Selbstbewusst geht Jannes Walter über seinen Campus. Mit Stolz trägt er die Davidstern-Kette um den Hals, sein Jutebeutel zeigt hebräische Schriftzeichen, auf seinem T-Shirt steht: "Antisemitism is tough, but Jews are tougher" (Deutsch: "Antisemitismus ist hart, aber Juden sind härter"). "Man bekommt schon mal Blicke", sagt Walter, der an der Universität Göttingen Jura studiert, sich in der jüdischen Hochschulgruppe engagiert und Mitglied im Verband Jüdischer Studierender Nord ist.
Als Jude, der seine Identität offen zeigt, erlebt er seit dem 7. Oktober 2023 verstärkt Antisemitismus an der Uni - ein "antisemitisches Grundrauschen", wie er sagt. Das Sicherheitsgefühl sei gesunken. Laut Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) hat sich die Zahl der antisemitischen Vorfälle an Hochschulen im Jahr 2024 auf 450 verdreifacht. Dazu zählen etwa Protestcamps, Schmierereien und Aufkleber. Rund 90 Prozent produzierten Stereotype des israelbezogenen Antisemitismus.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sieht eine wesentliche Ursache für die Häufung antisemitischer Vorfälle an Universitäten in der postkolonialen Theorie. Israel werde darin als letztes Kolonialprojekt des Westens angesehen, als Ganzes delegitimiert und als "das Böse" dargestellt.
Aufrufe zur Gewalt
"Juden werden als weiße Unterdrücker angesehen, die Palästinenser als die Schwachen und Unterdrückten." Die "links-antiimperialistische Strömung" sei hier besonders vertreten. Der niedersächsische Antisemitismusbeauftragte Gerhard Wegner betont: Man müsse um den Raum der Universität kämpfen und "ihn nicht den antisemitischen Protagonisten überlassen".
Walter betrachtet die Graffitis am Gebäude der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, "free gaza", "free palestine" und "yalla intifada" steht dort in blauer Schrift. "Intifada" bedeutet Aufstand und bezieht sich auf zwei mehrjährige Phasen von Terroranschlägen in Israel zwischen 1987 und 2005. "Es geht um einen Aufruf zur Gewalt", sagt der 24-Jährige. Der niedersächsische Antisemitismusbeauftragte Wegner ergänzt: "Das ist der Versuch dieser Kreise, den Alltag an den Universitäten zu dominieren, mit ihren Symbolen und mit ihren Sprüchen."
Kontroverse im Hörsaal
Eigenen Angaben zufolge bemüht sich die Universität Göttingen, solche Aufschriften am selben Tag zu entfernen, sofern dies technisch möglich ist. Sie versteht sich Ort der Vielfalt und des diskriminierungsfreien Meinungsaustausches. Gegen Beleidigungen und verbale wie körperliche Angriffe geht sie demnach strikt vor und bringt diese bei Kenntnis zur Anzeige.
Walter berichtet, dass viele Menschen auf dem Campus eine Kufiya, das Palästinensertuch, tragen. Flyer der jüdischen Hochschulgruppe seien nach einem Tag Aushang entfernt worden. "Das trägt dazu bei, dass jüdische Studis sich ein bisschen mehr zurückziehen und weniger sichtbar sind", beschreibt er.
Er berichtet auch von persönlichen Erlebnissen. Im Juni dieses Jahres gab es an der Uni Göttingen eine Veranstaltung, bei der eine Politikwissenschaftlerin einen Vortrag über den Nahost-Konflikt hielt. Dort habe er eine kritische Frage gestellt, wie er sagt. Im Anschluss sei ein Mann auf den Jura-Studenten zugekommen, der sich als in Deutschland geborener Palästinenser vorstellte. Er habe Walter den Weg blockiert, sodass dieser den Hörsaal nicht verlassen konnte. "Der Mann hat sich in Rage geredet und die NS-Verbrechen mit dem Agieren Israels gleichgesetzt. Er hat mich für die israelische Politik verantwortlich gemacht", sagt der in Berlin geborene Deutsche. "Das fand ich gruselig." Auf dem Nachhauseweg habe Walter sich umgeschaut, ob ihm niemand gefolgt sei.
Judenfeindliche Slogans "en vogue"
Seit dem 7. Oktober 2023 kam es an mehreren Universitäten, darunter Bonn, Leipzig und Berlin, zu Besetzungen und Vandalismus. Besonders an der Humboldt-Universität Berlin wurden Hörsäle verwüstet, Mobiliar beschädigt und antisemitische Parolen sowie das rote Dreieck, ein Hamas-Symbol, an Wände geschmiert. Die Schäden lagen bei bis zu 150.000 Euro.
Die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel von der Technischen Universität Berlin spricht von einem "Campus-Antisemitismus". Judenfeindliche Slogans in Bezug auf den jüdischen Staat seien "geradezu en vogue geworden". In vielen, sich als progressiv sehenden akademischen und künstlerischen Kreisen gehöre es zum guten Ton, sich anti-israelisch zu positionieren, "in dem Irr-Glauben, zu 'den Guten' zu gehören".
Körperliche Angriffe mussten Walter und andere jüdische Studierende in seinem Umfeld nicht erleiden. "Hier ist es sicher anders als in Städten wie Berlin", sagt er. Dort wurde im Februar 2024 der Student Lahav Shapira von einem Kommilitonen schwer verletzt. Er erlitt eine Gesichtsfraktur und Hirnblutung. Der Täter erhielt drei Jahre Haft.
Walter stellt fest: Der Grundkonsens der Gesellschaft, dass es Antisemitismus in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr geben soll, werde aufgeweicht. Er fragt sich indes: "Warum können die Leute hier in Deutschland nicht einfach nett und friedlich miteinander umgehen und ein bisschen mehr differenzieren?" Auf das kommende Wintersemester blickt er aber ohne Sorge. "Ich bin einfach gespannt, wie es wird." Mit seinem T-Shirt, dem Beutel und der Davidstern-Kette zur Uni zu gehen, wird er sich nicht nehmen lassen.