Wie ein Kirchenchor Nicoles Leben veränderte

Bachnoten in der Hand einer Chorsängerin
epd-bild/Sebastian Willnow
Die Musik von J.S. Bach wurde für Nicole zum Wendepunkt und öffnete den Weg in die Kantorei.
Neue Heimat im Glauben
Wie ein Kirchenchor Nicoles Leben veränderte
Nach Trennung und Krankheit fand die Katholikin Nicole Halt in einem evangelischen Kirchenchor. evangelisch.de erzählt sie, wie Singen, Gemeinschaft und Glaube ihr Leben veränderten, Kraft gaben und neue Freude in den Alltag brachten.

evangelisch.de: Wie bist du ursprünglich zum Kirchenchor gekommen?

Nicole Fischer: Eingetreten in die Kantorei an Matthäi in Düsseldorf bin ich vergangenes Jahr. Den Wunsch dazu hatte ich aber schon fünf Jahre zuvor. 2019 war ein besonderes Jahr für mich. Ich lebte seit zwei Jahren mit meinem Sohn allein, hatte die Trennung zum Vater noch nicht verarbeitet, als bei mir Brustkrebs festgestellt wurde. Nach der OP erhielt ich die Empfehlung, eine vorbeugende Chemotherapie durchzuführen. Bis dahin hatte ich geglaubt, mit Optimismus und Vertrauen mein Leben gestalten zu können – da wurde ich auf eine harte Probe gestellt.

Die Wendung erlebte ich dann bei der Aufführung des Weihnachtsoratoriums I-VI von J.S.Bach in der Matthäikirche, aufgeführt von der Kantorei an Matthäi unter Leitung des Kantors Karlfried Haas. Die Musik wurde so wundervoll vorgetragen, dass sie mich tief berührte. Ich kannte natürlich das Werk, doch diese Aufführung berührte mich im Innersten. Alles stimmte: der Ort, die Musik, ihre Botschaft und die emotionale Tiefe. Ich spürte die Freude der Beteiligten und ihre Hingabe an die Musik. Ich fühlte das starke Bedürfnis, der Musik wieder mehr Raum in meinem Leben zu geben. Ich nahm nach langer Zeit mein Instrument zur Hand und wartete auf eine Gelegenheit, diesen Chor kennenzulernen.

Die Düsseldorferin Nicole Fischer fand nach Krankheit und Trennung neuen Halt im Singen.

Wie hast du dich in der Anfangszeit im Chor gefühlt? Gab es besondere Herausforderungen oder Berührungsängste?

Fischer: Ich hatte keinerlei Chor Erfahrung. Daher war ich schon sehr nervös, ob ich überhaupt gut genug wäre und den Anforderungen gerecht würde. Geholfen hat mir die Zuversicht des Chorleiters, erst einmal den Chor kennenzulernen, und seine Empfehlung, in einer für mich entspannten Stimmlage zu beginnen.

Als Grundlage halfen mir die Musikkenntnisse durch meinen Gitarrenunterricht in der Jugend. Ich konnte zwar Noten lesen, aber gesungen hatte ich bis dahin immer nur nach dem Gehör, aus Spaß und Freude an schönen Melodien. Nach kurzer Zeit verwandelte sich meine Aufregung in Begeisterung und Freude. Meine Mitsänger:innen haben mich sehr liebevoll in ihre Reihen aufgenommen und mir die Sicherheit gegeben, die ich brauchte, um mich zu öffnen. Von ihnen habe ich schnell den Einstieg in die Musikstücke gelernt, einfach mitgesungen, nach einigen Wiederholungen kam dann die Sicherheit, und mit ihr die Hingabe und Konzentration, ganz auf die Musik.

Was bedeutet dir die Gemeinschaft im Chor heute, und wie hat sie dein Leben verändert?

Fischer: Die Kantorei an Matthäi ist der Chor der großen Emmaus Gemeinde in Düsseldorf. Wir haben viele Mitglieder aller Altersklassen. Die meisten sind schon sehr lange dabei, und die Gemeinschaft ist stark ausgeprägt. Ich habe schnell Anschluss gefunden und inzwischen treffen wir uns auch privat.
Wie geben uns gegenseitig Halt – und kleine Gesten wie ein persönliches Nachfragen bei Krankheiten oder eine von allen unterschriebene Karte füllen die Gemeinschaft mit Leben. Auch auf Beerdigungen ehemaliger Mitsänger:innen singt der Chor, wenn es die Familie wünscht. Nicht zu vergessen unsere Chorfeste, die alle besonders genießen; mal ein Ausflug, dieses Jahr auf der Terrasse unserer Kirche mit einer Turmbesichtigung oder im eigenen Garten von unseren Mitgliedern.

Wie hat sich dein Glaube oder deine religiöse Einstellung durch die Chor-Mitgliedschaft entwickelt?

Fischer: Seit ich in den Chor eingetreten bin, gehe ich viel regelmäßiger zum Gottesdienst. Ich wollte jede Gelegenheit nutzen, wieder mehr zu singen. Dabei habe ich bemerkt, dass die Auseinandersetzung mit den Bibeltexten in der Predigt mich zum Nachdenken anregt. Sie hilft mir, trotz aller täglichen Anforderungen, mich zu orientieren und bei mir zu bleiben.

"Als Katholikin habe ich lange überlegt, in die evangelische Kirche überzutreten"

Welche Rolle spielt das Singen für dich – emotional, spirituell und im Alltag?

Ich singe tatsächlich täglich, und es fehlt mir, wenn ich es zeitlich nicht schaffe. Das Singen macht mich einfach glücklich. Durch die Übungen bei jeder Probe konnte ich schnell eine Entwicklung meiner Stimme feststellen und daraus wuchs das Bedürfnis, täglich zu singen.

Die Werke, die wir singen, sind kirchliche Chorwerke von der Renaissance bis zur Moderne. Regelmäßig werden auch Gottesdienste von uns musikalisch unterstützt und mitgestaltet. Die Musik verstärkt die Worte, schafft emotionale Momente und bildet eine eigene spirituelle Welt, die mich jedes Mal berührt.

Inwiefern fühlst du dich im Chor und in der Gemeinde angekommen. Immerhin warst du Katholikin?

Fischer: Ich möchte mir ein Leben ohne Musik und das Singen im Chor nicht mehr vorstellen. Auch wenn es manchmal eine Herausforderung sein kann, Familie, Beruf und dieses intensive Hobby zu vereinbaren. Die meisten Mitglieder sind länger als zehn Jahre dabei, und alle versuchen, ihr Leben nach dem Chor auszurichten, wie es unser Chorleiter immer wieder liebevoll fordert. 

Seit diesem Jahr bin ich auch Mitglied der Emmaus Gemeinde. Als Katholikin habe ich lange überlegt, in die evangelische Kirche überzutreten. Persönliche Kontakte, aber auch die ehrliche und anpackende Arbeit der Gemeindeführung, sich den heutigen Herausforderungen des Kirchenwandels zu stellen, haben mich in meinem Entschluss bestärkt. Ich habe hier meine kirchliche Heimat gefunden und nach Gesprächen mit Gemeindemitgliedern, Freunden und der Pastorin den Entschluss gefasst, dieser Gemeinde beizutreten. 

Wie war dein Leben vorher, und wie hast du schwierige Zeiten wie Trennung und Krebs bewältigt?

Fischer: Die Zeit war eine tiefe Krise für mich und führte mich zur Besinnung auf meine geistigen und spirituellen Wurzeln. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken und musste meine gesteckten Ziele und Werte reflektieren. Gebet, Austausch mit der Familie und die Unterstützung von Ärzten, Freunden und Kollegen halfen mir, diese Zeit zu bewältigen.

Du bist in der DDR aufgewachsen und warst christlich erzogen – wie hat dies deine Werte und deinen Weg geprägt?

Fischer: Ich wurde 1971 in Ost-Berlin geboren, habe meine Kindheit und Jugend in der DDR erlebt. In meinem schulischen Alltag hat die Kirche keine große Rolle gespielt. Im Gegensatz zur evangelischen Kirche gab es zwischen der katholischen Kirche und dem Staat die Vereinbarung, dass sich keiner in die Belange des anderen mischt. Das Leben in der Gemeinde lief also parallel, und ich war in zwei Welten zu Hause. Ich habe persönliche Werte aus beiden Welten entwickelt, die mich bis heute begleiten.

"Das nun tatsächlich persönlich miterleben zu dürfen, ist für mich nach der Geburt meines Sohnes eines der größten Geschenke in meinem Leben"

Gibt es Momente im Chor oder besondere Erlebnisse bei Konzerten oder Proben, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind?

Fischer: Das Singen im Chor beseelt einen Jeden von uns und gibt inneren Frieden – immer wieder stellen wir das unabhängig voneinander fest; nach den Proben, besonders aber nach den intensiven Vorbereitungen für ein Konzert und gerade dann bei einer Aufführung. Die Stunden des Konzertes verfliegen nur so – und das Erleben der Musik, gemeinsam vorgetragen mit Dirigent, Orchester und den Solisten -  sind Momente puren Glücks. Das nun tatsächlich persönlich miterleben zu dürfen, ist für mich nach der Geburt meines Sohnes eines der größten Geschenke in meinem Leben.

Was möchtest du anderen Frauen oder Menschen mit auf den Weg geben, die gerade schwere Zeiten durchmachen oder sich neu orientieren wollen?

Fischer: Ich wünsche allen Menschen eine persönliche Begleitung, gerade in schweren Zeiten oder bei Unsicherheiten für die eigene Zukunft. Aber auch eine ehrliche Auseinandersetzung mit sich selber gehört dazu. Das kann auch mal wehtun, aber sich selbst und vor allem seine Grenzen zu kennen und zu akzeptieren hat mir innere Ruhe und Zufriedenheit ermöglicht – und ja, auch viel Dankbarkeit und Demut gegenüber meinen Mitmenschen.