Evolutionsbiologie auch schon für Grundschüler?

Unterricht in einer Grundschulklasse
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Ethikexperte Alexander Maßmann geht auf die Frage ein, ob Evolutionsbiologie schon in der Grundschule unterrichtet werden sollte und welche verschiedenen Standpunkte es zu der Frage gibt.
Kolumne evangelisch kontrovers
Evolutionsbiologie auch schon für Grundschüler?
Bisweilen ist der Vorschlag zu hören, die Evolutionslehre sollte bereits in der Grundschule unterrichtet werden. Dafür sprechen sich auch einige Religionskritiker aus, die die Evolutionsbiologie als Gegensatz zum christlichen Glauben verstehen. Doch nach Ansicht unseres Ethikexperten Alexander Maßmann könnte es auch aus christlicher Sicht sinnvoll sein, schon den jüngeren Kindern Darwins Theorie nahezubringen. Eine neue Folge der Kolumne "evangelisch kontrovers".

In Deutschland ist die Rolle der Kirchen in der Gesellschaft verstärkt Gegenstand der Diskussion. Hier wird auch die Frage debattiert, ob die Schulen Darwins Evolutionslehre bereits in der Grundschule unterrichten sollen. Bislang wird das Thema meist in den Schuljahren 8–9 behandelt. Doch Religionskritiker verstehen die Evolutionslehre verschiedentlich so, dass sie dem Schöpfungsglauben des Christentums entgegenstehe. Sie sprechen sich dafür aus, die Theorie vom "survival of the fittest" schon deutlich jüngeren Kindern nahezubringen.

Doch hier sind manche Vorurteile aufzuklären. Ob man Darwin unterrichten soll, ist keine theologische oder ethische Frage, sondern eine pädagogische. Wenn die Entscheidung "ja" lautet, hätte die Theologie allerdings ein paar Hinweise, die das "wie" angehen – und zwar aufgrund des tiefen Respekts, den die Evolutionsbiologie verdient.

Ein christliches Verständnis der Evolution

Keine biologische Erklärung unserer Artenvielfalt ist auch nur annähernd so gut wie Darwins Evolutionstheorie. Die Annahme eines speziellen, wundersamen Eingreifens des Schöpfers in die Evolution, z.B. in der Evolution des Menschen, würde davon nur ablenken. Was die Entstehung der Lebewesen angeht, besteht Gottes schöpferisches Wirken gerade darin, dass dieser Prozess kontinuierlich in seiner Eigenlogik abläuft.

Bei der Entstehung immer neuer biologischer Variationen spielt zwar im Einzelnen der Zufall eine große Rolle. Dass aber im Zusammenspiel aller Faktoren verschiedentlich solche Lebewesen entstehen, die vorteilhafte Eigenschaften haben wie wir Menschen – etwa ein leistungsfähiges Gehirn und Flexibilität im Verhalten – ist wiederum vorhersehbar und nicht nur blinder Zufall (wie die sogenannte konvergente Evolution zeigt).

Zwei Spielarten des Fundamentalismus

Dem steht eine fundamentalistische Ansicht gegenüber, die sowohl Kreationisten vereint, die die Schöpfungsgeschichte Genesis 1 buchstäblich verstehen, als auch diejenigen Gegner des Christentums, die Genesis 1 als kreationistisch ablehnen. Dass wir Sprache oft in einem anderen als einem buchstäblichen Sinn verwenden, machen sich Vertreter dieser fundamentalistischen Ansicht nicht klar.

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Als zum Beispiel Hermann Hesse in einem Gedicht schrieb "Herz, nimm Abschied und gesunde", meinte er nicht, dass unser Herz mit der Hand winkt, so wie wir bei einem Abschied, und sich dann ins Bett legt, um eine Grippe auszukurieren. Genauso ist auch die Schöpfungsgeschichte Genesis 1 nicht buchstäblich zu verstehen, als ob Gott im Laufe von 6 X 24 Stunden von jetzt auf gleich die verschiedenen Lebewesen hervorgezaubert hätte. Das ist keine neuzeitliche Einsicht, sondern galt schon für christliche Denker, die in der Antike Genesis 1 ausgelegt haben und noch nichts von Darwins Theorie wussten.

Was Theologie mit Naturwissenschaft zu tun hat

Das Christentum kann wissenschaftliche Hypothesen weder direkt bestätigen noch pauschal bestreiten, wenn sie auf sorgfältigen Beobachtungen beruhen. Dennoch kann die Theologie hier und da einen wichtigen Beitrag zum Dialog leisten. Denn in den Naturwissenschaften geht es letztlich nie allein um die Werte, die die Messgeräte anzeigen. Die Wissenschaften arbeiten stets mit Interpretationen, und ohne Interpretation sind auch biologische Beobachtungen wertlos. Die Frage, wie man etwas sachgemäß interpretiert, gehört aber auch zum Kerngeschäft der Theologie. Das macht einen interessanten Dialog möglich. Dagegen ist die verbreitete Ansicht ein Missverständnis, Naturwissenschaft und Theologie seien zwei klar geschiedene Bereiche, von denen es der eine nur mit Fakten, der andere nur mit persönlichen Werten zu tun habe.

Egoistische Evolution?

Der britische Wissenschaftsautor Richard Dawkins ist ein prominenter Kritiker des Christentums, der die Evolutionsbiologie besonders hoch schätzt. Er interpretiert sie im Sinne eines Wettkampfes, in dem sich Organismen durch und durch "egoistisch" verhalten. Daraus folgert er, dass das Christentum ein Irrtum sei: Der christliche Schöpfungsglaube kollidiere unter anderem deshalb mit der Evolutionsbiologie, weil er die Illusion einer harmonischen Schöpfung mit freundlichen Geschöpfen nähre, während in der Evolution der Kampf das bestimmende Motiv sei.

Dawkins diskutiert z.B., ob es tatsächlich Altruismus ist, wenn ein einzelner Vogel seinen Schwarm vor einem Raubvogel warnt. Mit einem Warnschrei lenkt der einzelne Vogel die Aufmerksamkeit des Räubers auf sich. Doch Altruismus gegenüber den Artgenossen ist das nicht. Der einzelne Vogel ist am besten geschützt, wenn er sich gemeinsam mit dem ganzen Schwarm bewegt und sich nicht vereinzelt exponiert. Mit dem Warnruf fliegt nun der ganze Schwarm davon, und als Teil des Schwarms bleibt der einzelne Vogel geschützt. Damit dient der Warnruf auch den Interessen des warnenden Vogels.

Soweit hat Dawkins’ Altruismus-Kritik recht. Aber über das Verhältnis der Vögel untereinander folgert er dann, dass "das Ausstoßen eines Warnrufes einen rein egoistischen Nutzen bringt". Das ist aber ein logischer Fehlschluss. Dawkins versteht den Egoismus so, dass andere einen Nachteil davon haben, dass ein Tier seine eigenen Interessen verfolgt. Doch im Verhältnis zum Schwarm dient das Verhalten des warnenden Vogels nicht dem einseitigen, sondern dem wechselseitigen Vorteil. Dawkins übersieht, dass der wechselseitige Vorteil eine dritte Option zwischen Altruismus und Egoismus ist. Es ist also eine Fehlinterpretation, dass hier evolutionärer Egoismus herrsche, im Gegensatz zum Schöpfungsglauben, der irrtümlich die Kooperation betone.

Evolution als Super-Theorie

Für die Bedeutung der Evolution auch für die Religion argumentierte neulich der Biologe Thomas Junker in einem Zeitungsinterview. Dabei überschätzte er nicht den Egoismus in der Evolution, aber er erhob die Evolution zu einer Super-Theorie, die praktisch alles erklärt, auch das, was wir sonst nicht der Disziplin der Biologie zuordnen. Junker behauptete, das menschliche Urteilen über Sinn sei in der Evolution entstanden, und deshalb verbleibe es auch wesentlich in diesem Rahmen. Uns als Produkten der Evolution erscheinen Dinge sinnvoll, weil sie in etwa dem entsprechen, was uns einen darwinistischen Vorteil bringt. Wir helfen z.B. Freunden, der Familie oder dem Clan, weil uns deren Hilfe auf lange Sicht wieder selbst zugute kommt. Wenn Moral oder Religion etwas taugen, dann höchstens hier und da aufgrund einer glücklichen Inkonsequenz.

Zwar können sich Religion und Moral manchmal über ihre tatsächlichen Interessen täuschen. An Junkers These überrascht aber, dass er die Biologie zugleich überschätzt und unterschätzt. Er will alles Mögliche auf eine biologische Logik reduzieren, doch letztlich bleibt auch die Biologie ein menschliches Produkt. Sie ist nicht vor den prinzipiellen Verdächtigungen geschützt, die er allem menschlichen Sinnempfinden entgegenbringt – vermeintlich im Namen der Biologie. Außerdem kann seine Theorie nicht erklären, weshalb wir es manchmal als eine moralische Pflicht erkennen, auch noch dem Fernsten zu helfen, so wie der barmherzige Samariter (Lukas 10:25–37 ).

Ausblick

Christ:innen können den Vorschlag, die Evolution schon in der Grundschule zu unterrichten, mit Gelassenheit betrachten. Biologen und Didaktik-Experten müssten untereinander klären, inwieweit Kinder die Evolution verstehen können auch ohne Kenntnisse in der Genetik, doch das ist keine theologische Frage.

Zu bedenken ist aber auch, dass Evolutionsbiologen manchmal dazu neigen, die Evolutionsbiologie ideologisch zu verzerren. Wenn die Evolution als universaler Egoismus oder als Fundament einer Super-Theorie dargestellt wird, die alles mögliche erklärt, ist auch die Theologie um Hilfe gefragt, ein paar Knoten im Denken aufzulösen. Wenn die Evolutionsbiologie dagegen sauber arbeitet, kann das nur im Interesse der Wahrheitssuche liegen. Vielleicht vermag die Evolutionsbiologie schon in der Grundschule eine Skepsis gegenüber den Naturwissenschaften reduzieren. Das wäre auch im Interesse der Theologie, die die Natur als Gottes Schöpfung wertschätzt.