"Worte sind in unserer Gesellschaft zu Spaltern verkommen"

Miri Eisin während einer Exkursion auf den Golanhöhen.
Foto: Tobias Schreiner
Miri Eisin während einer Exkursion auf den Golanhöhen.
"Worte sind in unserer Gesellschaft zu Spaltern verkommen"
Die israelische Ex-Oberst Miri Eisin über die Konsequenzen des Sechstagekriegs für die israelische Gesellschaft
Miri Eisin ist studierte Expertin für Sicherheitspolitik. Sie diente 24 Jahre lang im Nachrichtendienst der Israeli Defense Forces und ist eine der wenigen Frauen in der israelischen Armee, die den Rang einer Oberst erreichte. Bis heute sind nur zwei Prozent aller Oberst in Israel Frauen. Nach ihrem Rücktritt aus der Armee arbeitete Eisin während des Zweiten Libanonkriegs 2006 als Pressesprecherin der Regierung, 2007 war sie Medienberaterin von Premierminister Ehud Olmert. Heute lehrt sie unter anderem am IDC College in Herzliya. Im Interview mit evangelisch.de spricht sie über die Folgen des Sechs-Tage-Kriegs für die israelische Gesellschaft.

Heute vor 50 Jahren feierte der Staat Israel seinen wichtigsten Sieg über die damals verfeindeten arabischen Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien. Frau Eisin, welche persönlichen Erinnerungen haben Sie noch an diese Tage?

Eisin: 1967 war ich erst fünf Jahre alt und lebte mit meiner Familie in Kalifornien. Wir sind erst 1971 nach Israel ausgewandert.

Was haben Ihre Eltern Ihnen über den Krieg erzählt?

Eisin: Ich habe erst später mehr über den Sechs-Tage-Krieg von meinen Schwiegereltern erfahren. Mein Schwiegervater war ein Fallschirmjäger der Reserve. Damals gab es zwei Fallschirmjäger-Brigaden. Eine von Ihnen hat am 7. Juni vor 50 Jahren die Altstadt von Jerusalem eingenommen. In der anderen war mein Schwiegervater. Sie wurden kurz vorher nach Norden in die Golanhöhen geschickt. Das war eine große Enttäuschung für ihn. Er kämpfte dort am 9. und 10. Juni an der Front. Meine Schwiegermutter war eine Offizierin der Fallschirmjäger und versorgte in den Krankenhäusern die verwundeten Soldaten.

Der Sechs-Tage-Krieg und besonders der Luftschlag gegen die Ägyptische Luftwaffe werden heute glorifiziert. Was haben Sie in der Schule über diesen "glorreichen Sieg" gelernt und inwieweit hat sich das von der Einstellung zum Krieg zuhause unterschieden?

Eisin: In der Schule haben wir gelernt, dass Israel der Sechs-Tage-Krieg aufgezwungen wurde. Ein Krieg ohne Wahl. Über den Druck, den Syrien, Ägypten und Jordanien vor dem Krieg auf uns ausübten, die Spannungen an den Grenzen. Und darüber, was wir den "Krieg um das Wasser" nennen. Die Araber versuchten damals, uns von den Wasserquellen des Jordan abzuschneiden. Wir haben gelernt, dass Wasser ein Kriegsgrund ist und als Waffe gegen uns eingesetzt wurde. Das ist heute in den Schulen nicht mehr so sehr Thema. Außerdem lernten wir, dass Israel der David und die Arabische Welt um uns herum der Goliath war. Wir gegen die. Davon redet man heute noch. Was geblieben ist, ist das Verständnis, dass dies ein existenzieller, gerechter Krieg war. Wir dachten, wir würden zerstört werden, aber wir siegten. Was sich verändert hat – wenn wir über Glorifizierung reden – dass die Leute, die den Krieg damals selbst erlebt haben, anders über die Auswirkungen denken.  

Inwiefern?

Eisin: Dieses Jubiläum einfach nur als "50 Jahre Besatzung" zu sehen, ist zwar nicht falsch, aber sehr limitiert, weltfremd und ohne Verbindung zu den späteren Ereignissen. Es gibt innerhalb weniger Jahre drei verschiedene Generationen: Diejenigen, die den glorreichen Sieg im Sechs-Tage-Krieg miterlebt haben. Die Menschen, die beide Folgekriege miterlebt haben, die Israel erneut traumatisiert haben, nämlich den Abnutzungskrieg bis 1970 und den Jom-Kippur-Krieg 1973. Und dann die Generation, die nach dem Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar As-Sadat 1977 und dem anschließenden Friedensvertrag 1979 geboren wurden. Für diese Generation gibt es schon immer Frieden mit Ägypten. Diejenigen, die nur wenige Jahre älter sind, kennen jedoch noch diese existentielle Bedrohung und das Gefühl, von Feinden umzingelt zu sein.

###galerie|144275|Grenzen im Westjordanland###

Stammt diese Furcht der Juden, ausgelöscht zu werden, nur aus dem Holocaust oder spielt der Sechs-Tage-Krieg auch eine Rolle?

Eisin: Das ist ein jüdisches Thema, eingebaut in unsere Psyche. Wir glauben immer, dass uns wer von der Landkarte ausradieren will. Das mag zwar nicht stimmen, aber selbst wenn uns das jemand erklärt, sagen viele Leute: "Jaja, das haben sie damals auch gesagt und schau, wohin uns das gebracht hat." Die Ursprünge dessen liegen schon vor der Shoah, überall in Europa hat man versucht, uns auszulöschen. Dazu kommt der Unabhängigkeitskrieg 1948. Der schlimmste Krieg, den wir je hatten, bei dem ein Prozent der Bevölkerung umgekommen ist.

Ist diese Furcht heute noch in der israelischen Gesellschaft verwurzelt?

Eisin: Ich will jetzt nicht kritisieren, ich beschreibe nur: Ja, ist sie, weil noch immer Leute von damals am Leben sind. Und ich denke, es dauert noch mindestens eine Generation, bis sich das ändert. Aktuell werden Menschen von den Geschichten ihrer eigenen Großeltern traumatisiert. Immer mehr Menschen in ihren späten 80ern, die ihren Kindern nie von der Shoah oder dem Unabhängigkeitskrieg berichtet haben, um sie nicht zu traumatisieren, öffnen sich nach dem Tod ihrer Ehepartner gegenüber ihren Enkelkindern und berichten von den Gräueln dieser Zeit. Das geschieht in ganz Israel und ist der Grund, warum dieses Trauma noch immer Teil von uns ist. Ich sage nicht, dass es vorbei ist, sobald alle Zeitzeugen tot sind, aber es könnte sich ändern.

In Israel und Palästina muss man vorsichtig sein, welche Wörter man benutzt, weil man sich sonst schnell politisch positioniert. Welche Rolle spielt Sprache heute im Israelisch-Palästinensischen Konflikt?

Eisin: Wir sind an dem Punkt angekommen, an dem es keine neutralen Worte mehr gibt. Statt Diskurs und Dialog zu ermöglichen, sind Worte zu Spaltern verkommen. Wenn Sie Israel-Palästina sagen oder Israel und die Palästinenser ist das ein Unterschied. Wenn Sie Palästina, Westjordanland, Ost-Jerusalem und Besetzung sagen und ich von Judäa und Samaria und Terroristen rede, müssen wir beide uns nicht mehr unterhalten, weil wir unsere Meinungen kennen. Man wählt entweder aus dieser Wortliste oder aus jener. Wenn man sich falsch entscheidet, kann man womöglich nicht mit der anderen Seite reden.

Stimmt. Spricht man von der Befreiung, Wiedervereinigung oder Besetzung Jerusalems? Ist es eine Mauer, ein Grenzzaun oder eine Sicherheitsbarriere? Wie können wir das überwinden?

Eisin: Zuallererst – wie bei Alkoholismus – müssen wir zugeben, dass wir ein Problem haben. Die meisten Leute tun das nicht. Für sie gibt es "richtige" und "falsche" Worte. Ich konzentriere mich darauf, dass mein Gegenüber versteht, wovon ich spreche und gebe ihm die Möglichkeit, alle Worte zu benutzen, um überhaupt einen Diskurs zu ermöglichen. Du nennst es Palästina? Ok, ich nenne es palästinensisch. Die Begriffe selbst sollten nicht bestimmen, worüber wir reden. Wir können nur erforschen, was wir selbst meinen, wenn wir uns trauen, die Worte auszusprechen. Ohne das zu erforschen, schaffen wir es nicht, diese erste Wortbarriere zu überwinden.

Als er in Gaza einmarschierte sagte Verteidigungsminister Mosche Dajan, er könne sich nicht vorstellen, wie die Juden mit all den Arabern in den eroberten Gebieten zusammenleben sollten. Hat Israel hat diese Frage heute geklärt?

Eisin: Eine Frage seit dem Sechs-Tage-Krieg ist: Wer sind wir als Staat? Wer sind unsere Bürger? Diese ungeklärte Diskussion führen wir immer noch. Es gibt zwei Meinungen. Die erste ist: Das gesamte historische Land der Juden ist jüdisches Staatsgebiet und wir werden schon herausfinden, wie wir das alles bekommen. Die zweite Meinung: Das historische Land Israels ist eine wundervolle Idee und Teil unseres Ethos. Aber um hier zu leben, müssen wir Kompromisse machen. Aber in diesem Kompromiss steht meine Existenz nicht zur Diskussion. Ich werde keine Kompromisse machen, wenn es darum geht, dass jemand hier an meiner Stelle sein will. Das ist Teil der Herausforderung. Europa ist post-Krieg, post-kolonial, post-national, post-religiös und post-Shoah. Und die meisten Stimmen in Israel sind das nicht.

Blick auf Jerusalem und den Felsendom.

Ist der Landgewinn durch die eroberten Gebiete der größte Triumph Israels seit der Staatsgründung?  

Eisin: Er hat uns zum ersten Mal Raum zum Feilschen gegeben – Land für Frieden. Mit Ägypten hat das geklappt. Trotzdem ist das nicht das wichtigste. Viele Leute vergessen, dass die Israelis im Mai 1976 dachten, dass sie alle eliminiert würden. Es geht um den Sieg über drei arabische Armeen, die sich offen zusammengeschlossen haben, um uns zu zerstören. Das Vermächtnis ist, dass wir gewonnen haben – und seitdem wissen, dass wir trotz aller Umstände gewinnen können. Dazu kommen die Heiligen Stätten in Jerusalem und dem Westjordanland. Jerusalem ist das Herz. Das Konzept. Die schnelle Entscheidung der Regierung, nur zwei Wochen nach der Eroberung Jerusalem als neue Hauptstadt des Staates zu definieren, ist etwas, was damals und heute jeder unterstützt. Sogar die Unterstützer einer Zweistaatenlösung sagen: Ein Staat Israel und ein Staat Palästina – und Jerusalem israelisch. Für viele Menschen außerhalb ist das unverständlich aber für uns ist es klar.

Also ist Jerusalem am wichtigsten?

Eisin: Definitiv. Wir müssen uns fragen: Muss ich selbst über die Heiligen Stätten regieren und gleichzeitig anderen Zugang gewähren? Die Jordanier haben das nicht getan. Sie haben sogar heilige Stätten entweiht und Synagogen gesprengt. Wir als Regierung haben innerhalb der dortigen Parameter Zugang und Religionsfreiheit ermöglicht.  Ich sage nicht, dass alles wunderbar ist, aber wir besitzen seit 50 Jahren Souveränität auf dem Tempelberg und haben den Status dort seitdem nicht geändert.

Sie haben über Spielraum zum Feilschen gesprochen. Wie wahrscheinlich ist es, dass Israel irgendwann die Golanhöhen für einen Frieden mit Syrien zurückgibt?

Eisin: Wie ich bereits gesagt habe, geht es uns nicht hauptsächlich um Territorium. Die Golanhöhen, Gaza und Sinai sind etwas anderes als Jerusalem oder die Westbank. In den gesamten 90er Jahren und 2007 hat Israel mit Syrien verhandelt. Man kann verhandeln, wenn man eine Balance gefunden hat, und es nicht mehr darum geht, die andere Seite zu vernichten. Dann kann man auch Land zurückgeben.

Vielen Dank für dieses Interview, Miri Eisin. Feiern Sie den Jahrestag des Sechs-Tage-Kriegs?

Eisin: Wir sollten alle ein fröhliches 50-jähriges Jubiläum haben. Niemand scheint wirklich glücklich darüber, aber in Israel sollten wir glücklich sein. Diese eindimensionale internationale Perspektive macht den Sechs-Tage-Krieg zu einem negativen Ereignis. Und das sollte nicht so sein.