Mal pietistisch, mal sozialistisch - die Bremer St.-Martini-Gemeinde polarisiert

Evangelische St.-Martini-Gemeinde in Bremen
© epd-bild/Dieter Sell
Die evangelische St. Martini-Kirche in Bremen gehört zu den ältesten Sakralbauten in der Hansestadt und sorgt immer wieder für Schlagzeilen.
Mal pietistisch, mal sozialistisch - die Bremer St.-Martini-Gemeinde polarisiert
Immer wieder Aufregung - vor allem um Pastor Olaf Latzel
Die evangelische St.-Martini-Gemeinde in Bremen macht gerade mal wieder bundesweit Schlagzeilen - und hat zwischen Sozialismus und Fundamentalismus schon viel erlebt. Nur in der Mitte der Gesellschaft stand sie fast nie. Eine Geschichte der Extreme.

Selten hat eine evangelische Gemeinde in Deutschland über Jahre so viele Diskussionen und Schlagzeilen ausgelöst wie St. Martini in der Bremer Innenstadt. Ihr amtierender Pastor Olaf Latzel ließ Frauen nicht auf die Kanzel, beschimpfte andere Religionen und jüngst homosexuelle Menschen, immer mit Rückendeckung seines Kirchenvorstandes und dem Verweis auf eine "bibelzentrierte" Theologie. Ein Blick in die Geschichte zeigt: St. Martini ist seit langer Zeit eine Gemeinde, die Kirche und Gesellschaft polarisiert, geführt von Theologen, die oft als Enfant terrible im Talar auftraten.

Die Kirche entstand im 13. Jahrhundert direkt am Ufer der Weser, inmitten der dicht besiedelten Stadt, gleich neben dem damaligen Hafen. Dort lebten vor allem Kaufleute. "Vermutlich war St. Martini eine begüterte, sicher eine selbstbewusste Gemeinde", heißt es im Bremer kirchengeschichtlichen Standardwerk "Von Abraham bis Zion". Und weiter: "Es scheint, als habe die Nähe zum Fluß die Gemeinde besonders empfänglich gemacht für die mit dem Strom der Zeit herantreibenden neuen Ideen."

So wurde die Gemeinde schnell und radikal von der Reformation erfasst, Altarbilder, Kreuze, Grabmäler und Apostelfiguren gingen zu Bruch. Bald folgte ein Prediger, der jede Anwesenheit Christi im Abendmahl leugnete. Mit Theodor Undereyck (1670-1693) wurde Martini zum Zentrum des reformierten Pietismus. Undereycks Kritik an der erstarrten Kirchenlehre erregte Anstoß, die Gemeinde liebte ihn dafür. Zum Volksfest im Herbst bekam er "jedes Mal einen fetten Ochsen ins Haus geliefert", wie es in der Kirchenchronik heißt.

Glaube als Resultat religiöser Dressur

Geschichte schrieb auch Joachim Neander, der an St. Martini das berühmte Kirchenlied "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" dichtete, heute noch auf dem Glockenspiel der Kirche zu hören. Den Weg des strengen Biblizismus und der erwecklichen Theologie setzten nach ihm Gottfried Menken und Georg Gottfried Treviranus fort. Gänzlich anders predigte im Anschluss Moritz Schwalb, ein getaufter Jude, der auf der Kanzel die Gottessohnschaft Jesu leugnete und sozialistisch dachte.

So auch der linksliberale Albert Kalthoff, Mitbegründer und erster Vorsitzender des pazifistischen Deutschen Monistenbundes. Er lud 1904 die amerikanische Predigerin Reverend Anna Howard Shaw ein, in St. Martini zu predigen. Damit war der spätgotische Backsteinbau am Weserufer die erste Kirche in Deutschland, in der eine Frau auf der Kanzel stand - etwas, was Pastor Latzel 2008 einer Kollegin rigoros verwehrte. 1906 strengten sieben Bremer Pastoren ein Verfahren gegen Kalthoff zwecks "Amtsenthebung wegen Atheismus" an.

Konfliktbeladen ging es mit Emil Felden weiter, der die Kinder im Unterricht über die Existenz Gottes abstimmen ließ und aus dem Ergebnis folgerte, der Glaube sei ein Resultat religiöser Dressur. Unter dem Sozialisten und Pazifisten entwickelte sich Martini zur Arbeitergemeinde. Felden setzte sich für die Rechte der Frauen und für die Trennung von Kirche und Staat ein. Nach ihm kamen der NS-treue Karl Refer und Johannes Oberhof, ein religiöser Sozialist, der wegen seiner Teilnahme am II. Weltfriedenskongress in Warschau suspendiert wurde. Nach einem Disziplinarverfahren verlor er sein Amt.

Bundesweite Resonanz

Die gegenwärtige evangelikale Orientierung der Martini-Gemeinde prägte maßgeblich der wortgewaltige Georg Huntemann (1929-2014), zu seiner Zeit einer der führenden Köpfe der deutschen Bekenntnisbewegung. Legendär ist der Auftritt des Pastors Anfang der 1990er Jahre in der RTL-Talkshow "Der heiße Stuhl", bei dem er gegen Pornografie wetterte. Auch für ihn waren Frauen auf der Kanzel ein Gräuel, Maria Jepsen als erster Bischöfin an der Spitze einer lutherischen Kirche solle man das Abendmahl verweigern, forderte er.

Huntemanns Weg setzte Pastor Jens Motschmann fort und stellte sich unermüdlich Tendenzen entgegen, Evangelium und Politik zu vermischen - auch mit bundesweiter Resonanz. Auf ihn folgte schließlich im Dezember 2007 Latzel. So sehr ihn Vertreter einer offenen und liberalen Stadtgesellschaft und -kirche kritisieren: In seiner Gemeinde und vor allem im Netz genießt Latzel großen Rückhalt.

Der Pastor, gegen den die Staatsanwaltschaft Vorwürfe der Volksverhetzung prüft und gegen den die Kirche ein Disziplinarverfahren eröffnet hat, lehnt die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare und die Frauenordination strikt ab. Auf Youtube hat er mehr als 18.000 Abonnenten, seine Predigten verfolgen im Netz Zehntausende. Auch national tritt er bei Zeltmissionen und erwecklichen Treffen auf - und beschimpft dabei regelmäßig seine eigene Kirchenleitung und führende Köpfe der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Olaf Latzels Angriffe

So klein die St.-Martini-Gemeinde in Bremen mit knapp 1.200 Mitgliedern auch ist - bundesweit sorgt sie wegen Latzel immer wieder für große Schlagzeilen. Latzel (52) predigt streng-evangelikal und schreckt dabei auch vor Herabsetzungen und Beleidigungen nicht zurück. Das ist aktuell wieder der Fall, weil er schwule und lesbische Menschen beschimpft hat. Aufregung gab es aber auch schon 2015 und 2008. Eine Übersicht:

Im Oktober 2019 hat Pastor Latzel im Verlauf eines Seminars unter dem Titel "Biblische Fahrschule zur Ehe" homosexuelle Menschen diffamiert. Nachzuhören war das lange in einer Tonaufnahme, die aber mittlerweile nicht mehr öffentlich ist. Darin erläutert Latzel, Homosexualität stehe gegen die göttliche Schöpfungsordnung, die als Geschlecht nur Männer und Frauen vorsehe: "Jetzt erzählen uns irgendwelche verworrene Politiker, Theologen, Soziologen, Anthropologen, es gibt noch das dritte Geschlecht, ein viertes, fünftes, weiß der Kuckuck was." Latzel bezeichnet diese Position als "totalen Wahnsinn": "Der ganze Genderdreck ist ein Angriff auf Gottes Schöpfungsordnung, ist teuflisch und satanisch." Das verunsichere Leute, zerstöre Zivilisation und Kultur. Damit würden schon Kinder in der Schule indoktriniert. Die Homosexualität sei eine "Degeneration von Gesellschaftsformen".

Die Staatsanwaltschaft prüft

Homosexualität sei todeswürdig und ein Gräuel, legt Latzel die Bibel aus und warnt vor einer "Homolobby": "Überall laufen die Verbrecher rum vom Christopher Street Day." Latzel rät davon ab, homosexuellen Paaren zur Eheschließung Geschenke zu machen. Wer das tue, mache sich schuldig. Die Staatsanwaltschaft prüft derzeit, ob die Ausführungen den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen. Latzel hat sich zwischenzeitlich entschuldigt und von einem Missverständnis gesprochen.

2015 beleidigte Latzel in einer Predigt unter dem Titel "An Gideon die Reinigung von den fremden Göttern lernen" andere Religionen. Das islamische Zuckerfest bezeichnete er als "Blödsinn", Buddha als "dicken, fetten Herrn" und den Segen des Papstes "Urbi et Orbi" als "ganz großen Mist". Zum Umgang mit Reliquien in der katholischen Kirche sagte der Theologe, "der ganze Reliquiendreck und -kult ist heute noch in der katholischen Kirche verbreitet". Zu Götzen und anderen Göttern sage Gott "umhauen, verbrennen,

Bremens damaliger leitender evangelischer Theologe Renke Brahms bezeichnete die Kanzelrede als "geistige Brandstiftung". Auch 2015 prüfte die Staatsanwaltschaft, sah die Predigt am Ende aber von der grundgesetzlich zugesicherten Meinungs- und Religionsfreiheit gedeckt.hacken, Schnitte ziehen".

2008 schließlich verwehrte Latzel einer Kollegin die Kanzel. Die Theologin wollte in St. Martini als Gastrednerin bei einer Trauerfeier sprechen. Latzel wies sie auch darauf hin, dass sie als Frau in der Martini-Kirche laut Gemeindeordnung keinen Talar anziehen darf. St. Martini lehne die Frau im Pfarramt ab. Die Gemeinde beruft sich dabei auf eine Bibelstelle, die Teil ihrer Gemeindeordnung ist. Dort heißt es im 1. Timotheusbrief (Kapitel 2, Vers 12): "Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann Herr sei, sondern sie sei still."

Buchhinweise: Claus Heitmann, "Von Abraham bis Zion. Die Bremische Evangelische Kirche", Edition Temmen Bremen 2000, 263 Seiten, im Antiquariat.

Vereinigung für Bremische Kirchengeschichte e.V., "Hospitium Ecclesiae - Forschungen zur Bremischen Kirchengeschichte", diverse Bände, mehrere Verlage. Auch digital verfügbar über die Staats- und Universitätsbibliothek Bremen.