TV-Tipp: "Tatort: Neugeboren"

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TV-Tipp: "Tatort: Neugeboren"
Montag 24.5., ARD, 20.15 Uhr
Es ist weniger die kriminalistische Ebene, die "Neugeboren" zu einem besonderen "Tatort" macht. Sehr interessant ist das Milieu, in dem die Geschichte angesiedelt ist: Die Hauptakteure leben in einem sozialen Brennpunkt, in dem hübsche junge Frauen davon träumen, in einer Castingshow entdeckt zu werden, während sich die Alten die Trümmer ihrer Existenz schön trinken.

Der klassische "Tatort"-Kommissar war bis weit in die 90-er Jahre ein Einzelgänger. Schimanski hatte zwar mit Thanner einen Partner auf Augenhöhe, aber der hochkorrekte Kollege sollte vor allem den besonderen Status des ersten proletarischen TV-Ermittlers betonen. Seit im Sonntagskrimi jedoch bevorzugt Teams am Werk sind, stehen die Sender bei jedem Neustart vor dem immer wieder gleichen Problem: Welche Konstellation gab’s noch nicht, mit welchen Alleinstellungsmerkmalen können wir die Figuren ausstatten, wie machen wir sie unverwechselbar? Außerdem sollen sich Nachfolger natürlich auch deutlich von Vorgängern unterscheiden.

Radio Bremen hat dafür eine clevere Lösung gefunden, die sich durch drei Attribute skizzieren lässt: jünger, anders, gleich. Für "jünger" steht Jasna Fritzi Bauer, Star der Vox-Serie "Rampensau" und Hauptdarstellerin von Filmen wie "Ein Tick anders" (2011), "About a Girl" (2014) und "Axolotl Overkill" (2017). Sie spielt eine ehrgeizige junge Polizistin aus Bremerhaven, die unbedingt zur Mordkommission in die Großstadt will. Kurzerhand vom alten ins neue Team übernommen wurde die zwar brillante, aber nur begrenzt teamfähige BKA-Analytikerin Linda Selb; Luise Wolfram hat seit 2016 als berufliche und private Partnerin von Kommissar Stedefreund (Oliver Mommsen) regelmäßig bemerkenswerte Akzente gesetzt.

Für "Anders" steht der Dritte im Bunde, und er heißt auch fast so: Mads Andersen (Dar Salim) ist ein Kollege aus Kopenhagen und hat in Bremen Asyl gefunden, weil Gangster ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatten. Das hat sich mittlerweile erledigt, weshalb der erste Arbeitstag von Liv Moormann (Bauer) eigentlich sein letzter sein soll. Da die gesamte Polizei der Stadt nach einem entführten Baby sucht, muss er noch mal zu einem Einsatz: Ein junger Dealer hat sich anscheinend von einem Dach gestürzt. Da der vermeintliche Suizid jedoch offenkundig einen Mord kaschieren soll, kommt Andersen nicht umhin, seine Abreise immer wieder zu verschieben.

Wer die früheren "Tatort"-Beiträge von Radio Bremen aufmerksam verfolgt hat, wird Dar Salim wiedererkennen: Der Däne mit irakischen Wurzeln hat in dem Gangsterfilm "Brüder" (2014) mit einer faszinierenden Mischung aus Charme, Arroganz und Brutalität einen Clan-Chef gespielt; damals war er eine echte Entdeckung fürs hiesige Film- und Fernsehwesen. Seine Präsenz prägt auch "Neugeboren": Andersen etabliert sich auf Anhieb als einer der coolsten Kommissare im Sonntagskrimi, findet bei Befragungen immer den richtigen Tonfall und sorgt mitunter für unfreiwillige Heiterkeit ("Der Tod ist hinterlustig").

Liv Moormann zeichnet sich dagegen in erster Linie durch ihre Hartnäckigkeit aus; weniger wohlwollend formuliert könnte man sie auch als Nervensäge bezeichnen. Weil die erste Begegnung mit ihrem neuen Vorgesetzten denkbar ungünstig verläuft, ist sie drauf und dran, gleich wieder zu kündigen, aber vorher will sie diesen Fall unbedingt lösen.

Die Suche nach dem Mörder führt zu Rudi Stiehler (André Szymanski), einem ehemaligen Fußballprofi, dessen vielversprechende Karriere wegen zweier Kreuzbandrisse bereits als Teenager endete. Seine Tochter (Johanna Polley) hat in der Nacht, in der auch der Dealer starb, ein Kind zur Welt gebracht. Stiehler war überzeugt, dass der junge Mann der Vater ist, weshalb es kurz vor dessen Tod eine heftige Prügelei gab. Selb sucht derweil in der Klinik nach einer Antwort auf die Frage, wer das Baby von Sophie Völkers (Morgane Ferru) entführt haben könnte. Krimi-Fans werden zwar ahnen, dass die beiden Fälle miteinander zu tun haben, aber die Auflösung ist dennoch recht überraschend.

Sehr interessant ist das Milieu, in dem Christian Jeltsch seine Geschichte angesiedelt hat: Die Stiehlers leben in einem sozialen Brennpunkt, in dem hübsche junge Frauen davon träumen, in einer Castingshow entdeckt zu werden, während sich die Alten die Trümmer ihrer Existenz schön trinken. Zum Glück ist Jeltschs Drehbuch deutlich differenzierter ausgefallen, als diese Klischees nahelegen.

Der Autor hat neben diversen guten Sonntagskrimis für Radio Bremen unter anderem die "Schwarzach 23"-Krimis im ZDF sowie mit dem MAD-Thriller "Krieg im Kopf" (Göttingen) einen der besten Sonntagskrimis des letzten Jahres geschrieben. Dass er beim Entwurf des Ermittler-Trios bereits wusste, wer die Rollen spielen würde, war sicher hilfreich. Ebenfalls Teil des Ensembles ist Christian Aumer als Chef der Mordkommission, der gerade von den eigenwilligen weiblichen Team-Mitgliedern mitunter etwas überfordert scheint. Sehr sympathisch sind auch die kleinen Ideen am Rande, mit denen Jeltsch zur Einführung seine Hauptfiguren charakterisiert.

Für die Schweizerin Regisseurin Barbara Kulcsar ist "Neugeboren" nach dem sehenswerten Schwarzwaldkrimi "Rebland" (2020) der zweite "Tatort"; ihr deutsches Fernsehfilmdebüt war "Tödliche Geheimnisse: Das Versprechen" (2020) aus der Wirtschaftskrimireihe mit Anke Engelke und Nina Kunzendorf. Neben der ausgezeichneten Arbeit mit dem Ensemble zeichnet sich ihr Krimi vor allem durch eine vorzügliche Bildgestaltung aus (Kamera: Filip Zumbrunn); dass die erste Einstellung mit ihrem Blick durch eine Tür auf die nächtlichen Lichter der Großstadt an den Auftakt des John-Ford-Klassikers "Der schwarze Falke" erinnert, ist bestimmt kein Zufall.