustüre sonst öffnen?" P. betont, dass sie ihre Ansprüche weit nach unten geschraubt habe. Aber sie brauche unbedingt weiterhin jemanden, der mit ihr kommt, um einzukaufen und die Sachen zu verstauen.
Menschen mit Handicap stärker ausgegrenzt
Die aktuellen Entwicklungen machten auch ihr sehr große Angst, sagt Alina Buschmann aus Niedersachsen. Die 32-jährige Autorin und Behindertenrechtsaktivistin mit Pflegegrad 1 beobachtet ebenfalls, dass Pflegebedürftige und Menschen mit Handicap stärker ausgegrenzt werden. Das gehe weit über das Nachdenken über eine Abschaffung von Pflegegrad 1 hinaus. "Ich kenne keinen Menschen mit Behinderung, der keine Angst hat", sagt sie mit Blick auf die angekündigten Sozialdemontagen.
Die Diskussion um eine mögliche Abschaffung von Pflegegrad 1 hat in ihren Augen neuerlich Öl ins Feuer gegossen. Buschmann, die an einer Autoimmunerkrankung leidet, ist auf den Entlastungsbetrag dringend angewiesen: "Dadurch kann ich mir eine Haushaltshilfe leisten, die alle zwei Wochen für 75 Minuten kommt." Buschmann gehe es oft so schlecht, dass sie kaum die Kraft habe, das Bett zu verlassen: "Es gibt Tage, da ist das einzige, was ich fertigbringe, die Wäsche zusammenzulegen."
Assistenz privat bezahlen geht ins Geld
Größere Unternehmungen sind kaum drin. Die wären sowieso nur mit Assistenz möglich. Die müsste sie privat bezahlen. Da Buschmann nicht über eine prall gefüllte Brieftasche verfügt, muss sie oft auf Teilhabe verzichten. Zumal sie nicht dauernd Freunde, Bekannte oder Nachbarn bitten möchte, ihr zu helfen. Alle seien zwar freundlich und hilfsbereit: "Dennoch belastet dies die Beziehung."
Der Entlastungsbetrag, sagt hingegen Mario de Haas, Pflegeexperte aus dem Rhein-Erft-Kreis, werde nicht selten als Schlupfloch missbraucht, um an kostenlose Putzhilfen zu kommen. Mitarbeiterinnen von Sozialstationen, die eigentlich für Betreuung eingestellt wurden, müssten häufig "im Akkord putzen". De Haas weiß von Diensten, die ihr hauswirtschaftliches Angebot für alte Menschen aus diesem Grund deutlich zurückschrauben wollen.
Sylvia Fieber, die den Pflegedienst der Diakonie in Würzburg leitet, findet die Diskussionen wegen der geringen Summe des Entlastungsbetrags absurd: "Das wird unsere Pflegeversicherung nicht retten, zumal der Entlastungsbetrag oft nicht abgerufen wird." Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge teilt mit, dass gerade präventive Angebote kaum genutzt werden. Deshalb sollte geprüft werden, ob die Leistungsansprüche im Pflegegrad 1 stärker auf Gesundheitsförderung und auf Prävention ausgerichtet werden könnten.
Das Kuratorium deutsche Altershilfe (KDA) verweist darauf, dass mithilfe des Entlastungsbetrags tatsächlich nur selten Pflege, Betreuung und Begleitung organisiert werden. Zu weit über 80 Prozent fließt der Betrag in Haushaltshilfe. Das KDA fordert deshalb einen Ausbau unabhängiger Beratungsangebote und die Förderung der Inanspruchnahme von Pflegegrad 1.
Spart die Reform Geld?
Die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, bezweifelt, dass Veränderungen beim Pflegegrad 1 viel Einsparpotenzial hätten. Die Ausgaben von 1,8 Milliarden Euro für Versicherte mit Pflegegrad 1, die in der Diskussion standen, seien "eine theoretische Summe, die gar nicht abgerufen wird", sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die maximal mögliche Einsparung bezifferte der GKV-Spitzenverband auf 640 Millionen Euro. Der Grundgedanke des Pflegegrads 1 sei die Prävention zur Vermeidung von höheren Graden der Pflegebedürftigkeit, erklärte Bentele. Die Ausgaben für diesen Pflegegrad sparten also Mehrausgaben an anderer Stelle ein. Es sei jedoch schwierig zu beziffern, wie hoch diese vermiedenen Ausgaben seien. Bei der Diskussion um den Pflegegrad 1 sei unklar gewesen, was die Gesetzliche Pflegeversicherung leisten solle, sagte Bentele: "Soll sie Pflegebedürftigkeit verhindern oder verzögern, oder soll sie Kosten vermeiden?" Man müsse bei solchen Diskussionen auch bedenken, welches Signal man an die Menschen schicke. Aus Zuschriften wisse sie, dass sich viele Menschen nun erhebliche Sorgen machten.