Holocaust-Überlebende warnt vor Schweigen und Wegschauen

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© Michael Kappeler/dpa
31.01.2024, Berlin: Die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi spricht bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Am 27. Januar 1945 hatten sowjetische Truppen die Überlebenden des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz im besetzten Polen befreit. Die Nazis hatten dort mehr als eine Million Menschen ermordet, überwiegend Juden. Seit 1996 wird das Datum in Deutschland als Holocaust-Gedenktag begangen. Der Bundestag widmet sich an diesem Mittwoch dem Gedenken. Foto: Michael Kappeler/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Gedenkstunde des Bundestages
Holocaust-Überlebende warnt vor Schweigen und Wegschauen
Die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi hat die deutsche Gesellschaft eindringlich dazu aufgefordert, Hass und Vorurteile gegenüber Gruppen von Menschen nicht gleichgültig hinzunehmen. Sie sprach am Mittwoch in der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus.

In der Gedenkstunde des Bundestags riefen Eva Szepesi und der Sportjournalist Marcel Reif als Sohn eines Überlebenden zu mehr Menschlichkeit und Widerspruch gegen Rassismus auf. "Wer schweigt, macht sich mitschuldig", sagte Szepesi mit Verweis auf erstarkenden Judenhass und Rechtsextremismus. "Die Schoah begann nicht mit Auschwitz, sie begann mit Worten - und sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft", sagte die 91-Jährige, die das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebte.

Marcel Reif appellierte mit den Worten seines Vaters an die Parlamentarier: "Sei ein Mensch." Der bekannte Sportjournalist erzählte in seiner Rede davon, dass sein Vater, ein polnischer Jude, der aus einem Deportationszug der Nazis gerettet wurde, nie über das Erlebte sprach. "Wir sollten, wir durften nicht in jedem Postboten, Bäcker, Straßenbahnfahrer einen möglichen Mörder unserer Großeltern vermuten", sagte Reif, dessen Großeltern von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Diesen "warmen, kuscheligen Mantel des Schweigens" habe er angenommen, später aber verstanden, dass sein Vater doch gesprochen und ein Vermächtnis in diesem Satz hinterlassen habe: "Sei ein Mensch."

Über den Schrecken des Holocaust sprach die aus Ungarn stammende Szepesi in der Gedenkstunde, zu der traditionell auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und die Vertreter aller weiteren Verfassungsorgane gekommen waren. Nachdem die Nazis Ungarn besetzt hatten, schickte Szepesis jüdische Mutter die damals 11-Jährige mit der Tante auf die Flucht, in der Hoffnung, dass sie den Deportationen entkommen könnte. Ende 1944 wurde sie dennoch deportiert. "Im überfüllten Viehwaggon wurde die Luft immer weniger, mein Hunger immer quälender, meine Angst immer größer", schilderte sie das Grauen.

Szepesi kam im Alter von 12 Jahren nach Auschwitz, gab sich dort als 16-Jährige aus und erlebte die Befreiung durch die sowjetische Armee völlig entkräftet auf einer Liege im Vernichtungslager. "Irgendwann spürten meine vom Fieber brennenden Lippen eine Hand, die mich mit kaltem Schnee fütterte", berichtete sie: "Es war der 27. Januar 1945 - und ich lebte." Erst Jahre später erfuhr sie, dass ihre Mutter und ihr damals achtjähriger Bruder wenige Monate vor ihr nach Auschwitz gebracht und sofort nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet wurden.

Überlebende "brauchen jetzt Schutz"

Szepesi sagte, sie wünsche sich, dass nicht nur an Gedenktagen und nicht nur an die ermordeten Opfer des Holocaust erinnert werde, sondern auch an die Überlebenden. "Sie brauchen jetzt Schutz." Sie beklagte ein "lautes Schweigen der Mitte der Gesellschaft" und "Gespräche, die mit ,Ja, aber' beginnen". Erst 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann Szepesi, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Nie sei es wichtiger gewesen als jetzt, Zeugnis abzulegen, sagte sie vor dem Bundestag, "denn ,Nie wieder' ist jetzt".

Seit der damalige Bundespräsident Roman Herzog den Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz zum Gedenktag erklärt hatte, findet rund um das Datum die Gedenkstunde im Bundestag statt. Immer wieder ist sie Anlass, zu Aufmerksamkeit und Widerstand gegen neue Formen von Intoleranz und Menschenfeindlichkeit aufzufordern. Vor dem Hintergrund des starken Zuspruchs der zumindest in Teilen rechtsextremen AfD, Berichten über Pläne rechtsextremer Netzwerke zur Vertreibung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte aus Deutschland und dem Anstieg antisemitischer Angriffe in Deutschland seit dem Überfall der Hamas auf Israel fielen die Appelle in diesem Jahr noch eindringlicher aus.

In der Haushaltsdebatte, die nach der Gedenkstunde auf dem Plan des Bundestags stand, bezog sich auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf die Worte Szepesis. Er forderte "ein ganz klares Bekenntnis von uns allen" zu den Rechten aller in Deutschland lebenden Menschen und verwies auf die Berichte über Pläne rechtsextremer Netzwerke zur Vertreibung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Das Wort "Remigration" erinnere an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte, sagte er.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) rief in der Gedenkveranstaltung zu Verständigung, Respekt und Toleranz auf. "Wenn sich Ausgrenzung und Hass in unserem Land breit machen, dann wird unsere Demokratie erdrückt", sagte Bas am Mittwoch in der Gedenkstunde des Parlaments in Berlin. Sie rief dazu auf, Hass und Menschenfeindlichkeit, insbesondere auch Antisemitismus entgegenzutreten.

"Judenhass ist kein Problem nur der Vergangenheit. Antisemitismus ist ein Problem der Gegenwart", sagte Bas. Dies zeige sich in "erschreckender" Weise seit dem Angriff der Hamas auf Israel. Mehr als 2.000 antisemitische Straftaten habe es seitdem in Deutschland gegeben. "Dieser Ausbruch des Antisemitismus ist eine Schande für unser Land", sagte die Parlamentspräsidentin.

Die Gedenkstunde des Bundestages findet traditionell rund um den Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 statt. 1996 hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog das Datum als Gedenktag proklamiert. In diesem Jahr sollten die Auschwitz-Überlebende Eva Szepesi, die als Zwölfjährige aus dem Vernichtungslager befreit wurde, und der Sportjournalist Marcel Reif, der Sohn eines Schoah-Überlebenden ist, sprechen.

Beauftragte gedenken gemeinsam NS-Opfern

Die Beauftragten der Bundesregierung für Antidiskriminierung, Antisemitismus, Antiziganismus, Integration, sexuelle Vielfahrt und Behinderte haben am Mittwoch erstmals gemeinsam der verschiedenen Opfergruppen des Nationalsozialismus gedacht. Sie legten in Berlin Kränze unter anderem an den Denkmälern für die ermordeten Sinti und Roma, für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen und für die von Nazis getöteten Menschen mit Behinderungen nieder. Anlass war der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar.

In einer Erklärung hieß es, das Gedenken an die Millionen Opfer falle in eine Zeit, in der sich unzählige Menschen durch rechtsextremistische Vertreibungspläne existenziell bedroht fühlten: "Deswegen gedenken wir heute gemeinsam und betonen: Kein Mensch in unserem Land darf jemals um die eigene Sicherheit fürchten müssen, weil er einer Gruppe angehört, gegen die sich menschenfeindliche und mörderische Ideologien richten."

Unterzeichnet haben die Erklärung die Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman, der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein, der Beauftragte gegen Antiziganismus, Mehmet Daimagüler, die Integrationsbeauftragte Reem Alabali-Radovan (SPD), der Beauftragte für die Akzeptanz sexueller Vielfalt, Sven Lehmann (Grüne) und der Behindertenbeauftragte Jürgen Dusel.

Weiter hieß es, Deutschland im Jahr 2024 sei ein Land der Vielfalt: "Jüdinnen und Juden, Musliminnen und Muslime, Sinti und Roma, Schwarze Menschen, Menschen mit Einwanderungsgeschichte, Menschen mit Behinderungen, queere Menschen." Sie alle gehörten zur pluralen Bundesrepublik.