TV-Tipp: "Gotteskinder"

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Freitag, 14. November, Arte, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Gotteskinder"
Das "Coming-of-Age"-Drama spielt im Milieu einer christlichen Freikirche. Die Risse im Bild der heilen Familie, den subtil wirkenden Zwang macht die Regisseurin sichtbar. Die Gewalt die am Ende steht, ist schließlich überhaupt nicht mehr subtil.

Hannah hat sich in Max verliebt, ihr Bruder Timotheus fühlt sich zu einem Jungen aus seiner Fußballmannschaft hingezogen: ganz normale Ereignisse im Leben ganz normaler Teenager. Aber die Familie der beiden Geschwister ist anders als andere: Sie gehört zu einer Freikirche, deren Mitglieder ein streng bibeltreues Leben führen. Hannah wird ein Keuschheitsgelübde ablegen, das bis zu ihrer Hochzeit gilt. Selbst Küssen ist verboten.

Das klingt erst mal schräg, aber viele Teenager haben heute anders als ihre Eltern oder Großeltern ausgeprägte romantische Vorstellungen und können Hannahs Enthaltsamkeit daher womöglich sogar nachvollziehen. Ihre Eltern möchten, dass die Kinder Jesus im Herzen tragen.

Die leidenschaftliche Hingabe, mit der die junge Frau ihre religiösen Überzeugungen auslebt, mag irritieren, doch der Glaube gibt ihr offenkundig ein stabiles Fundament; das ist in einer Welt, die von vielen Menschen als zunehmend labil empfunden wird, sicherlich keine schlechte Basis. Bei einem Popkonzert-ähnlichen Event für die jugendlichen Gemeindemitglieder zeigt die Kamera sie aus der Untersicht, sodass die Neonröhren über ihrem Kopf einen Strahlenkranz bilden.

Das vermeintlich heile Familienleben bekommt einen ersten Riss, als Hannahs kleine Schwester berichtet, sie habe im Kindergarten geheiratet. Das finden erst mal alle amüsant; bis sie erzählt, dass ihre Wahl auf ein Mädchen gefallen sei. Das sei eine Sünde, klärt der Vater die kleine Tochter auf: "Gott möchte nicht, dass zwei Frauen zusammen sind." Als sie kurz aufbegehrt ("Aber..."), verpasst er ihr eine Ohrfeige.

Spätestens jetzt lässt sich erahnen, worauf Frauke Lodders (Buch und Regie) mit ihrem Film "Gotteskinder" hinaus will. Die familiären Szenen sind abgesehen von der Ohrfeige zunächst von Sanftmut und gegenseitiger Fürsorglichkeit geprägt. Die Eltern sind offenkundig wohlhabend und wirken keineswegs gestrig; Hannah war zwar noch nie im Kino, hat aber ein Smartphone.

Die Demontage der Fassade beginnt mit Max: Der knapp 18-jährige Junge ist mit seiner Mutter in die Nachbarschaft gezogen. Weil er außerdem in Hannahs Klasse geht, soll sie ihm nicht nur bei der Integration helfen, sondern ihn im besten Fall zu Gott führen; der Tod seines Vaters hat ihn aus der Bahn geworfen. Die beiden kommen sich allerdings näher, als Hannah lieb ist. Welche Folgen das haben kann, erlebt sie bei ihrer besten Freundin: Melissa gehört ebenfalls zur Freikirche, findet aber nichts dabei, mit einem Freund von Max ins Bett zu gehen.

Im Grunde erzählt Lodders eine klassische "Coming of Age"-Geschichte mit alterstypischer Unordnung und verwirrenden Gefühlen; Herzen in Aufruhr halten sich nicht an elterliche Regeln. Bei Timotheus zeigt sich dieser Zwiespalt noch deutlicher. Ein "Seelsorge-Seminar" soll ihm dabei helfen, gegen die unreinen Gedanken anzukämpfen. Bald zeigt sich, wes Geistes Kind die Seminarleiter sind: Timotheus wird unter psychischen Druck gesetzt, damit er vor der Gruppe über seine "sexuelle Missprägung" spricht; ein Exorzismus soll die Dämonen austreiben, die angeblich seine Homosexualität verursachen. Dass der Junge, der seine sündigen Empfindungen ausgelöst hat, ebenfalls an dem Seminar teilnimmt, macht die Sache nicht leichter. Wann immer Timotheus von diesem Zwiespalt übermannt nimmt, erklingt auf der Tonspur ein äußerst unangenehmes Tinnitusgeräusch.

"Gotteskinder" ist nach einigen dokumentarischen Arbeiten der erste Spielfilm der Regisseurin. Gerade die Arbeit mit den jungen Ensemble-Mitgliedern ist von herausragender Qualität. Die schon in jungen Jahren überaus Kamera-erfahrene Flora Li Thiemann versieht Hannah zunächst mit einem unbeschwerten Selbstverständnis. Wie die junge Schauspielerin die Unsicherheit verkörpert, die sich in Hannahs Leben schleicht, hätte einen Nachwuchspreis verdient gehabt.

Serafin Mishiev ist als Timotheus nicht minder sehenswert. Michelangelo Fortuzzi (Max) ist ohnehin spätestens seit seiner preisgekrönten Leistung in dem Jugenddrama "Alles Isy" immer eine ausgezeichnete Wahl für vielschichtige Rollen. Sehr präsent ist auch Luna Baptiste (Melissa). Von den erwachsenen Mitwirkenden (Bettina Zimmermann, Karoline Eichhorn, Martin Lindow) hat Mark Waschke die anspruchsvollste Aufgabe: David war einst selbst ein Saulus, hat dank seiner Frau zu Gott gefunden und ist die meiste Zeit ein liebevoller Vater. Gegen Ende bekommt jedoch auch Hannah seinen alttestamentarischen Zorn zu spüren. Trotzdem ist nicht zu erahnen, welch’ tragischen Verlauf die Handlung schließlich nimmt, weshalb der überraschende Schluss umso bedrückender ist.