Fehler zu machen, kritisiert zu werden, das war für Anton schon immer schrecklich. Anton ist arbeitssüchtig, und das seit Jahren. "Das hat bei mir spätestens mit dem Übertritt ins Gymnasium begonnen", erzählt das Mitglied der in Karlsruhe angesiedelten Interessengemeinschaft Anonymer Arbeitssüchtiger (AAS). In Spitzenzeiten habe Anton 100 Stunden pro Woche geschuftet: "Ich war in Vollzeit tätig und absolvierte daneben eine Zusatzausbildung."
Arbeitssucht klingt erst mal gar nicht so dramatisch, nicht so schlimm wie Alkoholismus. Über einen Alkoholiker tuscheln die Kollegen. Dem Arbeitssüchtigen zollen sie Respekt. Und doch ist Arbeitssucht genauso schlimm wie Alkoholismus. Darin sind sich Anton und Pauline (Namen geändert) von der AAS einig. Auch Arbeitssucht, erzählen sie, habe das Potenzial, Beziehungen zu zerstören. Vor allem ruiniere man sich selbst. Viele würden früher oder später richtig krank.
Pauline begann schon während ihrer Studienzeit, sich mit ihrer Sucht zu beschäftigen. Viel Wissen hat sie sich inzwischen angeeignet. Und doch kann sich die Sucht immer wieder durchsetzen: "Vor allem, wenn neue Anforderungen auf mich zukommen." Die Corona-Krise zum Beispiel erlebte sie als "schlimme Zeit". Im Homeoffice zu sein und Kinder im Homeschooling zu haben, katapultierte sie neuerlich ins zwanghafte Arbeiten.
Im Gegensatz zu Glücksspiel- oder Computersucht wurde Arbeitssucht noch nicht in das Internationale Klassifikationssystem für Krankheiten aufgenommen. Darauf verweist Arbeitssoziologe Christian Ebner von der Technischen Universität Braunschweig. "Arbeitssucht ist keine anerkannte Krankheit, sie kann aber ernsthafte Auswirkungen haben und sich in Beschwerden wie Schlafstörungen, dauerhafte Erschöpfung oder Depression manifestieren", sagt er.
Kein Zwang zu ständiger Erreichbarkeit
Ältere Untersuchungen legen nahe, dass jeder zehnte Erwerbstätige suchthaft arbeitet. "Leider gibt es keine regelmäßigen Erhebungen, die auf repräsentativen Daten beruhen", bedauert Ebner. Stefan Poppelreuter hat sich Gedanken darüber gemacht, was prophylaktisch gegen Arbeitssucht getan werden könnte. Der Psychologe, der bei der TÜV Rheinland Akademie beschäftigt ist, promovierte zu diesem Thema. Eine Möglichkeit zur Vorbeugung sieht er in der Gefährdungsbeurteilung, die das Arbeitsschutzgesetz Arbeitgebern vorschreibt: "Die umfasst auch psychische Belastungen." Zwar gibt es kein Prüfkriterium Arbeitssucht. Analysiert würden jedoch Arbeitsintensität, Arbeitszeitgestaltung, Handlungsspielraum oder Führungskultur.
Damit werden laut Poppelreuter Rahmenbedingungen geprüft, die Arbeitssucht begünstigen können. Bei dieser Prüfung sollte denn auch auffallen, dass ein Beschäftigter das Gefühl hat, ständig erreichbar sein zu müssen. Auch permanente Überstunden oder Selbstüberforderung aufgrund unrealistischer Leistungserwartungen könnten dazu führen, dass jemand in die Arbeitssucht abdriftet. Poppelreuter appelliert, klare Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit einzuhalten. Es dürfe keinen Zwang zu ständiger Erreichbarkeit geben. Viele Betriebe haben vor Jahren schon Pläne gegen Alkoholsucht eingeführt.
Laut Nils Werner, Experte für Betriebsvereinbarungen bei der Düsseldorfer Hans-Böckler-Stiftung, entdeckten sie in den vergangenen Jahren, dass sie auch etwas gegen stoffungebundene Süchte tun müssen. Zunehmend mehr Betriebs- und Dienstvereinbarungen nehmen darum Glücksspielsucht, pathologischen Internetgebrauch oder Arbeitssucht in den Blick. In der Gefährdungsbeurteilung sieht die Böckler-Stiftung ein wichtiges Instrument zum Abbau suchtfördernder Arbeitsbedingungen.
War Arbeit bereits für die Eltern ein Fetisch, kann es sein, dass auch die Kinder dazu tendieren, sich zu überlasten. Das erklärt der Aschaffenburger Psychologe Jürgen Junker, der sich auf die Behandlung von Workaholics spezialisiert hat. In seiner Praxis tauchen Patienten auf, die seit Jahren unter Strom stehen. Durch irgendein Lebensereignis halten sie selbst erzeugten Druck nicht länger aus. Das kann zum Beispiel die Geburt eines Kinds sein. Der Psychologe frage sich oft: "Macht derjenige tatsächlich nur einen Job, oder sind das zwei?" Sich hier herauszuarbeiten, sei schwer. Oft begleitet Junker Ausstiegswillige über Monate hinweg. In kleinen Schritten gelinge es, irrationale Glaubenssätze, die hinter der Sucht stecken, zu entlarven, ihnen neue Verhaltensweisen entgegenzusetzen und sie schließlich zu durchbrechen.