Religion spielt bei Bewältigung von Krisen geringe Rolle

Ärztin mit Maske hält Kreuz hoch
© Getty Images/iStockphoto/Florin Cristian Ailenei
Bei der Bewältigung der Corona-Pandemie etwa spielte der Glaube eine untergeordnete Rolle.
Studie der Bertelsmann Stiftung
Religion spielt bei Bewältigung von Krisen geringe Rolle
In Krisenzeiten wird Religion laut einer Studie nur von einer Minderheit als Hilfe wahrgenommen. Experten sehen in der Religion jedoch auch eine soziale Kraft: In der Corona-Pandemie hätten sich viele religiöse Menschen für Andere eingesetzt. Die Bedeutung der Religion nehme zwar in der Gesellschaft ab, nach Einschätzung des Religionssoziologen Detlef Pollack wird kirchliches soziales Engagement aber nach wie vor geschätzt.

Rund ein Drittel der Deutschen ist überzeugt, dass Religion für sie hilfreich bei der Bewältigung der Corona-Pandemie gewesen ist. Die Mehrheit vertraute hingegen auf Familie (90 Prozent), Wissenschaft (85 Prozent) und Nachbarschaft (74 Prozent), wie aus dem am Donnerstag in Gütersloh veröffentlichten Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann Stiftung hervorgeht. Die Politik wurde von 48 Prozent als hilfreich angesehen.

Für jeden dritten Katholiken (34 Prozent) sowie Protestanten (32 Prozent) sei Religion bei der Krisenbewältigung hilfreich gewesen, hieß es. Unter Muslimen war der Anteil mit 73 Prozent mehr als doppelt so groß. Ein fast ebenso hoher Wert wurde bei evangelikal-freikirchlichen und pfingstkirchlichen Gruppen verzeichnet.

Während der Corona-Pandemie hat dem Religionsmonitor zufolge etwa ein Drittel der Befragten vermehrt über den Sinn des Lebens nachgedacht. Die Menschen hätten aber deshalb nicht mehr gebetet oder meditiert. Die Häufigkeit sei relativ unverändert geblieben, hieß es. Religion habe vor allem den Menschen Kraft und Orientierung gegeben, die schon vor der Pandemie religiös waren, hieß es. Ein strafendes Gottesbild, nach dem Schicksalsschläge religiös gedeutet würden, finde sich in Deutschland nur bei einer Minderheit.

Drei Viertel der Befragten gaben an, in der Corona-Pandemie auch oft Solidarität und Hilfsbereitschaft gezeigt zu haben. In dieser Gruppe seien religiöse Menschen überproportional häufig vertreten, erklärte die Religionsexpertin der Bertelsmann Stiftung, Yasemin El-Menouar. Religion sei eine soziale Kraft, die in Krisenzeiten das Engagement für andere stärken könne, erklärte sie.

Während der Corona-Pandemie hätten sich die Menschen vor allem an der Wissenschaft orientiert, erklärte El-Menouar weiter. Religiöse Strukturen, wie Gemeinden in der Nachbarschaft, könnten jedoch ebenfalls eine wichtige soziale Quelle sein, wie der Religionsmonitor zeige. Als größte Bedrohungen für die Zukunft würden vor allem kriegerische Konflikte, Klimawandel und globale Armut wahrgenommen.

Die Veröffentlichung über die Rolle der Religion bei der Krisenbewältigung ist Teil des Religionsmonitors 2023. Dafür wurden im Juni und Juli 2022 fast 10.660 Menschen in Deutschland, den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Polen sowie den USA befragt. In Deutschland haben sich den Angaben zufolge mehr als 4.360 Menschen an der Befragung beteiligt. Erhoben wurden die Daten in Auftrag der Stiftung vom infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft.

Pollack: Soziales Engagement der Kirche wird geschätzt

Die Bedeutung der Religion nimmt in der Gesellschaft nach Einschätzung des Religionssoziologen Detlef Pollack zwar ab, kirchliches soziales Engagement wird aber nach wie vor geschätzt. In gegenwärtigen Krisen, wie etwa bei der Corona-Pandemie, nehme Religion eher die Funktion eines nachgeordneten Systems ein, sagte Pollack dem epd. "Sie wird von den meisten nicht als zuständig angesehen, um diese Krisen zu bewältigen", erklärte Pollack, einer der Autoren der Studie der Bertelsmann Stiftung.

Zugleich sei das Engagement der Kirchen und Christen für Kranke, Arme und Notleidende hoch, dies werde von der Mehrheit der Bevölkerung auch geschätzt, so der Religionssoziologe. "Die Kirche ist immer dann attraktiv, wenn sie nah bei den Menschen ist und sie in ihren alltäglichen Problemen begleitet, etwa auch in der Seelsorge", unterstrich Pollack.

Kirchen "mehr und mehr überfordert"

Die Kirchen erfüllten viele Aufgaben, etwa in der Kinderbetreuung oder der Bildungsarbeit, zudem spendeten sie Segen oder beerdigten die Gestorbenen mit Würde, sagte der Wissenschaftler. Die Kirche werde ihre Zukunft nicht in der Konzentration auf ein Aufgabenfeld finden können. "Doch liegt darin auch ein Problem, denn mehr und mehr überfordert die Erfüllung vieler Aufgaben die Kirchen", erklärte Pollack.

Zu bedenken sei jedoch auch, dass hochreligiöse Menschen und Mitglieder evangelikal-freikirchlicher und pfingstlerischer Gemeinden sowie Muslime und Buddhisten Religion für wesentlich hilfreicher halten als der Bevölkerungsdurchschnitt, sagte der Wissenschaftler, der an der Uni Münster im Exzellenzcluster Religion und Politik lehrt. Auch schließe das Vertrauen in die Krisenbewältigungskompetenz der Religion das Vertrauen in Wissenschaft, Gesundheitssystem oder auch Politik nicht aus.

Dass Religion in Krisenzeiten über die gläubigen Menschen hinaus nur eine untergeordnete Rolle in der Gesellschaft habe, liegt nach Einschätzung Pollacks an einer zunehmend weltlicher gewordenen Gesellschaft: "Um erfahren zu können, dass der Glaube hilfreich ist, muss man ihn bereits angenommen und verinnerlicht haben", sagte der Wissenschaftler.