Heinrich Bedford-Strohm empfing die Geflüchteten am Münchner Hauptbahnhof und reiste nach Ungarn und Serbien, um sich ein Bild von der Lage der Menschen entlang der Balkan-Route zu machen. Deutschland habe im Sommer 2015 sein schönstes Gesicht gezeigt, sagte der Vorsitzende des Weltkirchenrats dem Evangelischen Pressedienst (epd).
epd: Die Bilder der Tausenden Geflüchteten am Münchner Hauptbahnhof gingen im Sommer 2015 um die Welt. Die Menschen begrüßten die Geflüchteten mit "Refugees Welcome"-Bannern und Applaus. Wie haben Sie diese Tage Ende August, Anfang September 2015 erlebt?
Heinrich Bedford-Strohm: Ich werde nie vergessen, wie all diese Menschen aus den Zügen gestiegen sind. Hinter ihnen lag eine gefährliche Flucht, sie haben Länder durchquert, wo sie nirgendwo willkommen waren, sie wurden weitergereicht bis nach Deutschland. Und dann dieser herzliche Empfang in München, mit Beifall und mit Teddybären für die Kinder. Die Menschen konnten sich zum ersten Mal willkommen fühlen. Ein Bild habe ich noch besonders vor Augen.
Welches?
Bedford-Strohm: Wir alle kennen das berühmte Foto von Alan Kurdi: Ein zweijähriger syrischer Junge, dessen Leiche am 2. September 2015 - also genau in den Tagen, als so viele Menschen in München ankamen - an der türkischen Küste angespült wurde, nachdem er auf der Flucht übers Mittelmeer ertrunken war. Ein unfassbar trauriges Bild, das zu einem Symbol für das Leid der Geflüchteten wurde. Vom Münchner Hauptbahnhof gibt es ein Foto, das ich als Gegenstück sehe, weil es so viel Hoffnung ausstrahlt. Es zeigt ein Flüchtlingskind, das strahlend die Mütze eines Polizisten auf den Kopf gesetzt bekommt. Und der Polizist strahlt zurück. Polizei war für die Geflüchteten in ihrer Heimat und auf der Balkan-Route meist eine Bedrohung. In München haben sie eine Polizei kennengelernt, die den Menschen hilft.
Sie selbst haben bei einem Mittagessen mit dem Münchner Erzbischof Reinhard Marx spontan beschlossen, zum Hauptbahnhof zu fahren und die Geflüchteten zu begrüßen...
Bedford-Strohm: Ja, wir sind in die U-Bahn gestiegen und zum Hauptbahnhof gefahren. Dort haben wir die Menschen begrüßt, ein paar Worte mit ihnen gewechselt. Auch mit den vielen Ehrenamtlichen und Einsatzkräften, die in diesen Tagen Hand in Hand zusammengearbeitet und die Geflüchteten mit dem Nötigsten versorgt haben.
Ich denke, viele am Bahnhof hatten das Gefühl, dass sie einen historischen Moment miterleben. Der syrische Bürgerkrieg hat enormes Leid ausgelöst, die schrecklichen Bilder vom Krieg und der anschließenden Fluchtbewegung haben wir über die Nachrichtenkanäle gesehen. Die Möglichkeit, diese Ohnmacht zu überwinden, hat die enorme Hilfsbereitschaft bestimmt verstärkt.
Nach dem anfänglichen Begrüßungsjubel haben sich schnell kritische, wenn nicht gar feindselige Stimmen zu Wort gemeldet. Die Menschen, die den Geflüchteten applaudiert haben, wurden als "Flüchtlingsklatscher" diffamiert, der Sommer 2015 wurde als Beginn des AfD-Aufstiegs gesehen. Was sagen Sie dazu?
Bedford-Strohm: Ich lasse mir nicht schlechtreden, was damals passiert ist. Deutschland hatte 2015 einen richtig starken Moment. Ich würde sogar sagen, dass die Bundesrepublik mit dieser großartigen Willkommenskultur ihr schönstes Gesicht gezeigt hat. Es hat mich stolz gemacht, dass wir in einem Rechtsstaat leben und die Geflüchteten mit so viel Empathie aufgenommen wurden - nachdem sie vorher in keinem Land willkommen waren.
Wie bewerten Sie rückblickend den Satz "Wir schaffen das!" der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel?
Bedford-Strohm: Der Satz ist eine Selbstverständlichkeit! Hätte eine Bundeskanzlerin vielleicht sagen sollen: "Wir schaffen das nicht"? Das wäre doch eine krasse Verantwortungslosigkeit gewesen. Wir müssen uns vor Augen führen: Deutschland hat die Flüchtlingskrise nicht heraufbeschworen. Die Menschen sind - nicht zuletzt als Folge der Unterfinanzierung der UNO-Flüchtlingslager in der Region - aus Not zu uns gekommen, und wir haben geholfen. Wenn man anderen Menschen hilft, dann muss man sich nicht dafür entschuldigen.
"Wenn man anderen Menschen hilft, dann muss man sich nicht dafür entschuldigen."
Ansonsten würden wir den Artikel 1 unseres Grundgesetzes, "Die Würde des Menschen ist unantastbar", nicht ernst nehmen. Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Wer den freundlichen Empfang der Geflüchteten schlechtredet, hat unser Grundgesetz nicht verstanden.
In den Jahren 2015 und 2016 wurden insgesamt mehr als eine Million Geflüchtete registriert. Die Unterbringung so vieler Menschen ist natürlich eine Herausforderung...
Bedford-Strohm: Ja, die Belastungen gab es. Und dennoch: Man kann sich über eine gute Willkommenskultur freuen und trotzdem eine seriöse Diskussion über Migrationspolitik führen. Was ich aber vehement ablehne: Wenn Politiker oder Personen des öffentlichen Lebens gegen Asylsuchende hetzen und pauschale, abwertende Urteile über sie fällen. Öffentliche Personen haben hier eine große Verantwortung. Alle Menschen müssen mit Respekt behandelt werden. Ich wünsche mir da von einigen Politikern mehr Besonnenheit und vor allem konstruktive Vorschläge statt Symbolpolitik.
Welche denn zum Beispiel?
Bedford-Strohm: Noch immer sind die Hürden für die Arbeitsaufnahme viel zu hoch. Die Leute, die hierherkommen, wollen ja etwas beitragen. Das Dublin-System, das vorsieht, dass Geflüchtete dort versorgt werden müssen, wo sie erstmals den Boden der Europäischen Union betreten haben, funktioniert einfach nicht. Es bedeutet eine immense Belastung für die Länder an den EU-Außengrenzen. Dublin wurde trotzdem nie grundlegend reformiert. Dafür soll es jetzt Zentren für Asylsuchende an den Außengrenzen geben. Ich habe große Zweifel, dass das human gestaltet werden kann. Familien mit Kindern werden auf unabsehbare Zeit in gefängnisähnlichen Lagern festgehalten werden. Die Hürden für eine humane Rückführung werden ja durch solche Zentren nicht gelöst.
Was würde denn Ihrer Meinung nach funktionieren?
Bedford-Strohm: Wenn der Asylantrag in einem fairen Asylverfahren abgelehnt worden ist und eine Rückführung ansteht, dann muss das Heimatland zur Aufnahme bereit sein. Dann braucht es eben entsprechende Aufnahmeabkommen mit den Herkunftsländern. Das Wichtigste bleibt aber die Bekämpfung der Fluchtursachen. Da sind gegenwärtigen Erwägungen zur Kürzung der Entwicklungshilfe zugunsten des Militäretats genau der falsche Weg. Und langfristig gilt angesichts zu erwartender Klimaflüchtlinge: Eine wirksame Klimapolitik ist die beste Flüchtlingspolitik der Zukunft.
Sie waren als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) maßgeblich daran beteiligt, eine EKD-unterstützte Seenotrettung im Mittelmeer zu etablieren. Auch dafür wurden Sie von einigen Seiten kritisiert.
Bedford-Strohm: Ja, das hat aber auch zu vielen konstruktiven Diskussionen geführt. Mit den meisten Kritikern war ich mir am Ende einig, dass man Menschen nicht einfach ertrinken lassen kann. Was mich viel mehr überrascht hat, war, wie viel Zuspruch wir erfahren haben, ganz besonders von jungen Leuten. Die haben gesagt: Mit der Aktion steht die Kirche konkret für ihre Werte ein. Einige haben gesagt: Deswegen bleibe ich jetzt in der Kirche. Dass man Menschen vor dem Ertrinken rettet - dafür muss und darf sich niemand entschuldigen. Das gebietet der christliche Glaube, das verlangen aber auch humanistische Werte.
Was könnte denn helfen, wieder mehr Verständnis für die Not von Geflüchteten in der Bevölkerung zu wecken?
Bedford-Strohm: Wir vergessen manchmal, wie gesegnet wir eigentlich sind in unserem Sozial- und Rechtsstaat. Diesen Segen sollten wir teilen. Ich sehe bei meinen Reisen für den Weltkirchenrat oft, mit welchen Gerechtigkeits- und Armutsproblemen andere Länder zu kämpfen haben. Natürlich gibt es auch in Deutschland genügend Probleme, die wir angehen müssen. Aber das können wir auch, wenn wir gemäß unseren Möglichkeiten alle unseren Beitrag leisten. Die privaten Haushalte in Deutschland haben neun Billionen Euro an Geldvermögen. Trotzdem tun viele so, als stünden wir kurz vorm Untergang. Der Reichtum muss gerechter verteilt sein. Dann können wir unsere eigenen gesellschaftlichen Probleme lösen und trotzdem offen für die Not von geflüchteten Menschen sein.