Der 2020 gestartete "Tatort" aus Zürich konnte bislang nur selten rundum überzeugen. Die Geschichten waren in der Regel interessant, aber allzu oft entsprach die Umsetzung nicht dem Niveau der sonstigen Sonntagskrimis. Da die Filme auf Schwyzerdütsch gedreht werden, müssen sie für die hiesige Ausstrahlung synchronisiert werden, was des Öfteren mehr schlecht als recht klang. Beim kleinen Jubiläum – "Kammerflimmern" ist der zehnte Fall für Grandjean und Ott (Anna Pieri Zuercher, Carol Schuler) – ist das alles kein Thema. Handlung und Inszenierung sind durchgehend fesselnd, zumal ein cleverer Drehbuchkniff für zusätzliche Spannung sorgt.
Schon der Auftakt ist ungewöhnlich. Die ersten Bilder zeigen Menschen an einem ganz gewöhnlichen Samstagmorgen: Frauen machen Yoga, ein Mann geht mit seinem Hund spazieren, ein anderer ist mit seinem Rad unterwegs; und plötzlich sterben sie wie die Fliegen. Zufällig treffen sich die beiden Polizistinnen im Revier, als um sie herum sämtliche Telefone klingeln. Es handelt sich zwar nicht um Morde, aber die Abteilung Leib und Leben ist auch für "außergewöhnliche Todesfälle" zuständig.
Bei der Suche nach Parallelen zwischen den Opfern zeigt sich, dass alle einen implantierten Defibrillator (ICD) hatten. Solche Geräte werden Patienten mit potenziell bedrohlichen Herzrhythmusstörungen eingesetzt. Kommt es zum Kammerflimmern, geben sie einen kurzen Stromstoß ab, der dafür sorgt, dass sich die Aktivität des Herzmuskels normalisiert. Sämtliche ICDs stammen von Lauber Cardio.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Zürcher Unternehmen für Medizintechnik ist Ziel einer Cyberattacke geworden: Die Monitore der Bildschirme zeigen zur Melodie der bekannten Arie "Blumenduett" aus Léo Delibes’ Oper "Lakmé" ein Herz mit Smiley sowie die Forderung, für die Freischaltung der Systeme 317 Millionen Dollar in Form einer Kryptowährung zu zahlen. Zeitgleich hat jemand an der Börse darauf gewettet, dass der Kurs der Firma ins Bodenlose fällt.
Damit wären die Voraussetzungen für neunzig packende "Tatort"-Minuten im Grunde bereits erfüllt: Landesweit sind Tausende betroffen. Da sich zunächst kein Muster bei den Todesfällen erkennen lässt, müssen alle Patientinnen und Patienten informiert werden, allerdings nicht über Funk und Fernsehen; ein öffentlicher Aufruf würde unweigerlich eine Panik auslösen.
Die Schweizer Krimiautorin Petra Ivanov, die ihr erstes Drehbuch gemeinsam mit André Küttel verfasst hat, setzt jedoch noch eins drauf: Auch Otts Mutter trägt einen ICD von Lauber Cardio, hat sich aber ausgerechnet jetzt für mehrere Tage zum "digital detox" in die Berge zurückgezogen und ist daher nicht zu erreichen. Weitere Hauptfiguren neben den Kommissarinnen sind der offenbar skrupellose Chef des Unternehmens sowie eine junge Journalistin, die angesichts der vielen außergewöhnlichen Todesfälle hellhörig wird, aber nicht nur aus diesem Grund ein besonderes Interesse an den Ereignissen hat.
Während die medizinische Ebene dank einleuchtender Erklärungen leicht zu verstehen ist, enthalten die Dialoge, in denen es um Informationstechnologie, Programmiersprache und Cyberkriminalität geht, eine Vielzahl böhmischer Dörfer, aber das mindert die Spannung kein bisschen, zumal der Stoff bei Barbara Kulcsar in den besten Händen ist. Für die Schweizer Regisseurin ist dies bereits der dritte Sonntagskrimi, aber der erste aus ihrer Heimatstadt.
Die Zürcherin hat mit "Rebland" (2020) einen sehenswerten SWR-"Tatort" gedreht; in dem Schwarzwald-Krimi ging es unter anderem um die Frage, welche Informationen die Polizei aus einer DNS-Probe ziehen darf. Außerdem hat sie den vielversprechenden Start des neuen Bremer Teams inszeniert ("Neugeboren", 2021). "Kammerflimmern" wirkt nicht zuletzt dank der ständigen Szenenwechsel ungemein dicht erzählt, zumal Kulcsar den Bildschirm immer wieder sinnvoll teilt, um noch mehr Informationen zu vermitteln.
Ähnlich durchdacht wie die Bildgestaltung (Pascal Reinmann) ist die Thriller-Musik, und das nicht nur wegen der Integrierung der Opernarie: Bálint Dobozi hat seine von viel Schlagwerk geprägte Komposition am Herzschlag ausgerichtet, Rhythmusstörungen inklusive, weshalb die Tonspur für ständiges Unbehagen sorgt. Das passt perfekt zur perfiden Handlung: Die ICDs haben kürzlich ein Update bekommen, seither sind sie tickende Zeitbomben. Der Countdown zum tödlichen Stromstoß orientiert sich jedoch nicht an den vergangenen Sekunden, sondern an der Anzahl der Herzschläge; je größer der Stress, desto schneller der Puls und desto früher der Tod.