Für zwei Jahre soll das Kontingent für Angehörige von in Deutschland lebenden Flüchtlingen mit subsidiärem Schutz nicht mehr erfüllt werden. Betroffen sind vor allem Menschen aus Syrien, die ab 2015 in der Regel den eingeschränkten Schutzstatus bekommen haben. Pro Jahr konnten über das Kontingent 12.000 nahe Angehörige dieser Flüchtlinge einreisen.
Scharfe Kritik an der Aussetzung kam bereits vorab von Kirchen, Sozialverbänden und Menschenrechtsorganisationen, die unter anderem das Recht auf den Schutz von Ehe und Familie verletzt sehen. "Es ist ein Gebot der Nächstenliebe, dass alle Menschen, gerade auch Geflüchtete und subsidiär Schutzberechtigte, nicht über Jahre hinweg von ihren engsten Angehörigen getrennt bleiben", sagte der Flüchtlingsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Christian Stäblein, dem "Tagesspiegel" (Freitag).
Als Begründung zur Aussetzung führte Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) die überlasteten Sozial-, Bildungs- und Betreuungssysteme. Auch der Wohnungsmarkt kenne eine Grenze, deswegen müsse auch der Zuzug begrenzt werden, so Dobrindt. Nun könnten 12.000 Menschen pro Jahr weniger kommen. Das Vorhaben setze die "migrationspolitische Überschrift für diese Legislaturperiode", sagte Dobrindt. Die irreguläre Migration müsse reduziert werden.
Die Linken-Abgeordnete Clara Bünger warf Dobrindt demgegenüber vor, einen der letzten legalen Wege für Schutzsuchende zu kappen. "Statt Menschen zu helfen, verschärfen Sie ihr Leid", sagte Bünger. Der Grünen-Innenpolitiker Marcel Emmerich bezeichnete die Aussetzung des Familiennachzugs als "unbarmherzig". Sie sei zudem "ein integrationspolitischer Irrweg", sagte er. Für die SPD, die dem Gesetz "zähneknirschend" zugestimmt hatte, sei die Aussetzung des Familiennachzugs ein Kompromiss. Der AfD ging die Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten nicht weit genug. Es sei ein "viel zu kleiner Schritt", sagte der Abgeordnete Christian Wirth.
Kommunen für Aussetzung von Familiennachzug
Vor der Abstimmung im Bundestag am Freitag haben die Kommunen für eine befristete Aussetzung des Familiennachzugs für Bürgerkriegsflüchtlinge geworben. "Das ist in der Abwägung die richtige Entscheidung", sagte André Berghegger, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Freitag). Zwar wäre die Integration von Geflüchteten in den Gemeinden "im Zweifel einfacher", wenn sie ihre Familie nachholen dürften, sagte Berghegger. "Aber wenn auch Angehörige zu uns kommen, stellt uns das vor zusätzliche Herausforderungen."
Der Wohnraum sei knapp und die Familien könnten nicht in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Die Kommunen seien aufgrund der hohen Zahl an Asylsuchenden, die bereits im Land sind, weiterhin an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit "und teils darüber hinaus", sagte Berghegger. "Ja, es wäre für den Einzelnen schmerzhaft, aber dennoch angemessen, den Familiennachzug zunächst für zwei Jahre auszusetzen."
Hunderte demonstrieren für Familiennachzug
Mehr als 300 Menschen hatten bereits am Donnerstagnachmittag vor dem Reichstagsgebäude gegen die geplante Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär geschützten Flüchtlingen protestiert. Dabei erzählten Betroffene auch ihre persönlichen Geschichten. Initiiert wurde die Kundgebung nach Veranstalterangaben von betroffenen Familien, unterstützt wurde sie von Pro Asyl, Terre des Hommes, dem Bundesfachverband Minderjährigkeit und Flucht, dem Flüchtlingsrat Berlin und der Initiative Jugendliche ohne Grenzen.
Die Organisation Pro Asyl hatte zuvor erklärt, Familie sei kein Privileg, sondern "ein Menschenrecht, das auch für subsidiär Geschützte gilt". Sollte dem Gesetz zugestimmt werden, würde dies für "tausende Familien weitere Jahre der Trennung" bedeuten, erklärte der Verein in einer Pressemeldung, die der evangelisch.de-Redaktion vorliegt. "Heute hat der Bundestag nicht nur ein Gesetz verabschiedet – er hat Tausenden Menschen bewusst weitere Jahre Trennung und Leid auferlegt", sagt Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von PRO ASYL.
Pro Asyl: Gesetz ist Bruch mit humanitären Werten
"Das ist kein politischer Kompromiss, das ist ein Bruch mit humanitären Werten und dem Grundrecht auf Familie sowie eine Missachtung des Kindeswohls. Die Maßnahme betrifft insbesondere Frauen und Kinder, denen ein weiterer sicherer Fluchtweg genommen wird - viele werden sich alternativ auf lebensgefährliche Fluchtrouten begeben", so Alaows weiter. Das Rückwirkungsverbot sei ein Grundprinzip des deutschen Rechtssystems. Es besage, dass Gesetze grundsätzlich keine rückwirkende Kraft haben dürfen. Gesetze dürfen nur zukünftige Sachverhalte und Verhaltensweisen neu regeln, aber keine Änderungen in Bezug auf vergangene Sachverhalte vornehmen.
Der subsidiäre Schutzstatus wird vergeben, wenn keine individuelle Verfolgung vorliegt, eine Rückkehr ins Heimatland wegen eines Kriegs, drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung aber dennoch nicht möglich ist. Das Recht auf Familiennachzug, das Flüchtlingen mit anderem Schutzstatus haben, wurde für diese Gruppe 2016 gestrichen. Nach zweijährigem Stopp wurde 2018 das auf 1.000 Plätze pro Monat begrenzte Kontingent geschaffen, über das Ehegatten, Kinder oder Eltern minderjähriger Kinder subsidiär Schutzberechtigter nach Deutschland kommen konnten.
Laut Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow (Linke) stimmten 444 Abgeordnete für die Maßnahme, 135 dagegen, Enthaltungen gab es keine. Viele Abgeordnete blieben der Abstimmung aber fern: Von 630 Abgeordneten gaben nur 579 ihr Votum ab. Grüne und Linke hatten angekündigt, mit Nein zu stimmen. Die AfD wollte zustimmen. Bei namentlichen Abstimmungen ist das Abstimmungsverhalten der einzelnen Abgeordneten erst zeitverzögert einzusehen.