"Die israelische Zivilgesellschaft ist klinisch tot"

Israelische Soldaten erobern den Tempelberg/Haram al-Sharif.
Foto: GPO/Polaris/laif
Israelische Soldaten erobern während des Sechstagekriegs/Junikriegs den Tempelberg/Haram al-Sharif.
"Die israelische Zivilgesellschaft ist klinisch tot"
50 Jahre Sechstage- bzw. Junikrieg zwischen Israel und Ägypten, Syrien und Jordanien
Selbstmordattentate, Raketen und Militärschläge - der arabisch-israelische Konflikt im Nahen Osten begleitet die Menschen seit vielen Jahrzehnten. Heute vor 50 Jahren begann jener Krieg zwischen Israel auf der einen und Ägypten, Jordanien und Syrien auf der anderen Seite, der die Landkarte des Nahen Ostens entschieden verändern sollte. Nach vielen Jahren blutiger Feindschaft zwischen den Völkern des Heiligen Landes ist die Frage nach dem Frieden immer noch ungelöst.

"Montagmorgen um 11 Uhr begann der Krieg", erinnert sich der evangelisch-lutherische Bischof in Jordanien und im Heilige Land, Munib A. Younan, an jenen 5. Juni 1967, der für die Israelis als Sechstagekrieg und für die arabische Welt als Juni-Krieg in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Nach dem Israelischen Unabhängigkeitskrieg (1948) und der Sueskrise (1956) war die Konfrontation 1967 der dritte Arabisch-Israelische Krieg. Younan, ein palästinensischer Christ, lebte zu dieser Zeit mit seinen Eltern im Christlichen Viertel der damals seit 1948 von Jordanien besetzten Jerusalemer Altstadt. "Wir haben aus dem Radio erfahren, dass die Israelis Jerusalem erobert haben. Meine Mutter hat mich gerade noch rechtzeitig versteckt, da kamen schon die Soldaten in unser Haus", erzählt Younan. Die Israelis seien davon ausgegangen, dass jeder Palästinenser eines gewissen Alters bewaffnet sei und so eine Gefahr darstelle. Viele Palästinenser flohen damals, Younans Familie entschied sich zu bleiben. "Mein Vater dachte, dass die Besatzung vielleicht zwei Wochen dauern wird. Aber die Besatzung endete nie", so Younan. Der Bischof blickt traurig ins Publikum, das sich im Palais am Funkturm versammelt hat. Kein Platz ist unbesetzt bei einer der letzten Veranstaltungen auf dem Kirchentag in Berlin. Der Nahost-Konflikt beschäftigt die Menschen – gerade in diesem Jahr, das geprägt ist von historischen Jahrestagen der Auseinandersetzung: 100 Jahre Balfour-Erklärung (Erklärung der Briten, in Palästina eine "nationale Heimstätte" des jüdischen Volkes zu errichten), 70 Jahre UN-Teilungsplan (Palästina in einen Staat für Juden und einen für Araber aufzuteilen, wobei Jerusalem (einschließlich Bethlehems) unter internationale Kontrolle gestellt werden sollte) und 50 Jahre Besatzung.

Richard C. Schneider war neun jahre lang Studioleiter des ARD-Fernsehstudios in Tel Aviv und ist jetzt Editor-at-large.

Der Journalist und langjährige Leiter des ARD-Studios in Tel Aviv (Israel), Richard C. Schneider, selbst Sohn ungarischer Shoa-Überlebender, regt sich besonders über die europäische Arroganz und Moralisierung auf, die nicht dabei helfe, den Konflikt zu lösen. "Die Menschen, die am weitesten weg sind, glauben am besten zu wissen, wer der Gute und wer der Böse ist und wie die ideale Lösung auszusehen hat. Dabei hat die Mehrheit dieser sogenannten Experten noch nie einen Fuß in die Region gesetzt", sagt Schneider. Ein weiteres Problem sei der Rassismus, mit dem viele Europäer die Menschen im Nahen Osten belegen: auf der einen Seite sei Antisemitismus noch weit verbreitet, auf der anderen Seite gäbe es den Orientalismus, der Araber als Barbaren abstemple. Statt zu richten habe er jahrelang versucht, zu erklären, wie die Menschen ticken, weil es eben nicht möglich sei, die Konfliktparteien in "gute" und "schlechte" Menschen einzuteilen. Jeder habe aus seiner ganz persönlichen Sicht Recht. Dass die Besatzung schlecht sei, darüber seien sich beide Konfliktparteien einig. Doch es sei nicht so einfach, den Konflikt zu beenden, da auf beiden Seiten die Angst unheimlich stark verwurzelt sei. Die deutsche Konsequenz aus der Shoa sei "Nie wieder Krieg" gewesen, die jüdische hingen laute "Nie wieder Opfer". Die Bedeutung dieser Mentalität sowie der Religion in der Politik dürfe man nicht unterschätzen.

Wie sehr sich das israelische und das palästinensische Volk in ihrer Mentalität ähneln, macht die israelische Soziologin Eva Illouz deutlich. Sie lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalems und wurde 2009 von der Wochenzeitung "Die Zeit" zu einer der zwölf Intellektuellen gewählt wurde, die wahrscheinlich das Denken der Zukunft verändern werden.

Eva Illouz wurde als Tochter jüdischer Eltern in Marokko geboren, wanderte mit zehn Jahren nach Frankreich aus und wurde schließlich in Israel sesshaft.

Ihre These ist, dass es trotz der objektiven Unterschiede auch sehr große Übereinstimmungen zwischen den beiden Völkern gebe, die auf zwei negativen Traumata beruhen: Für die Juden sei es die Shoa (der nationalsozialistische Völkermord an 5,6 bis 6,3 Million europäischer Juden), für die Palästinenser die Nakba (die Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 arabischen Palästinensern im Zuge des UN-Teilungsplans von 1947 und der Unabhängigkeitserklärung Israels im 1948). "Im Zentrum der Identität beider Völker steht das Überleben, beide haben ein tiefes Verlangen nach einem Heimatland und für beide Gesellschaften ist das Exil ein fundamentaler Teil ihrer Identität", so Illouz. "Beide Gesellschaften misstrauen sich, werfen sich den schlimmsten Rassismus vor und gehen davon aus, dass der eine den anderen vernichten will. Deswegen ist die Angst auf beiden Seiten so stark, dass sie sogar oft gegen ihre eigenen Interessen gehandelt haben", erklärt Illouz weiter. Es habe durchaus im Laufe des vergangenen halben Jahrhunderts einige überzeugende Friedensinitiativen von beiden Seiten gegeben, die im Interesse aller gewesen wären, doch sie seien ausgeschlagen oder gar nicht weiter beachtet worden – die Ablehnung wurzelte in der Angst, dass die andere Seite nicht eher ruhen würde, bis das eigene Volk, die eigene Existenz, ausgelöscht sei. Der starke Einfluss der Shoa und der Nakba auf das Kollektivgedächtnis der beiden Gesellschaften diene auch politischen Zwecken – so habe zum Beispiel der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Angst vor einer zweiten Shoa geschürt und Menschenrechtler als "Verräter" diffamiert.

Die kollektive Identität sei peu à peu von einer nationalen Identität, die arabische Israelis miteinschloss, zu einer jüdischen geworden, die alle anderen ausschließt.  Die Gleichheit der Bürger ist laut Eva Illouz immer abstrakter geworden und der Grundsatz "gleicher Pass, gleiche Rechte" zählt nicht mehr so stark wie früher. Schuld daran, dass sich die Zivilgesellschaft so entwickelt habe, sei unter anderem die Fragmentierung der politischen Linken, die den Rechten damit das Spielfeld überlassen hätten. Außerdem habe das Militär in Israel einen immensen Einfluss (es gibt eine Wehrpflicht von 21 Monaten für Frauen und drei Jahren für Männer; arabische Israelis steht der Wehrdienst freiwillig offen). Dort würden die jungen Menschen zum Gehorsam trainiert. Daher schlussfolgert die Soziologin Illouz: "Die israelische Zivilgesellschaft ist klinisch tot, sie ist moralisch zusammengebrochen." Doch solange Israel ein starker, stabiler Partner in einer instabilen Region bliebe, würde niemand Druck wegen der Menschenrechtsverletzungen machen.

Auf die europäische Politik müsse man sich für eine Friedenslösung laut Richard C. Schneider nicht verlassen. Es zähle in Israel nur, was die USA zu sagen hätten. Der Stopp von Waffenlieferungen aus Europa, um Druck auszuüben, sei ebenfalls utopisch, da Israel mittlerweile selbst eine große Rüstungsindustrie besäße und darauf nicht mehr angewiesen sei. "Es gibt im Augenblick keine Bereitschaft für Frieden, beide Seiten haben sich darin eingerichtet", sagt Schneider, der sich immer wieder als Realist und Verfechter der Realpolitik gibt. Innerhalb der palästinensischen Regierung herrsche Zerrissenheit, es hätte schon längst Neuwahlen geben müssen, doch die wurden wegen der Angst vor einer Wahlniederlage immer wieder verschoben, die palästinensischen Bürger würden ihre eigene Regierung als Handlager der Israelis ansehen und die wiederum würden davon profitieren à la "Teile und herrsche".  

Illouz kann dieser Einschätzung zumindest in Teilen zustimmen. Das Problem sei nicht das Volk, das stünde mit Ausnahme einer kleinen, dreigeteilten Minderheit hinter einer Friedenslösung. Das Problem sei die Führung. Aufgrund der Asymmetrie des Konflikts werde häufig erwartet, dass die Israelis den Palästinensern als erstes die Hand reichen müssten – prinzipiell sieht Illouz das genauso, de facto sei es ihr und vermutlich den meisten Menschen, die der Konflikt direkt betrifft, aber egal, solange es am Ende nur tatsächlich endlich geschehe.

"Hoffnung für eine Lösung des Nahostkonflikts kommt nicht aus Washington oder Berlin, London oder Moskau, sondern aus Jerusalem, wo Christus auferstanden ist. Mein Gott ist der des Friedens, der Gerechtigkeit, der Versöhnung und der Gnade", sagt Bischof Younan selbstbewusst.

Bischof Munib A. Younan setzt sich für den interreligiösen Dialog ein.

1993 habe er erlebt, wie israelische Soldaten und palästinensische Jugendliche gemeinsam gesungen und Humus gegessen hätten. Die Oslo-Abkommen sahen einen Abzug der israelischen Armee aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen sowie eine palästinensische Selbstverwaltung in diesen Gebieten bei gleichzeitigem Gewaltverzicht der Palästinenser vor. Beide Seiten erkannten einander erstmals offiziell an. Die Israelis akzeptierten die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als offiziellen Vertreter der Palästinenser, die PLO verpflichtete sich, aus ihrer Charta alle Passagen, welche die Vernichtung Israels als Ziel enthielten, zu streichen. Damals sei die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben groß gewesen. "Doch sie starb 1995 mit der Ermordung von Ministerpräsident Jitzchak Rabin durch einem rechtsextremen, religiös-fanatischem Israeli. Danach haben die Rechtsgerichteten den Frieden im Nahen Osten gekidnappt", sagt Bischof Munib A. Younan.

Auch Richard C. Schneider hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Wandlung des Konflikts erlebt, die zu den Beobachtungen des Bischofs passt. Er meint: "Der Konflikt ist nicht mehr Israelis gegen Palästinenser, sondern rational denkende Menschen gegen Extremisten. Die Bedrohung auf beiden Seiten ist religiöser Fanatismus und Fundamentalismus. Die Linien des Konflikts müssen anders gezogen werden." Als Beispiel bringt er dafür seine persönlichen Erfahrungen: Er habe mit einem palästinensischen Intellektuellem mehr gemeinsam als mit einem israelischen Siedler, auch wenn es nach Verlauf der herkömmlichen Konfliktlinien anders sein müsste.

In den vergangenen Jahren wurde die Hoffnung auf eine friedliche Gesamtlösung im Nahen Osten trotz der Friedensabkommen zum Beispiel zwischen Israel und den arabischen Nachbarn Ägypten und Jordanien immer wieder enttäuscht. Nach einem halben Jahrhundert Besatzung scheint der Friedensprozess momentan still zu stehen. Der Traum davon, dass die Konfliktlinien irgendwann so verwehen, wie der Sand in der Negev-Wüste, scheint in den vergangenen Jahren in noch weitere Ferne gerückt zu sein.